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Mo
22
Apr
2024
Wichtiger Haftgrund bei Schwerverbrechen, keine klare
gesetzliche Grundlage
Die 2011 in Kraft getretene Eidgenössische StPO wies bis vor Kurzem eine gravierende Lücke bei den strafprozessualen Haftgründen auf. Vor 2011 hatten diverse kantonale Strafprozessgesetze noch den Haftgrund der sogenannten «qualifizierten» Wiederholungsgefahr vorgesehen (z.B. § 58 Abs. 1 Ziffer 4 StPO/ZH): Im Gegensatz zur einfachen Wiederholungsgefahr (Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO) konnte danach bei drohenden schweren Gewaltverbrechen vom sogenannten Vortatenerfordernis abgesehen werden. Das heisst, es musste mit der Anordnung von Untersuchungshaft nicht abgewartet werden, bis neben dem «bloss» untersuchten Schwerverbrechen bereits gerichtliche Verurteilungen zu weiteren ähnlichen Delikten vorlagen. Dieser wichtige Haftgrund geriet beim Erlass der Eidgenössischen StPO (2011) in Vergessenheit. Möglicherweise hatte der Gesetzgeber damals fälschlich angenommen, dass der spezifische neue Haftgrund der Ausführungsgefahr (Art. 221 Abs. 2 StPO) auch alle bisherigen Fälle der qualifizierten Wiederholungsgefahr abdeckte.
Notstandsrechtliche Lückenfüllung durch das Bundesgericht
und Legalitätsprinzip
In seiner anschliessenden Rechtsprechung ist das Bundesgericht zum Schluss gekommen, dass es qualifizierte Haftfälle gibt, bei denen die Anordnung von Untersuchungshaft möglich sein muss, ohne dass bereits Verurteilungen zu schweren Gewaltdelikten vorliegen. In BGE 137 IV 13 hat das Bundesgericht auf eine entsprechende gravierende Gesetzeslücke hingewiesen. Das Bundesgericht hat erwogen, dass es «vernünftigerweise nicht in der Absicht der Legislative gelegen» haben könne, bei einem mutmasslich bereits verübten und erneut akut drohenden schweren Gewalt- oder Sexualverbrechen auf die Möglichkeit einer strafprozessualen Inhaftierung zu verzichten, nur weil der Beschuldigte nicht bereits früher schon wegen ähnlichen Schwerverbrechen gerichtlich verurteilt worden war (bestätigt in BGE 143 IV 9 E. 2.3.1).
In der Fachliteratur ist seit 2012 darauf hingewiesen worden, dass eine solche Abweichung vom Gesetzeswortlaut allerdings vor dem Hintergrund des Legalitätsprinzips (Art. 36 Abs. 1 BV) rechtsstaatlich hochproblematisch war und ein entsprechender neuer Haftgrund (wieder) ausdrücklich im Gesetz zu verankern sei (vgl. Marc Forster, ZStrR 2012, S. 341 f.). Im Dezember 2012 reichten daraufhin Isabelle Moret und Daniel Jositsch entsprechende parlamentarische Vorstösse ein. Im Juni 2023 hat das Parlament schliesslich eine Teilrevision der StPO verabschiedet, darunter einiger haftrechtlicher Bestimmungen. Unter anderem verankerte es neu den Haftgrund der «qualifizierten» Wiederholungsgefahr, Art. 221 Abs. 1bis StPO, im Gesetz. In der Bundesversammlung ist diesem Haftgrund kein Widerstand erwachsen. Die Bestimmung trat am 1. Januar 2024 in Kraft (vgl. zur Reformgeschichte Marc Forster, Basler Kommentar StPO, 4. Aufl. 2023, Art. 221 N. 15b).
Neuer Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr
Die gesetzliche Regelung in Art. 221 Abs. 1bis StPO ist wie folgt ausgestaltet: Lit. a setzt eine untersuchte qualifizierte Anlasstat voraus, nämlich den dringenden Verdacht, dass die beschuldigte Person durch ein Verbrechen oder ein schweres Vergehen die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer Person schwer beeinträchtigt hat. Das Vorliegen einer einschlägigen Vortat ist demgegenüber nicht erforderlich. Lit. b verlangt aber zusätzlich, als Prognoseelement, die ernsthafte und unmittelbare Gefahr, dass die beschuldigte Person ein gleichartiges, schweres Verbrechen verüben werde.
Leitentscheid des Bundesgerichtes zum neuen Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr
In seinem zur amtlichen Publikation bestimmten ersten Grundsatzurteil zu Art. 221 Abs. 1bis StPO, 7B_155/2024 vom 5. März 2024, hat das Bundesgericht einige Fragen zur Auslegung der neuen Bestimmung geklärt und insbesondere geprüft, ob sich gegenüber der bisherigen Rechtsprechung zum Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr eine Praxisänderung aufdrängen könnte:
Grad der Rückfallgefahr, «umgekehrte Proportionalität» gegenüber der Schwere der drohenden Verbrechen
Im vom Bundesgericht beurteilten Fall eines untersuchten vorsätzlichen Tötungsdeliktes hatte die Verteidigung die These vertreten, der neue Art. 221 Abs. 1bis lit. b StPO verlange eine «sehr ungünstige» Rückfallprognose. Der Umstand, dass das psychiatrische Gutachten beim Beschuldigten eine «bloss» mittelgradige Rückfallgefahr für neue schwere Gewaltverbrechen festgestellt habe, genüge nach neuem Recht nicht mehr. Dies ergebe sich aus dem gesetzlichen Erfordernis einer «ernsthaften und unmittelbaren Gefahr» neuer Schwerverbrechen. Diesbezüglich könne an der bisherigen einschlägigen Bundesgerichtspraxis nicht mehr festgehalten werden. Das Bundesgericht ist dieser Argumentation nicht gefolgt:
Es erwog Folgendes: Art. 221 Abs. 1bis lit. b StPO verlange als Prognoseelement die ernsthafte und unmittelbare Gefahr, dass die beschuldigte Person ein gleichartiges «schweres Verbrechen» verüben werde. Zwar sei in der bisherigen einschlägigen Bundesgerichtspraxis nicht wörtlich vom Erfordernis einer «ernsthaften und unmittelbaren» Gefahr (von neuen Schwerverbrechen) die Rede gewesen. Es habe in diesem Sinne aber schon altrechtlich eine restriktive Haftpraxis bestanden, indem das Bundesgericht ausdrücklich betont habe, qualifizierte Wiederholungsgefahr komme nur in Frage, wenn das Risiko von neuen Schwerverbrechen als «untragbar hoch» erscheint (BGE 143 IV 9 E. 2.3.1; 137 IV 13 E. 3 f.). Bei der konkreten Prognosestellung werde auch weiterhin dem Umstand Rechnung zu tragen sein, dass bei qualifizierter Wiederholungsgefahr Schwerverbrechen drohen. Bei einfacher und qualifizierter Wiederholungsgefahr sei von einer sogenannten «umgekehrten Proportionalität» zwischen Deliktsschwere und Eintretenswahrscheinlichkeit auszugehen (BGE 146 IV 136 E. 2.2; 143 IV 9 E. 2.8-2.10). Der kantonalen Vorinstanz sei darin zuzustimmen, dass bei ernsthaft drohenden schweren Gewaltverbrechen auch nach neuem Recht keine sehr hohe Eintretenswahrscheinlichkeit verlangt werden könne. Die richterliche Prognosebeurteilung habe sich dabei auf die konkreten Umstände des Einzelfalles zu stützen (BGE 7B_155/2024 vom 5. März 2024, E. 3.6.2).
Im beurteilten Fall stufte das Bundesgericht es als bundesrechtskonform ein, dass die Vorinstanz eine ausreichend erhebliche (ernsthafte und unmittelbare) Wahrscheinlichkeit für neue schwere Gewaltverbrechen bejahte. Das Obergericht habe dabei namentlich der im psychiatrischen Gutachten festgestellten «mittelgradigen» Rückfallgefahr Rechnung tragen dürfen, der gutachterlich diagnostizierten psychischen Auffälligkeit und Unberechenbarkeit des Beschuldigten, der besonderen (gewaltexzessiven) Brutalität des ihm zur Last gelegten Tötungsdeliktes, seiner auffälligen Vorliebe für Waffen, insbesondere Messer, Schlagstöcke und Elektroschockgeräte, der von ihm in Internet-Chats geäusserten weiteren Gewaltbereitschaft, seiner Affinität für sadistische Darstellungen von brutaler Gewalt oder auch den vom Obergericht dargelegten Anzeichen für eine massive Suchtmittelproblematik des Beschuldigten (BGE 7B_155/2024 vom 5. März 2024, E. 3.6.3).
Unmittelbare Sicherheitsgefährdung bei qualifizierter Wiederholungsgefahr
Weiter hatte die Verteidigung geltend gemacht, es fehle im beurteilten Haftfall an einer unmittelbaren Sicherheitsgefährdung durch die drohenden neuen Delikte. Bei der «Unmittelbarkeit» handle es sich um ein «neues gesetzliches Kriterium», das eine Praxisänderung erforderlich mache. Auch dieser Argumentation folgte das Bundesgericht nicht. Die in Art. 221 Abs. 1bis lit. a StPO genannten Anlasstaten, nämlich Verbrechen und schweren Vergehen, mit denen die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer Person schwer beeinträchtigt wird, würden vom Gesetzgeber bereits de lege als unmittelbar sicherheitsgefährdend eingestuft. Im Gegensatz zur einfachen Wiederholungsgefahr (Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO, neue Fassung ebenfalls in Kraft seit 1. Januar 2024) verlange der Wortlaut von Art. 221 Abs. 1bis lit. a StPO denn auch keine (zusätzliche) «unmittelbare Sicherheitsgefährdung» (BGE 7B_155/2024 vom 5. März 2024, E. 3.7).
22. April 2024 / © Prof. Dr. Marc Forster, RA
Do
02
Nov
2023
Die WHO treibt auf zwei Ebenen einen transnationalen Rechtsrahmen voran, zur Pandemiebekämpfung und zur Vorsorge gegenüber – breit und unklar definierten – "globalen Gesundheitsnotständen". Zum einen soll ein neuer WHO-Vertrag zur Pandemievorsorge abgeschlossen werden. Die Entscheidung, diesen neuen Vertrag auszuhandeln, wurde im Dezember 2021 auf der zweiten Sondersitzung der Weltgesundheitsversammlung (WHA) getroffen. Zweitens wird der bereits seit 2002 bestehende multilaterale Vertrag zur Regelung von "globalen Gesundheitsnotständen" überarbeitet. Der Beschluss, diesen Prozess einzuleiten, wurde von der WHA im Mai 2022 gefällt. Nach dem Fahrplan der WHO sollen diese neuen Rechtsgrundlagen von den Vertragsstaaten und WHO-Gremien im Mai 2024 bewilligt werden.
Diese folgenreiche Entwicklung des transnationalen Rechtsrahmens zur Bekämpfung von Pandemien und sogenannten "globalen Gesundheitsnotständen" stösst bei Expertinnen und Experten der Grundrechte und des Medizinrechts auf grosse Bedenken. Sie rufen dringend zu einer offenen Debatte auf. Zu hoffen ist, dass dieser offene faktenbasierte Diskurs nicht vom WHO-spezifischen organisierten "Pre-Bunking" unterdrückt und gestört werden wird (Zensur und Diskreditierung von unliebsamen, nach Meinung von WHO-Funktionären angeblich irreführenden Informationen in Medien und elektronischen Foren).
In der hier beigefügten Analyse der Global Health Responsibility Agency werden zusammengefasst folgende Tendenzen der WHO-Bestrebungen kritisiert ("Die Pandemiegesetzgebung der WHO: Besorgniserregende Verhandlungen von internationaler Tragweite, Oktober 2023, Autorin: Dr. Amrei Müller, © 2023 Global Health Responsibility Agency, S. 47 f.):
Erstens werden die besonderen Befugnisse der WHO, einen globalen Gesundheitsnotstand (PHEIC) auszurufen und "den Staaten medizinische und nicht-medizinische Gegenmassnahmen zu empfehlen, erheblich zunehmen".
Zweitens "werden in Zukunft über das geplante globale Bioüberwachungssystem große Mengen an biologischem Material- und Genomsequenzdaten gesammelt und ausgetauscht. Dies erhöht nicht nur die Wahrscheinlichkeit der Entdeckung neuer oder wiederauftretender Erreger mit (angeblichem) PHEIC-/Pandemiepotenzial, sondern schafft auch Anreize für hochgefährliche Gain of Function-Forschung".
Drittens "soll die präventive Forschung und Entwicklung zu Krankheitserregern mit PHEIC-/Pandemiepotenzial erheblich ausgeweitet werden, insbesondere die Forschung und Entwicklung von mRNA-basierten Impfstoffen".
Viertens "soll die rasche Notfallzulassung von PHEIC-/Pandemieprodukten im internationalen und regionalen Recht sowie in den nationalen Rechtsordnungen aller WHO-Mitgliedstaaten ermöglicht werden".
Fünftens "wird die WHO teilweise in eine Agentur umgewandelt, die die weltweite Produktion, Beschaffung und Verteilung von PHEIC-/Pandemieprodukten" leitet und koordiniert, "wobei die WHO-Mitgliedstaaten verpflichtet sein werden, ihre eigenen Produktions- und Verteilungsnetze für solche Produkte auf- und auszubauen".
Sechstens "wird ein biomedizinisches System für die Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs unter Verwendung digitaler Gesundheitspässe über weltweit interoperable Digitalplattformen aller Wahrscheinlichkeit nach Realität werden".
Siebtens "sollen die Staaten in ihre Gesundheitsinfrastruktur investieren, damit sie in der Lage sind, die von der WHO empfohlenen medizinischen und nicht-medizinischen PHEIC-Gegenmassnahmen, einschließlich Massenimpfkampagnen, durchzuführen". Dabei dürften "große Teile staatlicher Gesundheitsbudgets für die Prävention, Vorbereitung und Reaktion auf PHEIC/Pandemien ausgegeben werden" müssen, "besonders in Staaten mit geringem Einkommensniveau".
Achtens "wird das weltweite ‚Pre-Bunking‘ und ‚De-Bunking‘ – einschließlich direkter Zensur – von durch die WHO definierten Fehlinformationen oder Desinformationen über Erreger und Krankheiten, die einen PHEIC bzw. eine Pandemie verursachen, voraussichtlich erheblich zunehmen".
Die Verabschiedung und Umsetzung dieser von der WHO-Doktrin inspirierten Reformvorschläge, "wird daher wahrscheinlich
weltweit weitreichende negative Folgen für die Gesundheit und den Menschenrechtsschutz haben. Sie werden die Rechte und
Pflichten der Staaten aushöhlen, nationale Gesetze und Politiken im Gesundheitsbereich festzulegen und umzusetzen, die den
vorrangigen Gesundheitsbedürfnissen der Bevölkerung entsprechen und die Menschenrechte auf Gesundheit, Privatsphäre, Meinungsfreiheit, körperliche Unversehrtheit, Leben und Freiheit von Folter oder unmenschlicher oder
erniedrigender Behandlung respektieren und gewährleisten."
Ausserdem werden sie "die undurchsichtige Durchmischung des öffentlichen und privaten Sektors in internationalen Gesundheitsinstitutionen wie der WHO vorantreiben, indem sie philanthropischen Stiftungen, multinationalen Unternehmen und öffentlich-privaten Partnerschaften immer mehr Einfluss auf die globale Pandemiepolitik (und damit Macht) verleihen. Dies bringt nicht nur zusätzliche Interessenkonflikte für die WHO mit sich und erhöht die Möglichkeiten für Profitmacherei in PHEIC-/Pandemiesituationen durch diese privaten Akteure. Es führt auch zu einer weiteren Streuung der internationalen Verantwortlichkeiten und verhindert damit die Einrichtung wirksamer Rechenschaftsmechanismen für Schäden, die durch globale Pandemie-/PHEIC-Präventions- und Reaktionsprogramme verursacht werden. Die Reformen schaffen zudem Anreize für hochgefährliche Gain of Function-Forschung. Nicht zuletzt wird die Umsetzung dieser Reformen immense (öffentliche) Ressourcen benötigen".
Vor diesem Hintergrund ruft die Global Health Responsibility Agency dringend auf "zu einer offenen und umfassenden Debatte über die geplanten Änderungen des Vertrags zur Regelung von "globalen Gesundheitsnotständen" und zum geplanten neuen WHO-Pandemievertrag und ihre weitreichenden Auswirkungen in allen WHO-Mitgliedstaaten". Dies müsse "ein erster Schritt sein, um die besorgniserregenden Verhandlungen von internationaler Tragweite und ihre potenziell weitreichenden negativen Folgen für die menschliche Gesundheit und den Menschenrechtsschutz weltweit zu stoppen".
(Dokument hochgeladen von Prof. Dr.iur. Marc Forster/2.November 2023)
Do
07
Sep
2023
Strafbewehrte Impfobligatorien
Auf dem Höhepunkt der Corona-Epidemie haben vereinzelte Länder allgemeine oder partielle Impfobligatorien eingeführt, mit denen die Bevölkerung unter Strafdrohung zu Prophylaxe-Anstrengungen gegen die Lungenkrankheit Covid-19 bewegt werden sollte. In Europa hat Deutschland eine einrichtungsbezogene
Impfpflicht (Bundeswehr, Spitäler und Pflegeeinrichtungen) eingeführt, Österreich sogar ein generelles strafbewehrtes Impfobligatorium, Italien (das 2019/20 von
der Coronawelle besonders stark betroffen war) eine Impfpflicht für ältere Menschen ab 50 Jahren. Griechenland sah für über 60-jährige Ungeimpfte konfiskatorische
Dauerbussen von monatlich EUR 100.-- vor. In der Schweiz wurden Forderungen nach einem Corona-Impfobligatorium vor allem in den Medien erhoben. Die deutsche Bundesregierung hat sich noch im April 2022 (bereits unter der Dominanz der Omikron-Variante) vergeblich darum bemüht, ein allgemeines Impfobligatorium zu legiferieren; Österreich
hat seine allgemeine strafbewehrte Impfpflicht zunächst beschlossen und dann 2022 wieder sistiert.
Grundrechtliche Problematik
Bei aller berechtigter gesundheitspolitischer Besorgnis (teilweise begleitet von grosser medialer Aufregung) muss aus rechtsstaatlicher Warte bedacht werden, dass ein strafbewehrtes Corona-Impfobligatorium massive grundrechtliche Konsequenzen nach sich zöge. Die Menschen könnten nicht mehr frei wählen, welche Pharmaprodukte ihnen zu welchem Zweck in den Körper gespritzt werden; für die freie Ausübung ihrer diesbezüglichen elementaren Grundrechte würde ihnen sogar eine Bestrafung drohen. In Österreich z.B. waren massive kumulierbare Geldstrafen von mehreren tausend Euro vorgesehen. Ein solcher Schwersteingriff in die elementaren Grundrechte bedarf einer äusserst sorgfältigen juristischen Legitimationsprüfung und Interessenabwägung. Das muss besonders bei neuartigen Pharmaprodukten gelten, im vorliegenden Fall mRNA-Präparaten, die erst provisorisch und ohne klinische Doppelblindstudien zugelassen waren, bei denen noch wenig Erfahrungen betreffend immunologische Langzeitfolgen und unerwünschte Nebenwirkungen hatten gesammelt werden können und für deren massenweisen Einsatz die Produzenten auch noch jegliche Haftung ablehnten.
Interdisziplinäre Untersuchung an der Universität St.Gallen
Die Coronakrise hat die ganze Welt ab 2019 sehr massiv und unvorbereitet getroffen. Auch in der Schweiz hat sie die Justiz vor grosse Herausforderungen gestellt, die sie in unserem Land rasch und inhaltlich zumeist massvoll und überzeugend löste (vgl. dazu Marc Forster, Strafrecht, Justiz und Menschenrechte in Zeiten von Covid-19, SJZ 2020, S. 451 ff.). Demgegenüber hat sich die Rechtswissenschaft (im gesamten deutschsprachigen Raum) zur Problematik der Corona-Massnahmen nicht gerade mit "Lorbeeren" überhäuft. Als eine der (ziemlich überschaubaren) positiven Ausnahmen sei hier die pionierhafte Untersuchung von Silvia Behrendt/Amrei Müller genannt (auf: Jusletter vom 20. Dezember 2021 und 24. Januar 2022). Soeben ist auch ein Forschungsbeitrag der Universität St. Gallen erschienen, welcher aus rechtsmedizinisch-juristischer Perspektive die Grundrechtskonformität einer strafbewehrten Corona-Impfpflicht untersucht (Fabienne Gmünder, Masterarbeit Uni SG 2023). Interdisziplinäre Forschungsleiter waren der Rechtsmediziner Prof. Dr.med. Roland Hausmann und der Strafrechtler Prof. Dr.iur. Marc Forster.
Resultate
Die St.Galler Untersuchung unterscheidet zwischen den tatsächlichen Gegebenheiten unter der Dominanz der Delta-Variante des
SARS-CoV-2-Virus (mit ihren für den Krankheitsverlauf von Covid-19 ebenfalls besonders gefährlichen Vorläuferinnen bis ca. Herbst 2021) und der seither dominanten
Omikron-Variante. Aus juristisch-rechtsmedizinischer Sicht ist diese Differenzierung wichtig, da sich unter den Gesichtspunkten der Geeignetheit, Notwendigkeit und Zumutbarkeit
eines Impfobligatoriums diverse Parameter und Erkenntnisse verändert haben. Der Forschungsbeitrag kommt zum Schluss, dass ein
generelles Impfobligatorium selbst unter der Delta-Variante grundrechtswidrig (gewesen) wäre (MA S. 45 f., 55). Angesichts möglicher (wenn auch seltener)
schwerer Nebenwirkungen und "Impfschäden" und der deutlich selteneren schweren Krankheitsverläufe bei jungen Personen, wird eine strafbewehrte Impfpflicht für
junge Menschen als unverhältnismässig eingestuft (S. 46, 55). Unter dem Einfluss einer relativ gefährlichen Virusvariante (Delta und ähnliche)
wird hingegen ein partielles gesetzliches Impfobligatorium für professionelles Pflegepersonal, das in engem Körperkontakt mit betagten oder
gesundheitlich besonders vulnerablen Personen steht, für zumutbar und
vertretbar angesehen. Ebenso wird für gefährliche Varianten eine Impfpflicht für betagte Personen ins Auge gefasst. Allerdings räumt die Untersuchung ein, dass es
verfassungsrechtlich und kriminalpolitisch schwierig wäre, für den schweren grundrechtlichen Eingriff einer strafbewehrten Impfpflicht ein nichtdiskriminierendes
und sachlich überzeugendes Alters- und Vulnerabilitätskriterium festzulegen.
Eignung der "Impfung"
Zentral ist die juristische Prüfung der Verhältnismässigkeit eines (allgemeinen oder partiellen) Impfobligatoriums. Bei der Eignung der Massnahme ist zunächst zu untersuchen, welches gesetzgeberische Ziel mit einer mRNA-Impfung gegen Covid-19 realistischerweise erreichbar ist. Eine sterilisierende Impfung im engeren Sinne (wie etwa gegen Masern) ist im Falle des Coronavirus nicht möglich. Vielmehr schützt die Impfung (nur aber immerhin) vor schweren Verläufen und sie hemmt auch in gewissem Umfang die Übertragbarkeit des Virus. Im Fokus steht daher als realistisches Ziel die Vermeidung einer grossen Welle von schweren Erkrankungen mit der Folge einer drohenden Überlastung der Spitäler (vgl. MA S. 39). Gestützt auf die bisherigen medizinischen Forschungsresultate zur Wirksamkeit der mRNA-"Impfung" zeigt sich dabei folgendes Bild:
Der Impfstoff von Pfizer-BioNTech gegen SARS-CoV-2-Infektionen (und auch
spezifisch gegen Varianten) lässt bei vollständig geimpften Erwachsenen innerhalb von sechs Monaten nach. Tartof et al. stellten fest, dass die
Wirksamkeit gegen Nicht-Delta-Varianten einen Monat nach vollständiger Impfung bei 97% lag und nach fünf Monaten auf bis zu 67% abfiel. Für die
Delta-Variante belief sich die Wirksamkeit einen Monat nach vollständiger Impfung auf 93%, sank jedoch nach fünf Monaten auf 53%. In zahlreichen Studien wurde
nachgewiesen, dass Antikörper, die durch Impfungen hervorgerufen werden, insb. die jüngsten Virusvarianten weniger effektiv neutralisieren können. Eine US-amerikanische Studie von
Weinberger zeigt, dass die Wirksamkeit der mRNA-Impfstoffe gegen eine Infektion mit SARS-CoV-2 nach 8 Monaten von über 90% auf 70-80% abfällt; jedoch bleibt die
Wirksamkeit gegen Hospitalisierung nahezu konstant bei rund 90%. Personen, die mehr als sechs Monate zuvor zwei Dosen mRNA-Impfstoff erhalten haben, sind besser
gegen Delta als gegen Omikron geschützt, wobei die dritte Dosis die Schutzwirkung gegen Hospitalisierung auf 94% (Delta) bzw. 90% (Omikron) erhöht (vgl. MA S.
13).
Was die Nebenwirkungen des "Spikens" betrifft, hatte der Generaldirektor der
WHO noch in einer offiziellen Pressemitteilung vom 1. Dezember 2021 sämtliche Sicherheitsbedenken, die sich aus einer grossen Anzahl von Verdachtsmeldungen an die
Frühwarn-Datenbank VigiAccess über Nebenwirkungen nach der COVID-19-Impfung ergeben haben, mit Hinweis auf die hohen Impfraten rundweg zurückgewiesen. Demgegenüber hat SWISS-MEDIC in der
Zeitspanne vom 1. Januar 2021 bis zum 22. Februar 2023 Verdachtsmeldungen von unerwünschten Wirkungen der COVID-19-Impfungen in der Schweiz ausgewertet. Insgesamt wurden 16'855
Verdachtsfälle gemeldet, wobei 10'365 (61.5%) als nicht schwerwiegend und 6'490 Verdachtsfälle (38.5%) als
schwerwiegend eingestuft wurden. Verabreicht wurden in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein 16'981'243 Impfdosen. Daraus ergibt sich eine Melderate von 0.99 pro 1'000
verabreichten Dosen (MA S. 14 f.). Hier ist allerdings noch zusätzlich einer nicht unerheblichen Dunkelziffer Rechnung zu tragen. Jedenfalls erscheint es nicht ohne weiteres
garantiert, dass impfende Ärzte und Medizinalpersonal auch alle schweren Verdachtsfälle melden, zumal die damit verbundenen Haftungsfragen und
strafrechtlichen Probleme (etwa Fragen zur ausreichenden Aufklärung und zur rechtswirksamen Einwilligung) juristisch noch ungeklärt erscheinen.
Bedenklich wirkt sich aus juristischer Sicht aus, wenn vorher gesunde Menschen ohne schweres Covid-19-Erkrankungsrisiko erst nach einer behördlich empfohlenen oder gar gesetzlich obligatorischen Impfung schwerwiegend anderweitig erkranken. In den meisten skandinavischen Ländern wurde die Impfung von jungen Männern aufgrund zahlreicher Myokarditis-Verdachtsfälle ab Frühling 2021 sukzessive gestoppt. Weitere schwere (wenn auch seltene) Nebenwirkungen aus der medizinischen Praxis (wie z.B. Schlaganfälle, Gürtelrosen, allergische Schocks, Karzinom-Rezidive usw.) bilden noch Gegenstand von internationalen Untersuchungen.
Erforderlichkeit
Weiter untersucht der Forschungsbeitrag (unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit des Grundrechtseingriffes), welche medizinischen Notlage mit einem Impfobligatorium gebannt werden soll und ob dafür auch mildere Massnahmen ausreichen könnten. Die Virusvarianten bis Delta (dominant bis ca. Sommer 2021) brachten das Gesundheitssystem (2019-2020) nahe an seine Belastungsgrenzen. Seit Omikron (ca. Herbst 2021) haben sich die massgeblichen Fakten merklich verändert. Zum einen sind deutlich weniger schwere Verläufe zu verzeichnen, sodass wegen Covid-19 kein Gesundheitsnotstand in den Notfallstationen der Spitäler auftrat. Zum anderen sind auch die Behandlungsmöglichkeiten für schwere Erkrankungen unterdessen deutlich verbessert worden, zumal Erfahrungen gesammelt und medizinische Fortschritte erzielt werden konnten. Als mildere Massnahmen (im Vergleich zum Impfobligatorium) bieten sich – zumindest seit der Dominanz von Omikron – etwa ein Testobligatorium und ein Quarantäne-Obligatorium für positiv Getestete an, wie sie unter der Geltung der Covid-19-Gesetzgebung bereits vorübergehend zur Anwendung kamen (MA S. 42 f.).
Die St.Galler Untersuchung berücksichtigt auch Studien zur Impfbereitschaft der Bevölkerung. Das Vertrauen der Schweizerinnen und Schweizer in ihre Institutionen ist im internationalen Vergleich zwar generell hoch. Eine hohe Bereitschaft zur freiwilligen Corona-Impfung hängt aber, neben vertrauenswürdigen und wirksamen Impfstoffen, auch noch wesentlich davon ab, dass ausreichend und objektiv über die Vor- und Nachteile der Impfung informiert wird. Nicht nur in der Schweiz haben die verantwortlichen Behörden nur sehr spärlich und vage über potenzielle Nebenwirkungen informiert, auch als bereits bekannt war, dass Corona-Impfungen zu schweren Nebenwirkungen führen können. Laut einer dänischen Studie kann eine transparente Kommunikation, die auch negative Aspekte nennt, zwar die Akzeptanz der Impfung etwas schmälern, jedoch stärkt sie gleichzeitig das Vertrauen in die Gesundheitsbehörden und wirkt der Verbreitung von sogenannten "Verschwörungstheorien" entgegen. Fraglich erscheint, ob es überhaupt zielführend sein kann, mittels massivem indirektem Zwang (bis hin zum Ausschluss vom kulturellen und sozialen Leben) bzw. unter Androhung von Bussen oder anderen Nachteilen die Willensfreiheit der Bevölkerung bei der Frage von Impfungen beeinflussen zu wollen (MA S. 16 f., mit Hinweisen auf Hehli und Vokinger/Rohner).
Zumutbarkeit
Als entscheidend für die Frage der grundrechtlichen Zulässigkeit eines Impfobligatoriums erweist sich das Kriterium der Zumutbarkeit (sog. "Zweck-/Mittel-Relation" bzw. Verhältnismässigkeit im engeren Sinne). Zunächst ist zu prüfen, in welches Grundrecht eingegriffen wird: Die medizinische Selbstbestimmung und das Recht, selber entscheiden zu dürfen, welche Substanz man wann in den Körper gespritzt erhält, gehört zum Kernbereich der Menschenrechte. Ein Impfobligatorium greift aber nicht nur in die körperliche sondern auch in die geistige Unversehrtheit des Menschen ein; sie umfasst das Recht, Situationen eigenständig zu bewerten und in Übereinstimmung mit dieser Bewertung zu handeln (MA S. 20, u.a. mit Hinweis auf Zeder). Die Durchführung einer Impfung ist nur dann gestattet, wenn zuvor eine ausführliche Aufklärung des Impflings erfolgt ist und dieser daraufhin seine Zustimmung zur Durchführung der Impfung erteilt hat (MA S. 21). Dabei ist auch auf mögliche Nebenwirkungen einer Impfung hinzuweisen. Nach herrschender Lehre und Praxis läge ohne eine solche Einwilligung in einen invasiv-medizinischen Eingriff (sog. "informed consent") sogar – per se – eine strafbare Körperverletzung vor.
Besonders heikel wirkt sich vor diesem grundrechtlichen Hintergrund sogenannter indirekter staatlicher Zwang aus. Dazu gehörten der zeitweise komplette Ausschluss von Nichtgeimpften – selbst mit negativen Corona-Tests – vom sozialen und kulturellen Leben (etwa Bibliotheken, Theater, Fitnesszentren, Schwimmbäder, Gottesdienste, Kinos, Restaurants, Bars oder Diskotheken). In Deutschland wurde 2G sogar an einigen Hochschulen eingeführt. Dass die Studierenden an Freiburger (Ue./Schweiz) Hochschulen die Testkosten (mit monatelangen Tests als Zulassungsvoraussetzung) selber bezahlen mussten, hat das Bundesgericht als verfassungswidrig eingestuft. Die St.Galler Untersuchung äussert auch Kritik an den vom Bundesrat im Dezember 2021 eingeführten 2G-Regeln. Im Klartext bedeutete 2G, dass infizierte und kranke (aber "geimpfte") Personen ungehindert und ohne Tests Diskotheken, Bars und Gottesdienste besuchen konnten, während mit grosser Wahrscheinlichkeit gesunde (negativ auf das Coronavirus getestete) Ungeimpfte ausgeschlossen wurden. Diese kontraproduktive (wenn nicht gar gefährliche) Regelung wurde zwar im Namen einer angeblichen "Epidemiebekämpfung" erlassen; ihr erkennbarer Zweck erschöpfte sich jedoch in der zusätzlichen Verschärfung des gesellschaftlichen Drucks auf Ungeimpfte bzw. in deren sozialer Stigmatisierung.
Beim Kriterium der (partiellen) Zumutbarkeit einer strafbewehrten Impfpflicht ist zu unterscheiden, welche Bevölkerungsgruppen zu dem medizinisch-gesellschaftlichen Notstand, der durch mRNA-Impfungen realistischerweise vermieden werden soll, besonders stark beitragen. Primär sind dies betagte und gesundheitlich vulnerable Menschen. Gleichzeitig profitieren diese (statistisch gesehen) aber auch individuell mehr vom Impfschutz, da sie ohne Impfung besonders stark von schweren Krankheitsverläufen betroffen sind (MA S. 42). Kinder und junge Menschen hingegen haben im Durchschnitt deutlich weniger schwere Krankheitsverläufe. Hinzu kommt noch, dass bei jungen Menschen statistisch auffällig viele erhebliche Nebenwirkungen auftreten, weshalb (etwa ab Frühling 2021) die Corona-Durchimpfung junger Menschen in Skandinavien praktisch eingestellt wurde. Das Verhältnis zwischen Nutzen und Risiko wird für Junge auch noch dadurch verschlechtert, dass erstens (in eher seltenen Einzelfällen) sogar schwere Impfschäden auftreten können (MA S. 42) und zweitens die noch nicht ausreichend erforschten Langzeitwirkungen für Junge eine grössere Bedeutung haben als für betagte Menschen.
Fazit
So sehr eine vorsichtige und restriktive Pandemiepolitik im Zeitraum 2020-21 grundsätzliches Verständnis verdient hat, müssen
massiver indirekter Impfzwang, behördlich-mediale Desinformationen, fragwürdige 2G-Regelungen und strafbewehrte
Impfobligatorien (ab ca. Herbst 2021) aus rechtsmedizinischer und rechtswissenschafticher Warte kritisch analysiert und bewertet werden. Den
Grundrechten ist auch – und gerade – in "pandemisch-phobischen Zeiten" Nachachtung zu verschaffen. Als mühsam erkämpfte zivilisatorische Errungenschaften sind
sie zu wertvoll, um auf Worthülsen einer "Schönwetterpolitik" und wohlklingende Stichworte für Festreden reduziert zu werden (kritisch zum diesbezüglichen Grundrechtsrelativismus in einer phobisch mediatisierten Gesellschaft s. Marc Forster, Kriminalpolitik und
Kriminalpraxis vor alten und neuen Herausforderungen, in: Genillod et al. [Hrsg.], SAK-Tagung Interlaken 2021, Bd. 39, Basel 2022, S. 3 ff., 12 f.).
© Prof. Dr. Marc Forster / 7. September 2023
Do
23
Mär
2023
Am 1. Januar 2024 wird das revidierte Entsiegelungsrecht in Kraft treten (nArt. 248-248a StPO; im Parlament verabschiedet am 17. Juni 2022, vgl. BBl 2022 1560, S. 8 f.). Das Kernproblem des bisherigen Rechts bildeten die lange Verfahrensdauer bzw. das Missbrauchspotential für Verfahrensverschleppungen. Zur Beschleunigung der Entsiegelungsverfahren sollen künftig insbesondere die restriktivere Definition der siegelungsfähigen Aufzeichnungen und Gegenstände sowie Vorschriften zur Straffung des Verfahrens beitragen.
Mit der Ausdehnung der Siegelungsberechtigung und der Verfahrensteilnahme auf Drittpersonen, welche nicht Inhaberinnen der sichergestellten Aufzeichnungen und Gegenstände sind, aber eigene geschützte Geheimnisrechte (aufgrund von Art. 264 Abs. 1 StPO) anrufen können, wird die betreffende Praxis des Bundesgerichtes in der StPO verankert. Als Beispiel sei der Fall eines Arztes genannt, in dessen Praxis Patientenunterlagen sichergestellt werden.
Nach der neuen Regelung kann primär der Arzt als Inhaber der Aufzeichnungen und Träger des Berufsgeheimnisses die Siegelung beantragen (nArt. 248 Abs. 1 Satz 1 StPO). Da für die Staatsanwaltschaft (StA) aber erkennbar ist, dass hier eigene höchstpersönliche, intime Geheimnisse die mitbetroffenen Patientinnen und Patienten tangiert sind, hat die StA diesen als berechtigten Personen ebenfalls Gelegenheit zu geben, die Siegelung zu verlangen (nArt. 248 Abs. 2 StPO). Dies muss zumindest dann gelten, wenn der Arzt selber kein Siegelungs-begehren gestellt hat. Soweit die Patienten entsprechende eigene Geheimnis-rechte (Arzt- und Patientengeheimnis) geltend machen, sind sie als berechtigte Personen zu behandeln und im Entsiegelungsverfahren als Parteien beizuziehen (nArt. 248a Abs. 3 und Abs. 5 StPO). Falls erst das Entsiegelungsgericht erkennt, dass hier neben dem Arzt (als Inhaber) auch die Patienten selbstständig berechtigt sind, so sind Letztere über das Siegelungsbegehren des Arztes zu informieren (nArt. 248a Abs. 2 StPO) und als berechtigte Personen ins Verfahren beizuziehen.
Gemäss der klaren Regelung von nArt. 248 Abs. 2 StPO hat die StA auch den eigenständig berechtigten Drittpersonen, im Beispiel also den mitbetroffenen Patientinnen und Patienten, Gelegenheit zu geben, die Siegelung zu verlangen. Selbst wenn erst das Entsiegelungsgericht erkennt, dass sie (betreffend Patien-tengeheimnisse) berechtigt sind, müssen sie noch nachträglich zum Entsiegelungsverfahren beigezogen werden (nArt. 248a Abs. 2-5 StPO). Es fragt sich, ob dieser selbstständige Rechtsschutz auch für Klienten von Anwälten gelten muss. Nach der im hier vertretenen Auffassung ist dies jedenfalls dann zu bejahen, wenn der Anwalt als Inhaber kein Siegelungsbegehren gestellt hat. Die mitbetroffenen Klienten können eigene Interessen an der Wahrung des Anwaltsgeheimnisses haben (die den Anwalt nicht tangieren). Sofern der Anwalt ein Siegelungs-begehren stellt, ist er als Inhaber an den bei ihm sichergestellten Aufzeichnungen "berechtigt" und kann auch die Interessen seiner Klientschaft wahren. Da die neue Regelung diesbezüglich die bisherige Praxis des Bundesgerichtes abbildet, ist daraus keine spürbare Beschleunigung und Vereinfachung des Verfahrens zu erwarten.
Auch die dreitägige Frist für das Siegelungsbegehren des Inhabers oder der Inhaberin (nArt. 248 Abs. 1 Satz 2 StPO) trägt nur wenig zur gesetzgeberisch angestrebten Verfahrensbeschleunigung bei. Schon nach der bisherigen Rechtsprechung war das Siegelungsbegehren grundsätzlich innert wenigen Tagen zu stellen.
Von erheblicher (normativer) Bedeutung ist die vom Parlament bewusst vorgenommene Einschränkung der möglichen Siegelungsgründe und Durchsuchungshindernisse. Der Siegelung – und damit einem möglichen Durchsuchungs-hindernis im Verfahren nach nArt. 248 f. StPO – unterliegen nach der im Parla-ment verabschiedeten Fassung nur noch Aufzeichnungen oder Gegenstände, die "aufgrund von Art. 264 StPO nicht beschlagnahmt" werden dürfen. Einer Entsiegelung und Durchsuchung können somit künftig nur noch die (allgemeinen) gesetzlichen Zwangsmassnahmenhindernisse von Art. 197 StPO in Verbindung mit einem besonderen Beschlagnahmehindernis gemäss Art. 264 Abs. 1 StPO entgegen stehen. Zwar wurde diese Einschränkung der gesetzlichen Siegelungs-gründe im Gesetzgebungsverfahren ausführlich diskutiert (vgl. Botschaft 2019, S. 6750 f.; Votum BR Keller-Sutter, AB NR 2021 S. 618) und in der Literatur teilweise kritisiert. Der Gesetzgeber hat sich jedoch in Kenntnis dieser Einwände und Gegenvorschläge für die restriktive Lösung (gemäss Expertengruppe NR 2021) entschieden.
Zeugnis- und Aussageverweigerungsrechte ausserhalb der Berufs- und Amtsgeheimnisse nach Art. 264 Abs. 1 lit. a und c-d StPO bilden somit künftig keine möglichen Entsiegelungshindernisse mehr. Das gilt etwa für alle Zeugnis- und Aussageverweigerungsrechte ausserhalb von Art. 170-173 StPO, nämlich solche aufgrund persönlicher Beziehungen gemäss Art. 168 f. StPO, für den nemo tenetur-Grundsatz (Art. 113 Abs. 1 StPO), das Bankkundengeheimnis oder für allgemeine Geschäfts- und Fabrikationsgeheimnisse. Falls kein Siegelungsgrund (geschütztes Geheimnisinteresse) nach Art. 264 Abs. 1 StPO angerufen werden kann, bildet auch der akzessorische Einwand der Untersuchungsrelevanz bzw. der fehlenden Verhältnismässigkeit (Art. 197 Abs. 1 lit. c StPO) kein Entsiegelungs-hindernis. Das Entsiegelungsverfahren dient nicht der allgemeinen Prüfung der der Verhältnismässigkeit von Zwangsmassnahmen, sondern dem Geheimnis-schutz im Hinblick auf die Durchsuchung von Aufzeichnungen und Datenträgern (Art. 246 StPO). Dies gilt schon nach der ständigen bisherigen Praxis des Bundesgerichtes. Die allgemeinen Zwangsmassnahmen-voraussetzungen von Art. 197 StPO sind folglich nur bei Substanziierung von gesetzlich geschützten Geheimnissen (zusätzlich) zu prüfen. Auf ein Entsiegelungsgesuch ist hingegen (mangels gültigem Siegelungsbegehren) nicht einzutreten, falls keine gesetzlich geschützten Geheimnisrechte wenigstens kursorisch angerufen wurden. Falls sich erst nach Substanziierung und näherer Prüfung im Entsiegelungsverfahren ergibt, dass keine Geheimnisse gemäss Art. 264 Abs. 1 StPO tangiert sind, ist das Entsiegelungsgesuch gutzuheissen.
Auch hier sind die praktischen Auswirkungen der Revision eher gering, da schon nach bisheriger Rechtsprechung die primären Entsiegelungshindernisse von Art. 197 Abs. 1 i.V.m. Art. 264 Abs. 1 StPO stark im Vordergrund standen. Weder das Bankkundengeheimnis (BankG, mit Vorbehalt der strafrechtlichen Beweiserhe-bung) noch der nemo tenetur-Grundsatz (mit Einschränkung in Art. 113 Abs. 1 Satz 3 StPO) wurden in der Praxis als Entsiegelungshindernisse anerkannt. Neben den besonderen gesetzlichen Zeugnis- und Aussageverweigerungsrechten (Berufs- und Amtsgeheimnisse) nach Art. 264 Abs. 1 lit. a und c-d StPO verbleiben somit praktisch nur noch für den Persönlichkeitsschutz relevante Privat-geheimnisse, nämlich persönliche Aufzeichnungen und Korrespondenz der beschuldigten Person, als möglicher Siegelungsgrund (Art. 264 Abs. 1 lit. b StPO). Diese Privatgeheimnisse sind allerdings noch gegenüber dem jeweiligen Strafver-folgungsinteresse abzuwägen.
Gestützt auf den Entwurf 2019 und den Vorschlag der Rechtskommission des Nationalrates (2021) wird das Zwangsmassnahmengericht neu auch im erstin-stanzlichen Gerichtsverfahren für Entsiegelungen zuständig sein. Zwar erscheint es inkonsequent, dass im Berufungsverfahren (nArt. 248a Abs. 1 lit. b StPO spricht etwas erratisch von "den anderen Verfahren") die Verfahrensleitung des Berufungsgerichts zuständig bleibt. Die betreffende Kritik in Teilen der Literatur ist allerdings in die Revision nicht eingeflossen.
Grössere Auswirkungen auf die Beschleunigung und Verfahrensstraffung wird nArt. 248a StPO nach sich ziehen. Absatz 3 der Bestimmung sieht vor, dass die berechtigte Person schriftliche "Einwände gegen das Entsiegelungsgesuch" innert einer nicht erstreckbaren (gesetzlichen) Frist von 10 Tagen vorzubringen hat. Da in der bisherigen Praxis solche Fristen oft mehrmals und über mehrere Wochen und Monate hinweg richterlich erstreckt wurden, trägt diese neue Bestimmung zur Beschleunigung bei. Analoges gilt grundsätzlich auch für die gesetzliche Entscheidungsfrist von ebenfalls 10 Tagen (nach Eingang der Stellungnahme) in "spruchreifen" Fällen (Abs. 4), das heisst, wenn keine richterliche Triage der gesiegelten Aufzeichnungen nötig ist und auch sonst kein zwingender sachlicher Grund für eine mündliche Entsiegelungsverhandlung vorliegt. Bei solchen Entscheidungsfristen stellt sich allerdings regelmässig die Frage nach deren blossem Ordnungscharakter bzw. nach den Folgen einer Missachtung der Frist, insbesondere in sachlich begründeten Fällen. Analog zu den Entscheidungsfristen bei Haftverfahren wird eine sachlich begründete und massvolle Überschreitung der Frist nicht ohne weiteres zur Rückgabe der gesiegelten Aufzeichnungen an die Inhaber führen.
Die weiteren Fristvorschriften (von nArt. 248a Abs. 5 StPO) betreffend Durch-führung einer Entsiegelungsverhandlung innert 30 Tagen (nach Eingang der Stellungnahme in nicht "spruchreifen" Fällen) und den "unverzüglichen" Entsie-gelungsentscheid (nach durchgeführter Verhandlung) werden die erstinstanz-lichen Verfahren in der Regel ebenfalls deutlich beschleunigen. Auch die 30-Tages-Frist und die Vorschrift eines "unverzüglichen" Entscheides (innert Tagen bis wenigen Wochen) dürften allerdings blossen Ordnungscharakter in dem Sinne haben, dass ihre Missachtung bzw. massvolle Überschreitung in sachlich begrün-deten Fällen nicht (per se) zur Rückgabe der gesiegelten Aufzeichnungen führt.
In einem neuen Forschungsbeitrag der Universität St. Gallen wird der Reformweg des Entsiegelungsrechts analysiert, vom Vorentwurf 2017 der Expertengruppe BJ, über den darauf gestützten Entwurf des Bundesrates (2019) und die Änderungsvorschläge der Rechtskommission des Nationalrates (2021) bis zur Schlussabstimmung der Räte am 17. Juni 2022 (vgl. Andrina Singenberger, Probleme des Entsiegelungsrechts im Lichte der Revision StPO, Masterarbeit Uni SG, November 2022, S. 37 f.). Dabei werden die bisherige Rechtslage, Kritik und Revisionsvorschläge der Fachliteratur sowie die erfolgte Reform einer kritischen Würdigung unterzogen (vgl. dazu MA S. 36-60).
© Prof. Dr. Marc Forster, RA / 23. März 2023
Nachtrag:
Beschwerde ans Bundesgericht in Entsiegelungssachen auch nach neuem Recht (nArt. 248a StPO, nArt. 80 Abs. 2 BGG):
Wegen einer irrtümlichen Äusserung in einem Teil der Materialien ist in Fachkreisen die Frage aufgeworfen worden, ob nach Inkrafttraten der neuen StPO weiterhin die Beschwerde an das Bundesgericht gegen Entsiegelungs-entscheide der Zwangsmassnahmengerichte zulässig ist. Die Frage ist eindeutig zu bejahen:
Herr B. Stadelmann (Bundesamt für Justiz) äusserte sich anlässlich der Sitzung der nationalrätlichen Kommission für Rechtsfragen vom 8./9. Oktober 2020 missverständlich ("ein Verzicht auf das Prinzip der "double instance" - was bedeutet, dass ein Entsiegelungsentscheid des Zwangsmassnahmengerichts endgültig ist und nicht an das Bundesgericht weitergezogen werden kann"). Der Irrtum wurde in den Beratungen der Bundesversammlung leider teilweise kolportiert (Votum von Frau NRin C. Markwalder).
Die betreffenden Äusserungen beruhen auf einem juristischen Missverständnis. Die "double instance" nach Art. 80 Abs. 2 Satz 3 BGG
bezieht sich auf den kantonalen Instanzenzug. Schon nach jetzigem Recht sagt das Gesetz, dass es keine kantonale Beschwerdeinstanz braucht und die direkte Beschwerde ans BGer
zulässig ist, wenn das ZMG "als einzige kantonale Instanz entscheidet". Die neue Fassung (nArt. 80 Abs. 2 BGG) spricht von "letzten kantonalen Instanzen" und sieht weitherhin
vor, dass es (ausnahmsweise) keine kantonale Rechtsmittelinstanz braucht, wenn kantonale Instanzen "nach der Strafprozessordnung als einzige kantonale Instanz entscheiden". Das
trifft auf Entsiegelungsentscheide des ZMG auch nach neuem Recht weiterhin zu (nArt. 248a Abs. 4 StPO: "endgültig").
Damit hat sich für den Weiterzug von Entsiegelungsentscheiden des ZMG an das BGer nach neuem BGG nichts geändert. Auch aus den Materialien ergibt sich im Gesamtkontext deutlich, dass das
Parlament beim Entsiegelungsrecht den bisherigen Instanzenzug vom ZMG an das BGer beibehalten wollte. In früheren Entwürfen (VE 2017, Entwurf 2019) war sogar noch vorgeschlagen
worden, zusätzlich den doppelten kantonalen Instanzenzug vorzuschreiben, um das BGer indirekt etwas zu entlasten. Die Beschwerde ans BGer abzuschaffen, war hingegen nie
vorgesehen. Die Aussage, wonach ein "Verzicht auf die double Instance" bedeute, "dass ein Entscheid des ZMG endgültig" sei "und nicht an das BGer weitergezogen werden" könne, ist juristisch
falsch und verkennt das Prinzip der double instance. Dieses bezieht sich auf den kantonalen Instanzenzug. Wenn im Sinne von nArt. 80 Abs. 2 BGG und nArt. 248a StPO auf die double instance
verzichtet wird, fällt nicht die BGG-Beschwerde ans BGer dahin, sondern die StPO-Beschwerde an eine kantonale Beschwerdeinstanz. Diese Rechtslage bestand schon nach bisherigem Recht und wird auch
nach neuem Recht so bleiben. Alles andere widerspräche dem klaren Wortlaut des Gesetzes, der BGer-Praxis und den Materialien.
© Prof. Dr. Marc Forster, RA / 21. April 2023
Do
20
Okt
2022
Am 6.10.2022 ist die Referendumsfrist gegen die Revision der Eidg. Strafprozessordnung unbenutzt abgelaufen. Von der Öffentlichkeit und den Medien fast unbemerkt, hat das Parlament am 17.6.2022 den umstrittenen und äusserst knapp ausgefallenen Entscheid gefällt, das bisherige Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft gegen die Haftentlassung von hochgefährlichen oder stark fluchtgefährdeten Beschuldigten abzuschaffen (BBl 2022 1560, 7). Nur noch die beschuldigte Person wird (ab Inkrafttreten der neuen Bestimmungen) die Anordnung oder Verlängerung von Untersuchungs- und Sicherheitshaft anfechten können.
Bisherige Rechtslage und Praxis
Die Strafprozessordnung sieht in Art. 222 gegen die Anordnung, Verlängerung und Aufhebung von Untersuchungs- oder Sicherheitshaft eine Beschwerdemöglichkeit der verhafteten Person vor. Zur Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft sprach sich Art. 222 StPO bisher nicht aus. Diese ergibt sich allerdings klar aus Art. 111 Abs. 1 i.V.m. Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 BGG. Das Bundesgericht interpretierte daher Art. 222 StPO von 2011 bis heute nicht als «qualifiziertes Schweigen» des Gesetzgebers und bejahte eine Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft (BGE 147 IV 123, 124 f. E. 2.2; 138 IV 92, 94 E. 1.1; 137 IV 22, 23 E. 1.2–1.4; 137 IV 87, 89 E. 3; 137 IV 230, 232 E. 1; 137 IV 237, 240 E. 1.2; 137 IV 340, 345 E. 2.3.2. vgl. Forster, Jusletter 26.3.2018, N 2–19; Micheroli/Tag, Jusletter 16.5.2022, N 11–51). Auch nach Erlass des neuen Art. 222 StPO am 17.6.2022 hat das Bundesgericht – bis zum künftigen Inkrafttreten der Revision – an seiner bisherigen Rechtsprechung festgehalten (vgl. z.B. Bundesgerichtsurteil 1B_441/2022 vom 13.9.2022, E. 2).
Ein fragwürdiger kriminalpolitischer Zufallsentscheid
Mit der StPO-Teilrevision vom 17.6.2022 beschränkt der Gesetzgeber das Haft-Beschwerderecht nach Art. 222 StPO nun «einzig» auf die inhaftierte Person. Folglich strich er auch die sich aus Art. 111 Abs. 1 i.V.m. Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 BGG ergebende Legitimation aus dem Gesetz (BBl 2022 1560, 17). Dieser Abschaffung des Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft war ein heftiges kriminalpolitisches Tauziehen im Parlament vorausgegangen: Sowohl der Vorentwurf (2017) als auch der Entwurf (2019) des Bundesrates sahen noch eine ausdrückliche Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft vor (Botschaft, BBl 2019, 6794; vgl. Forster, Jusletter 2018, N 14; Micheroli/Tag, Jusletter 2022, N 4 f.). Die Rechtskommission des Nationalrates hat mit einer hauchdünnen Zufallsmehrheit (13:12) eine Abschaffung des Haft-Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft – sowohl nach StPO als auch nach Bundesgerichtsgesetz – vorgeschlagen. Der Nationalrat ist diesem Vorschlag (als Erstrat) am 18.3.2021 gefolgt, mit dem ebenfalls sehr engen Resultat von 98:89 Stimmen (AB 2021 N 613 f.; vgl. Micheroli/Tag, Jusletter 2022, N 6–8). Der Ständerat folgte dem Nationalrat am 14.12.2021 nicht. Die «Chambre de réflexion» wollte das Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft beibehalten (AB 2021 S 1361 f., 1370, 1372; vgl. Micheroli/Tag, Jusletter 2022, N 9). Im Rahmen der Differenzbereinigung (ab 14.1.2022) und anlässlich seiner zweiten Beratung am 2.3.2022 hielt der Nationalrat aber an seinem Entscheid fest (AB 2022 N 75; vgl. Micheroli/Tag, Jusletter 2022, N 10). Bei der Schlussabstimmung vom 17.6.2022 wurde der Vorschlag des Nationalrats von der Bundesversammlung angenommen.
Systemwidrigkeiten und Risiken
Welchen Risiken die sehr knappe Parlamentsmehrheit damit die Bürgerinnen und Bürger aussetzt, wird künftig die Praxis zeigen müssen (vgl. dazu Forster, Jusletter 26.3.2018, N 1–13; Micheroli/Tag, Jusletter 16.5.2022, N 11–51). Der in der Revision von 2022 erfolgte Ausschluss der Staatsanwaltschaft von der StPO-Haftbeschwerde ist im Übrigen mehrfach systemwidrig: Sogar in der Verwaltungs-Strafrechtspflege ist die Untersuchungsbehörde zur Haftbeschwerde ausdrücklich legitimiert (Art. 51 Abs. 6 VStrR; vgl. Basler Kommentar VStrR [2020]-Graf, Art. 51 N 98–104). Nur schwer einzusehen ist sodann, weshalb die Staatsanwaltschaft gemäss Art. 231 Abs. 2 lit. b StPO beantragen kann, Haftentlassungen – ausgerechnet – des erkennenden erstinstanzlichen Strafgerichtes korrigieren zu lassen (durch die Verfahrensleitung des Berufungsgerichtes), während Haftentlassungen der Zwangsmassnahmengerichte für die Staatsanwaltschaft (nach Art. 222 StPO) unanfechtbar sein sollen. Angesichts der ebenfalls ablehnenden Haltungen der Expertengruppe (VE), des Bundesrates, des Bundesgerichtes und des Ständerates haben faktisch eine Stimme Mehrheit in der Rechtskommission des Nationalrates bzw. 9 Stimmen Mehrheit im (anwaltlich dominierten) Nationalrat zu diesem fragwürdigen kriminalpolitischen Ergebnis geführt.
20. Oktober 2022 / © Prof. Dr. Marc Forster, RA
Fr
06
Mai
2022
Die Ausführungsgefahr ist ein hoch interessanter und kriminalpolitisch umstrittener Haftgrund. Viele Verteidiger und gewisse Hochschuldozierende
monieren, dass es sich um Präventivhaft handle, die eher ins Polizeirecht (präventive Gefahrenabwehr) gehöre als ins Strafprozessrecht (repressive Untersuchung
und Verfolgung von Straftaten). Die Praktiker der Strafjustiz weisen darauf hin, dass der Haftgrund zwar eher selten zur Anwendung gelangt, in der Praxis jedoch unverzichtbar
erscheint.
-- Wie sind die gesetzlichen Haftgründe konzipiert und inwiefern stellt Haft wegen Ausführungsgefahr (Art. 221 Abs. 2 StPO)
Präventivhaft dar?
Ein Blick auf Art. 221 StPO zeigt, dass alle anderen gesetzlichen Haftgründe von Abs. 1 neben einem sogenannten "besonderen" Haftgrund
(Flucht-, Kollusions- und Wiederholungsgefahr, lit. a-c) zusätzlich den dringenden Tatverdacht eines bereits begangenen Verbrechens oder Vergehens voraussetzen. Man spricht hier
auch vom "allgemeinen" Haftgrund des dringenden Tatverdachts, der in den Fällen von Abs. 1 immer vorliegen muss. Die Ausführungsgefahr in Abs. 2 ist demgegenüber ein
selbstständiger Haftgrund, der keinen dringenden Tatverdacht eines bereits verübten Deliktes (notwendigerweise) voraussetzt. In den Fällen von Abs. 2 kann somit Haft zulässig sein,
obwohl in strafrechtlicher Hinsicht noch "nichts passiert" ist, das bereits untersucht werden könnte. Das Gesetz drückt sich in Abs. 2 dementsprechend anders aus als in Abs. 1: Anstatt von
einer "beschuldigten Person" (Abs. 1) spricht Abs. 2 bloss von einer "Person"; wenn noch keine mutmassliche Straftat passiert ist, kann auch niemand förmlich beschuldigt sein. Ausserdem spricht
Abs. 2 von "Haft" und nicht von Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft. Gemeint ist damit Präventivhaft; wenn keine Straftat untersucht wird und keine mutmassliche Sanktion zu
sichern ist, kann auch keine Untersuchungs- oder Sicherheitshaft vorliegen.
-- Welche Fälle werden von Art. 221 Abs. 2 StPO erfasst und wieso ist dieser Haftgrund in der Kriminalpraxis unentbehrlich?
Der klassische Anwendungsfall einer Präventivhaft wegen Ausführungsgefahr sieht exemplarisch wie folgt aus: Der wegen Gewaltdelikten vorbestrafte X
sagt seinem Kumpel Y, er werde seine (Xs) Freundin umbringen, da sie ihn betrogen habe. X schildert dem Y detailliert und glaubhaft, wie er das Opfer zu töten plant. Y geht zur Polizei und meldet
dort, was X ihm gesagt hat. Eine Untersuchungshaft gestützt auf Art. 221 Abs. 1 lit. a-c StPO ist hier nicht möglich, da noch kein Delikt (kein dringender Tatverdacht) vorliegt, das untersucht
werden könnte. Das Verhalten von X, der gegenüber Y lediglich ankündigt, er werde eine dritte Person töten, ist noch keine Straftat, die verfolgt werden könnte. Wenn die Staatsanwaltschaft
Präventivhaft beantragt und der Haftrichter zum Schluss kommt, es sei ernsthaft zu befürchten, dass X seine Drohung wahrmachen könnte, wird der Haftrichter Präventivhaft anordnen. Diese dauert
dann so lange, bis ein Psychiater abgeklärt hat, ob X aus psychiatrischer Sicht gefährlich ist und töten könnte. Wenn die Prognose sehr ungünstig ist, wird Fürsorgerischer Freiheitsentzug wegen
Fremdgefährdung gegen X angeordnet werden; Untersuchungshaft ist nicht möglich, da kein Delikt vorliegt. Wenn die Prognose nicht sehr ungünstig ist, wird X aus der Präventivhaft entlassen werden,
allenfalls gegen Ersatzmassnahmen für Haft (z.B. Verbot, sich der bedrohten Person zu nähern, ambulante Psychotherapie, fürsorgerische Massnahmen usw.).
Es gibt noch einen Spezialfall der Ausführungsgefahr, den einzelne Anwälte und Anwältinnen zum Anlass nehmen zu behaupten, Präventivhaft sei
überflüssig: Im oben geschilderten "klassischen" Fall liegt keine Straftat vor, weil X eine Tötung gegenüber Y ankündigt und nicht gegenüber dem anvisierten potenziellen Opfer. Falls X seine
Freundin direkt mit dem Tod bedroht und diese (wegen der Ernsthaftigkeit der Drohung) in Schrecken oder Angst versetzt wird, läge bereits eine strafbare Drohung (Art. 180 StGB) vor. In diesem
Fall könnte also bereits eine Strafuntersuchung gegen X wegen mutmasslicher Drohung eröffnet werden. Trotzdem müsste auch hier oft auf Präventivhaft (Abs. 2) zurückgegriffen werden und nicht auf
einen besonderen Haftgrund nach Abs. 1: Untersuchungshaft nach Abs. 1 lit. a-c würde nämlich neben dem dringenden Tatverdacht von Drohung auch noch den Nachweis von Fluchtgefahr, Kollusionsgefahr
oder Wiederholungsgefahr voraussetzen. Diese besonderen Haftgründe sind nicht ohne weiteres erfüllt. Wenn aber X seine Freundin mit dem Tod bedroht und zudem ernsthaft zu befürchten ist, er werde
seine Drohung wahr machen, rechtfertigt sich Präventivhaft nach Abs. 2.
-- Kriminalpolitische Würdigung, Alternativen, Praxis zur Ausführungsgefahr, Bedeutung von psychiatrischen
Gutachten
Präventivhaft wegen Ausführungsgefahr wird relativ selten angeordnet. Der Haftgrund ist heikel, da hier eine Person "bloss" wegen schwersten
Drohungen inhaftiert wird, die noch nicht zwangsläufig strafbar sein müssen. Allerdings sieht auch das Zivilrecht (ZGB) bei schwerer Selbst- oder Drittgefährdung einen möglichen gerichtlich
verfügten Freiheitsentzug vor (bis die Gefährdung therapeutisch behoben ist und in den Grenzen des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes). Insofern stellt Art. 221 Abs. 2 StPO eine diffus-hybride
Haftart dar zwischen Strafprozess-, Polizei- und zivilem Fürsorgerecht. Nach der Einschätzung vieler erfahrener PraktikerInnen und Dozierenden braucht es aber weiterhin die Möglichkeit einer
Präventivhaft in solchen Fällen. Der Gesetzgeber will die Ausführungsgefahr in der hängigen StPO-Revision denn auch (nach den bisherigen Entwürfen) beibehalten. Teile der Anwaltschaft kämpfen
kriminalpolitisch dagegen an. Eine andere Frage ist die, ob diese Konstellation dem Zivilrichter überlassen werden könnte, der über Fürsorgerischen Freiheitsentzug nach ZGB
entscheidet. In den Fällen, wo bereits strafbare Drohungen zu untersuchen sind, wäre eine solche Überlappung von Zuständigkeiten zwischen Straf- und Zivilbehörden allerdings
heikel. Und für die Betroffenen macht es im Ergebnis wenig Unterschied, ob nun ein Straf- oder ein Zivilrichter über den Freiheitsentzug entscheidet.
Die heutigen gesetzlichen Hürden für die Anordnung von Präventivhaft und die Gerichtspraxis nach StPO sind ziemlich streng. Es muss ein schweres
Verbrechen, etwa ein Tötungsdelikt, ein schweres Sexualdelikt oder schwere Körperverletzung, ernsthaft drohen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes ist bei der Annahme von
Ausführungsgefahr besondere Zurückhaltung geboten. Das Bundesgericht verlangt eine sehr ungünstige Risikoprognose. Es verlangt hingegen nicht, dass der Drohende bereits konkrete
Anstalten getroffen haben müsste, um das angedrohte schwere Verbrechen zu verüben. Zum Beispiel muss er sich noch keine Tatwaffe zwangsläufig beschafft haben. Entscheidend ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Ausführung aufgrund einer
Gesamtbewertung der persönlichen Verhältnisse sowie der Umstände als sehr hoch erscheint. Dabei ist auch dem psychischen Zustand der drohenden Person bzw. ihrer Unberechenbarkeit oder Aggressivität und allfälligen Vorstrafen
Rechnung zu tragen. Je schwerwiegender das ernsthaft angedrohte
schwere Verbrechen ist, desto eher rechtfertigt sich grundsätzlich, im Rahmen einer sorgfältigen Risikoprüfung, die Präventivhaft.
Wenn der Haftrichter z.B. sieht, dass jemand "bloss" aus Verzweiflung,
unter Drogeneinfluss oder aus grober Fahrlässigkeit schwer gedroht hat, die Ausführung aber nach den konkreten Umständen nicht sehr wahrscheinlich erscheint, wird er auf Präventivhaft verzichten,
allenfalls Ersatzmassnahmen anordnen oder den Fall dem Zivilrichter (häusliche Gewalt, Prüfung von Fürsorgerischer Unterbringung oder anderen fürsorgerischen Massnahmen) übergeben. Wenn der
Haftrichter hingegen schwere Bedenken hat und die Ernsthaftigkeit nicht ausreichend ausschliessen kann, wird er ein psychiatrisches Vorabgutachten zur Gefährlichkeitsprognose
einholen. Dieses sollte innert einigen Wochen bis wenigen Monaten erstellt werden. Oft fallen diese Gutachten allerdings etwas vage aus, weil erstens die Beurteilung "ad hoc" (ohne längere
therapeutische Erfahrung) schwierig ist und zweitens die forensischen PsychiaterInnen die "Verantwortung" auf beide Seiten hin nicht sehr gerne übernehmen. Regelmässig muss der Haftrichter daher
eine sehr heikle Abwägung vornehmen zwischen den Risiken für das bedrohte Opfer und den Freiheitsrechten der drohenden Person.
6. Mai 2022 / © Prof. Dr. Marc Forster
Mi
19
Mai
2021
– Ist das neue Gesetz über präventive Massnahmen gegen "terroristische Gefährder" (PMT) sachlich notwendig oder rechtsstaatlich bedenklich? Könnte es auch militante Klimaschützer/innen oder rabiate Corona-Demonstrierende treffen? Welche Strafnormen treten am 1. Juli 2021 bereits in Kraft? Über was wird am 13. Juni 2021 noch abgestimmt? Wohin geht die weitere Entwicklung?
– Was kommt am 1. Juli 2021?
Gegen die vom Parlament (im September 2020) verabschiedeten strafrechtlichen und rechtshilferechtlichen Normen zur Terrorismusbekämpfung ("Vorlage 1") ist kein Referendum ergriffen worden. Die betreffenden Normen treten bereits am 1. Juli 2021 in Kraft (gemäss dem bundesrätlichen Entscheid vom 31. März 2021). Dabei handelt es sich insbesondere um die revidierte Strafnorm von Art. 260ter StGB gegen kriminelle und terroristische Organisationen und um den neuen Art. 260sexies StGB gegen die Anwerbung, Ausbildung und Reisetätigkeit (insbesondere von sogenannten "Jihadisten") im Hinblick auf terroristische Straftaten. Hinzu kommt eine neue Strafnorm in Art. 74 Abs. 4 des Nachrichtendienstgesetzes (NDG, SR 121) gegen die Beteiligung an einer (nach Art. 74 Abs. 1 NDG) verbotenen Organisation oder Gruppierung und gegen ihre personelle oder materielle Unterstützung, insbesondere durch Organisieren von Propaganda oder Anwerbung für sie und durch sonstiges Fördern ihrer Aktivitäten. Am 1. Juli 2021 in Kraft treten wird auch der neue Art. 80d-bis IRSG betreffend vorzeitige Übermittlung (noch vor Erlass einer Rechtshilfe-Schlussverfügung) von Informationen und Beweismitteln an ausländische Strafbehörden und weitere gesetzliche Anpassungen (insbes. Ergänzungen in der StPO betreffend Bundesgerichtsbarkeit für Art. 260ter und sexies StGB sowie Art. 74 Abs. 4 NDG; vgl. BBl 2020 7893 ff.).
– Über was wird im Juni 2021 noch an der Urne abgestimmt?
Gegen das vom Parlament am 25. September 2020 ebenfalls verabschiedete Bundesgesetz über präventive polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT) ist hingegen das Referendum ergriffen worden. Darüber wird am 13. Juni 2021 abgestimmt ("Vorlage 2"):
Gegen sogenannte terroristische Gefährderinnen und Gefährder (Art. 23e des revidierten BWIS, SR 120) können vom Fedpol, unter den gesetzlich geregelten Voraussetzungen (Art. 23f-q BWIS), präventive polizeiliche Massnahmen verfügt bzw. beantragt werden, nämlich eine Melde- und Gesprächsteilnahmepflicht (Art. 23k BWIS), ein Kontaktverbot mit gewissen Personen (Art. 23l BWIS), eine lokale Aus- und Eingrenzung (Art. 23m BWIS), ein Ausreiseverbot (Art. 23n BWIS), ein Hausarrest ("Eingrenzung auf eine Liegenschaft", Art. 23o-p BWIS) sowie eine (nicht geheime) elektronische Randdaten-Überwachung bzw. Lokalisierung über Mobilfunk, zur Sicherung des Vollzuges solcher Massnahmen (Art. 23q BWIS). Die Melde- oder Gesprächsteilnahmepflicht, das Kontaktverbot, die Aus- oder Eingrenzung, das Ausreiseverbot sowie die Mobilfunk-Randdaten-Überwachung (elektronische Lokalisierung) kann gegen terroristische Gefährderinnen und Gefährder ab deren vollendetem 12. Altersjahr angeordnet werden, der Hausarrest ab dem 15. Altersjahr (Art. 24f BWIS). Der Hausarrest ist vom Zwangsmassnahmengericht zu bewilligen (Art. 23p Abs. 1 BWIS); er ist auf drei Monate begrenzt und kann zwei mal (um jeweils maximal drei weitere Monate) verlängert werden (Art. 23o Abs. 5 BWIS). Die Massnahmenentscheide können mit Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht angefochten werden (Art. 24g BWIS; vgl. BBl 2020 7742 ff.).
– Was wartet zusätzlich noch in der gesetzgeberischen Pipeline?
Nicht zu vergessen ist schliesslich noch eine dritte Reformvorlage mit unmittelbaren Bezügen zur Terrorismusbekämpfung, zu der kürzlich die Botschaft des Bundesrates vom 5. März 2021 publiziert worden ist (BBl 2021 738): Im PCSC-Abkommen mit den USA und im Abkommen mit der EU zur Beteiligung an "Prüm" (inklusive Eurodac-Protokoll EU-Schweiz-Liechtenstein) geht es um die Erweiterung des justiziellen Informationsaustausches zu Zwecken der Strafverfolgung (also nicht nur polizeiliche Zusammenarbeit und Prävention) bzw. um neue Möglichkeiten der akzessorischen Rechtshilfe im Bereich der Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität. Die Abkommen sollen insbesondere die gegenseitige Abgleichung von Fingerabdrücken, DNA-Profilen und Fahrzeugregistrierungen ermöglichen (vgl. Entwürfe der beiden Bundesbeschlüsse in BBl 2021 739 und 741).
Zur strafrechtlichen "Vorlage 1" (in Kraft ab 1. Juli 2021):
Art. 260ter StGB stellt das Unterstützen der Tätigkeit von terroristischen Organisationen (und die Beteiligung an solchen) unter Strafe, Art. 260sexies StGB ähnliche Unterstützungshandlungen (wie Art. 74 Abs. 4 NDG gegen das Anwerben, Ausbilden oder Reisen) im Hinblick auf terroristische Straftaten. Angesichts dieser Normen-Überschneidungen wird die Gerichtspraxis abgrenzen müssen, welche Gruppierungen nicht terroristisch (im Sinne des StGB) aber verboten (im Sinne des NDG) sind (keine Anwendbarkeit von Art. 260ter StGB, aber Anwendbarkeit von Art. 74 Abs. 4 NDG), und welche Unterstützungshandlungen nicht im Hinblick auf konkrete terroristische Gewaltverbrechen erfolgen (keine Anwendbarkeit von Art. 260sexies StGB, aber mögliche Anwendbarkeit von Art. 74 Abs. 4 NDG gegen verbotene Gruppierungen). Gemäss NDG verboten werden können auch Gruppierungen, die nicht alle Tatbestandselemente einer terroristischen Organisation (Art. 260ter Abs. 1 lit. a Ziff. 2 StGB) erfüllen. Da die "Vorlage 1" die Strafbarkeit nach dem bisherigen befristeten "IS-/Al-Qaïda-Gesetz" (AS 2014 4565, AS 2018 3345) abdeckt, wird dieses aufgehoben, sobald der Bundesrat die dort anvisierten Gruppierungen und Organisationen für verboten erklärt hat (vgl. Anhang Ziff. I zum Bundesbeschluss vom 25.9.2020, BBl 2020 7893; Art. 74 Abs. 1 NDG). Bis dahin bleibt das IS-Gesetz längstens bis Ende 2022 in Kraft (letzte Verlängerung durch das Parlament).
Keine Privilegierung von "Mafiabossen"
Zu begrüssen ist die Korrektur, die das Parlament am bundesrätlichen Entwurf von Art. 260ter StGB vorgenommen hat: Nach dem Entwurf hätte die neue Strafobergrenze von zehn Jahren Freiheitsstrafe nur für die Unterstützung und Beteiligung an einer terroristischen Organisation gegolten (vgl. BBl 2018 6529). Für Mafiabosse (denen sonst regelmässig keine eigenen konkreten Verbrechen nachzuweisen sind) wäre hingegen eine deutlich tiefere Strafobergrenze von lediglich fünf Jahren vorgesehen gewesen (vgl. die Kritik in meinen Blog vom 6. Januar 2020). Die vom Parlament im September 2020 verabschiedete gesetzliche Fassung korrigiert diese Unstimmigkeit.
Problematik terroristischer Einzeltäter und Kleingruppen
De lege ferenda bestehen allerdings noch Lücken bei der Verfolgung von terroristischen Anschlägen und Massenmorden von Einzeltätern und Kleingruppen. Zu erinnern ist insbesondere an den Terroranschlag in Wien vom 2. November 2020 (mit vier Toten und 23 teils schwer Verletzten), an die 51 Morde von Christchurch im März 2019, die Anschlagsserie in London zwischen März und September 2017 (14 Tote und 146 Verletzte), die Lastwagen-Attentate im Juli bzw. Dezember 2016 in Nizza und Berlin (mit 86 bzw. 11 getöteten Menschen), das Bombenattentat am Boston Marathon 2013 (3 Tote, 264 Verletzte, darunter viele Schwerverletzte), die 2011 auf Utoya ermordeten 77 Kinder und Jugendlichen, die NSU-Mordserie 2000-2007 in Deutschland (neun Tote), oder an das Zuger Attentat von 2001, bei dem 14 Kantons- und Regierungsräte erschossen und zahlreiche weiteren Menschen zum Teil schwer verletzt wurden. Terroristische Einzeltäter und Kleingruppen, die den Organisationstatbestand nicht erfüllen, werden von Art. 260ter StGB nicht erfasst, Art. 260quinquies StGB stellt lediglich ihre Finanzierung unter Strafe, nicht aber deren anderweitige, bewusste und massive logistische Unterstützung (abgesehen von der kausalen Beihilfe zu einem konkreten Verbrechen). Ob Art. 260sexies StGB und Art. 74 Abs. 4 NDG, die auf Jihad-Unterstützer zugeschnitten sind, hier praxistaugliche gesetzliche Grundlagen bringen werden, erscheint eher fraglich.
Zur präventiv-polizeilichen "Vorlage 2": PMT,
Volksabstimmung vom 13. Juni 2021:
Als "terroristische Gefährder/innen" gelten nach dem PMT (Referendumsvorlage zum revidierten BWIS, SR 120, BBl 2020 7741 ff.) Personen, bei denen "aufgrund konkreter und aktueller Anhaltspunkte davon ausgegangen werden muss, dass sie oder er eine terroristische Aktivität ausüben wird" (Art. 23e Abs. 1 BWIS). Die Vorlage definiert "terroristische Aktivitäten" als "Bestrebungen zur Beeinflussung oder Veränderung der staatlichen Ordnung, die durch die Begehung oder Androhung von schweren Straftaten oder mit der Verbreitung von Furcht und Schrecken verwirklicht oder begünstigt werden sollen" (Art. 23e Abs. 2 BWIS).
Die Problematik des Terrorismusbegriffes
Die "Terrorismusdefinition" von Art. 23e BWIS erscheint im Lichte der bundesgerichtlichen (strafrechtlichen) Praxis etwas gar weit gefasst. Das Bundesgericht legt den Fokus auf die besonders schwere Gewaltverbrechen (wie z.B. Bombenattentate, Tötungsdelikte, schwere Brandanschläge, Flugzeugentführungen usw.), die sich nicht ausschliesslich gegen staatliche Polizei- und Militärkräfte richten, sondern regelmässig – und gerade – auch gegen beliebige zivile Opfer und zivile Anschlags-Ziele (z.B. öffentliche Verkehrsmittel wie Züge oder Flugzeuge). Diese Fokussierung auf zivile Opfer ist im Terrorismusstrafrecht sehr wichtig, da die Justiz sonst (bei schweren Delikten gegen Militär- und Polizeikräfte bzw. bei bürgerkriegsähnlichen Konflikten) regelmässig vor ein schweres Dilemma gestellt wird, das den Terrorismusbegriff ad absurdum zu führen droht: Bekanntlich gefallen sich autoritäre Machthaber und exzessiv gewalttätige staatliche Regimes sehr oft darin, praktisch alle Oppositionellen in ihrem Land als "Terroristinnen und Terroristen" zu bezeichnen und zu verfolgen, teilweise sogar (mit Auslieferungsersuchen) bis ins Ausland (vgl. dazu Marc Forster, in: Basler Kommentar Internationales Strafrecht, 2015, Art. 3 IRSG N. 7-11). In gewissen Staaten sind (neben Politiker/innen) namentlich Journalist/innen, die kritisch über staatliche Gewalt und Unterdrückung von Minderheiten berichten, von diesem internationalstrafrechtlichen Missbrauch und der Politisierung des Terrorismusbegriffes betroffen. Ohne eine konsequente Fokussierung auf systematische Gewalt gegen Zivilpersonen und auf das Verbreiten von Furcht und Schrecken in der Zivilbevölkerung läuft die Justiz Gefahr, dass sie einseitig Partei ergreifen muss gegen Bürgerkriegsparteien oder gegen legitime Freiheitskämpfer, die sich gegen Willkürherrschaft und schwere systematische Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Regimes wehren (derzeit zum Beispiel in Burma).
Terrorismusbegriff im PMT
Zwar erscheint die Definition der "terroristischen" Aktivitäten (in Art. 23e BWIS) unter diesem Gesichtspunkt etwas unbestimmt. Der rechtspolitische Vorwurf, die PMT-Vorlage erlaube eine extensive Ausdehnung der präventiven Massnahmen (gegen terroristische Gefährder/innen) auf legitime politische Aktivist/innen und Demonstrierende in der Schweiz, ist jedoch unbegründet: Erstens müssen "Bestrebungen zur Beeinflussung oder Veränderung der staatlichen Ordnung" vorliegen, "die durch die Begehung oder Androhung von schweren Straftaten oder mit der Verbreitung von Furcht und Schrecken verwirklicht oder begünstigt werden sollen" (Art. 23e Abs. 2 BWIS). Zweitens muss "aufgrund konkreter und aktueller Anhaltspunkte davon ausgegangen werden" können, dass Gefährder/innen eine solche "terroristische Aktivität ausüben" werden (Art. 23e Abs. 1 BWIS). Und drittens müssen – neben den besonderen (qualifizierten) Voraussetzungen von Art. 23k-q BWIS – als allgemeine gesetzliche Voraussetzung noch zusätzlich sämtliche Subsidiaritäts-Kriterien von Art. 23f Abs. 1 BWIS kumulativ erfüllt sein.
Besonders einschneidende präventive Zwangsmassnahmen – wie etwa der "Hausarrest" nach Art. 23o BWIS – setzen die Hürden noch deutlich höher, als sie bereits in den allgemeinen Grundsätzen von Art. 23e und 23f BWIS verankert sind: Ein Hausarrest setzt nämlich "konkrete und aktuelle Anhaltspunkte" dafür voraus, dass von terroristischen Gefährder/innen eine "erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter ausgeht, die nicht anders (als durch Hausarrest) abgewendet werden kann" (Art. 23o Abs. 1 lit. a BWIS). Aber es kommt hier noch eine zusätzliche Voraussetzung dazu: Selbst bei Erfülltsein dieses qualifizierten Erfordernisses ist der Hausarrest nur möglich, wenn zuvor eine mildere Zwangsmassnahme (etwa ein Kontaktverbot, eine Rayonauflage oder ein Reiseverbot) angeordnet worden ist und der Gefährder oder die Gefährderin dagegen verstossen hat (Art. 23o Abs. 1 lit. b BWIS). Der Hausarrest muss zudem richterlich bewilligt werden (Art. 23p BWIS).
– Hausarrest gegen Klimaschützer und Corona-Demonstrierende?
Juristisch unbegründet erscheinen somit Befürchtungen (von vermeintlichen oder echten "Expert/innen" des Terrorismus-Straf- und Polizeirechts), wonach politische Aktivist/innen, etwa militante Klimaschützer/innen, die z.B. Fassaden beschmieren oder vorübergehend Filialen von Banken oder anderen Unternehmen besetzen (Hausfriedensbruch, Nötigung, Sachbeschädigung), als "terroristische Gefährder/innen" eingestuft und von Hausarresten betroffen werden könnten. Dafür findet sich in Art. 23e-q BWIS keine sachliche Grundlage. Wenn der Zwangsmassnahmenrichter allerdings konkrete und aktuelle Anhaltspunkte sieht, dass von gefährlichen und extrem gewaltbereiten politischen Extremist/innen eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter ausgeht, nachdem bereits angeordnete mildere Präventivmassnahmen nichts gefruchtet haben (Art. 23o Abs. 1 BWIS), ist gegen einen präventiven Hausarrest von verhältnismässiger Dauer rechtsstaatlich kaum etwas einzuwenden. Dies umso weniger, als die Strafprozessordnung bei ernstlicher Ausführungsgefahr für ein schweres Verbrechen sogar die Anordnung von Untersuchungshaft in einem Gefängnis (und mit einem sehr restriktiven Vollzugsregime) ermöglicht, und zwar auch präventiv, nämlich gegen Gefährder/innen, die nicht zwangsläufig bereits ein Delikt begangen haben müssen (Art. 221 Abs. 2 StPO). Der einschlägigen Praxis der Strafbehörden und den Lageberichten von Polizei und Staatsschutz lässt sich entnehmen, dass in der Schweiz wohnhafte radikalisierte Jihad-Sympathisant/innen (der sogenannten "dritten Generation") leider zunehmend jünger werden. Dass bereits 15-Jährige terroristische Gefährder/innen (unter den genannten restriktiven Voraussetzungen) von Hausarrest betroffen sein können (Art. 24f Abs. 2 BWIS), trägt dieser bedauerlichen Entwicklung Rechnung.
– Grundrechtswidriger "Sündenfall" oder notwendige gesetzliche Reform in Zeiten hoher terroristischer Bedrohung?
Das PMT ist im Übrigen die logische kriminalpolitische Konsequenz aus äusserst tragischen Erfahrungen mit diversen terroristischen Schwerverbrechern (Terroranschläge von Paris, London, Nizza, Berlin, Wien usw.), deren hohe Gefährlichkeit zwar bereits vor den Terroranschlägen polizeilich erkannt worden war, gegen die aber (mangels bereits verfolgbarer schwerer Delikte) keine gesetzliche Grundlage für geeignete präventive Polizeimassnahmen bestand. Die Vorlage schliesst diese Lücke im schweizerischen Terrorismus-Polizeirecht.
19. Mai 2021 / © Prof. Dr. Marc Forster
Mo
06
Jan
2020
Anfang Dezember 2019 ist der Ständerat (nach einem Rückweisungsantrag von Ständerat Beat Rieder) auf die Terrorismusvorlage (BBl 2018 6427ff., 6525 ff.) vorläufig nicht eingetreten. Es wurde verlangt, dass die Sicherheitspolitische Kommission einen Mitbericht der Rechtskommission einholt.
Unter Hinweis auf die Vernehmlassung des Anwaltsverbandes wurde insbesondere die Vorlage zu den rechtshilferechtlichen Bestimmungen kritisiert; so erlaube der Art. 80dbis E-IRSG den Staatsanwälten (nicht nur bei Terrorismusverdacht), vorzeitig (vor Abschluss eines entsprechenden förmlichen Rechtshilfeverfahrens) Informationen und Beweismittel an ausländische Strafbehörden zu übermitteln (vgl. Tages-Anzeiger vom 10. Dezember 2019). Dieser Einwand übersieht, dass heute sogar eine unaufgeforderte Übermittlung ans Ausland (ohne jegliches Rechtshilfeersuchen) zulässig sein kann (Art. 67a IRSG).
Leider werden die statistischen Zahlen zur Entwicklung terroristischer Gewaltverbrechen von den amerikanischen und europäischen Behörden regelmässig geschönt und verzerrt dargestellt:
Das Aussenministerium der USA (State Department) hat Statistiken zur Zahl der "weltweiten" Terroranschläge und zur Zahl der getöteten Opfer zwischen 2006 und 2018 publiziert (vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/380942/umfrage/anzahl-der-terroranschlaege-weltweit/ https://de.statista.com/statistik/daten/studie/380949/umfrage/getoetete-personen-durch-terroranschlaege-weltweit/). Die betreffenden Zahlen könnten zunächst einen gewissen Rückgang terroristischer Anschläge suggerieren. Wenn westliche (und besonders amerikanische) Quellen von "weltweit" sprechen, meinen sie allerdings in der Regel die westliche "Welt". Die Zahlen der in den Jahren 2012 und 2017 angeblich Getöteten (11'098 bzw. 18'753 Menschen) erscheinen auffällig tief (und merkwürdig präzise). – Hat hier z.B. auch der Staatsterror gegen die eigene Zivilbevölkerung (etwa durch das syrische Regime, u.a. mit dem Einsatz von Fassbomben in Wohngebieten) Berücksichtigung gefunden? Und wie steht es mit den damaligen horrenden Opferzahlen allein des IS in Syrien und im Irak oder mit den unüberschaubaren Mordserien diverser Terrororganisationen (etwa in Afghanistan, im Yemen oder in verschiedenen Regionen Afrikas)? Könnte es sein, dass die amerikanischen Behörden damit angebliche Erfolge ihres (ab 2001 eingeleiteten) "War on Terrorism" dokumentieren möchten? Solche politisch gefärbten Zahlen müssten aufgrund von anderen verlässlichen Quellen (etwa des Internationalen Roten Kreuzes oder der UNO) jedenfalls kritisch hinterfragt werden. Selbst aus den Zahlen des State Department liessen sich bestenfalls grosse Schwankungen der Opferzahlen (zwischen 2006 und 2017) ablesen. Und im Jahr 2018 hat die Zahl der Terror-Todesopfer mit 32'836 Personen sogar einen neuen absoluten Höchststand erreicht (vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/380949/umfrage/getoetete-personen-durch-terroranschlaege-weltweit/).
Aber auch Europa "trickst" und beschönigt mit gewissen Statistiken zu terroristischen Gewaltverbrechen: So hat die EU (über Europol) Zahlen publiziert zu den "terroristischen Angriffen" von 2008-2018 in Europa und den diesbezüglichen Festnahmen (vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/493217/umfrage/angriffe-und-festnahmen-mit-terroristischem-hintergrund-in-der-eu/). Zwar sind die Festnahmen seit ca. 2010 markant (auf mehr als das Zweifache) gestiegen. Auffällig ist jedoch, dass Europol nur die Zahl der terroristischen "Angriffe" nennt, aber keine Opferzahlen. Daraus resultiert eine Verfälschung der Statistik: Blosse Einzelangriffe werden gleich gezählt und gewichtet wie Massenmorde (z.B. das Massaker vom 13. November 2015 im Pariser Konzertsaal "Bataclan" oder die beiden Massentötungen mit Lastwagen von 2016 in Nizza und Berlin). Der methodische Unsinn führt zum verzerrten Bild, dass – ausgerechnet – die beiden europäischen "Terrorjahre" 2015 und 2016 (mit hunderten Toten und Schwerverletzen) statistisch "friedlicher" erscheinen als z.B. die Jahre 2014 und 2017, und dass dabei das falsche Bild einer seit 2010 abnehmenden bzw. gleichbleibenden terroristischen Gewaltkriminalität suggeriert wird.
Zur Erinnerung: Allein bei den drei "Angriffen" vom 13. November 2015 in Paris gab es 130 Tote und 683 Verletzte. Am 14. Juli bzw. 19. Dezember 2016 wurden bei zwei Lastwagen-Anschlägen in Nizza und Berlin 86 bzw. 11 Menschen getötet; 400 bzw. 55 weitere Opfer wurden (grossteils schwer) verletzt. Mit anderen Worten: Zwar ist seit 2010 die Zahl der jährlichen Anschläge eher etwas gesunken; die Opferzahlen haben aber (bis 2015/2016) wieder markant zugenommen. Auch die statistischen Angaben des Nachrichtendienstes des Bundes kranken an ähnlichen Gewichtungsfehlern (indem zwischen der Anzahl und der Schwere der Anschläge in Europa nicht ausreichend differenziert wird, vgl. Lagebericht NDB "Sicherheit Schweiz 2019", S. 38).
Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Behörden primär Erfolge vermelden wollen (steigende Anzahl Verhaftungen), während die hohen Opferzahlen (auch in Europa) statistisch retouchiert werden (Zählen von "Anschlägen" anstatt von Opfern). Solche Schönfärbereien beeinflussen offenbar auch die kriminalpolitischen Entscheide des eidgenössischen Parlamentes bei der Revision des veralteten Terrorismus-Strafrechts.
Auch in der (revisionskritischen) strafrechtlichen Literatur mischen sich gelegentlich "wissenschaftliche" Argumente mit kriminalpolitischen Motiven: Schon dem bisherigen Art. 260ter StGB wurde vorgeworfen, er sei "präventiv" ausgerichtet und führe zu einer strafrechtsdogmatisch unzulässigen Vorverlagerung der Strafbarkeit, indem er Aktionen unter Strafe stelle, "bevor überhaupt ein konkretes Delikt verübt" worden sei. Dabei "suggeriere" das Strafrecht der Bevölkerung einen "Schutz vor terroristischen Attentaten" bzw. eine "Beherrschung des Problems". – Solchen Verkürzungen ist zu widersprechen: Die Mafia oder terroristische Organisationen wie der IS haben bereits zahlreiche Schwerverbrechen nachweislich begangen. Mit einer "Verschiebung der Strafbarkeit auf der Zeitachse" (wie in Teilen der Literatur behauptet wird) hat Art. 260ter StGB überhaupt nichts zu tun. Die Bestimmung bezweckt vielmehr eine Beweisverlagerung: Angehörige (namentlich Bosse) mafiöser und terroristischer Organisationen sowie deren massgebliche Unterstützer sollen auch dann strafrechtlich verfolgt werden können, wenn ihnen noch keine Beteiligung (Mittäterschaft oder Teilnahme) an einem konkreten Mafiaverbrechen oder einem terroristischen Gewaltverbrechen persönlich zugerechnet werden kann.
Wenn der Gesetzgeber hier eine Strafwürdigkeit erkennt, geht es ihm weder um "Prävention", noch begeht er ein strafrechtsdogmatisches Sakrileg. Selbst das gemeinrechtliche Individualstrafrecht kennt diverse Fälle von akzessorischer Strafbarkeit ohne Verwirklichung des anvisierten Hauptdeliktes: Versuchte Anstiftung zu einem Verbrechen ist ohne jegliche Haupttat strafbar (Art. 24 Abs. 2 StGB). Auch blosse (öffentliche) Aufrufe zu Verbrechen oder Gewaltstraftaten (Art. 259 StGB) oder blosse Vorbereitungshandlungen zu gewissen Schwerverbrechen (Art. 260bis StGB) sind strafbar, ohne dass in der Folge eine entsprechendes Verbrechen versucht oder verübt werden müsste. Falls ein Terrorist z.B. wegen eines konkreten Mordes angeklagt wird, muss auch ihm eine persönliche Beteiligung daran rechtsgenüglich nachgewiesen werden. – Wieso aber sollten Mafiosi und Terroristen nicht schon wegen ihrer nachweisbaren Zugehörigkeit z.B. zur Camorra oder zum IS in angemessener Weise bestraft werden können?
Wer gegen solche "Vorverlagerungen" der Strafbarkeit im Bereich der Schwerstkriminalität ankämpft, betreibt in der Regel keine Strafrechtsdogmatik, sondern Kriminalpolitik. Erfreulicherweise besteht für eine entsprechende Modernisierung und Verschärfung des Terrorismusstrafrechts nach schweizerischem Modell (vgl. dazu schon M. Forster, Kollektive Kriminalität, Das Strafrecht vor der Herausforderung durch das organisierte Verbrechen, Basel 1998) unterdessen ein weitgehender völkerrechtlicher Konsens (vgl. Art. 6 Abs. 1 und 8-9 des Übereinkommens des Europarates zur Verhütung des Terrorismus vom 16. Mai 2005, SEV Nr. 196, BBl 2018 6541 ff.).
Die im Entwurf des Bundesrates vorgeschlagene Änderung, bei der neuen Unterstützungsvariante die verbrecherische Zielsetzung der kriminellen Organisation nicht (nochmals) zu erwähnen (Art. 260ter Abs. 1 lit. b E-StGB), verdient Zustimmung: Zum einen wird diese Zielsetzung bereits bei der gesetzlichen Definition der (unterstützen) krimOrg ausreichend erwähnt; zum anderen hat die Bundesgerichtspraxis deutlich gemacht, dass die Unterstützung konkreter Verbrechen hier gerade nicht zu verlangen ist, weshalb der bisherige (renundante) Gesetzestext missverständlich wirkt.
Berechtigt scheint hingegen die Kritik (etwa des Anwaltsverbandes) am vorgeschlagenen Wegfall des Geheimhaltungs-Merkmals (Art. 260ter Abs. 1 E-StGB): Dass ein gesetzliches Tatbestandsmerkmal die Strafverfolgung "erschwere" (so das Hauptargument der Strafverfolger), ist vom Gesetzgeber gewollt und reicht als kriminalpolitisches Motiv einer Streichung (für sich alleine) nicht. Das bisherige Erfordernis der Geheimhaltung des Aufbaus und der personellen Zusammensetzung der krimOrg erklärt sich aus der (leider vielfach in Vergessenheit geratenen) Zielsetzung der Norm: Die Vorverlagerung der Strafbarkeit auf Beteiligung und Unterstützung ausserhalb der klassischen Regeln der Teilnahmedogmatik rechtfertigt sich nur für besonders gefährliche terroristische sowie (im engeren Sinne) mafiöse Gruppierungen, nicht aber für "gewöhnliche" Verbrecherbanden, bei denen die "Omertà" und die heimliche Unterwanderung (der legalen Wirtschaft und Politik) eine deutlich geringere Bedeutung spielen.
Sehr zu begrüssen ist wiederum die höhere Strafobergrenze (10 Jahre) für Terroristen (Art. 260ter Abs. 2 E-StGB) sowie das Mindeststrafmass (drei Jahre) für Mafiabosse bzw. Terroristen mit "bestimmendem Einfluss" (Abs. 3). Wenig einleuchtend scheint hingegen, wieso der Mafiaboss lediglich mit höchstens 5 Jahren Freiheitsstrafe bedroht werden soll, sofern ihm keine konkreten Verbrechen persönlich nachzuweisen sind (Abs. 2 ist allein auf terroristische krimOrg zugeschnitten).
Das schweizerische Terrorismus-Strafrecht weist leider weiterhin bedenkliche Lücken auf, denen der Entwurf des Bundesrates von 2018 zu wenig Rechnung trägt: Völlig zu übersehen scheint der Gesetzgeber das Problem der terroristischen Anschläge und Massenmorde von Einzeltätern und Kleingruppen. Diese werden von Art. 260ter StGB überhaupt nicht erfasst. – Zu erinnern ist hier beispielsweise an die 51 Morde von Christchurch im März 2019, die Lastwagen-Attentate im Juli bzw. Dezember 2016 in Nizza und Berlin (mit 86 bzw. 11 getöteten Menschen), das Bombenattentat am Boston Marathon 2013, die 2011 auf Utoya ermordeten 77 Kinder und Jugendlichen, die NSU-Mordserie 2000-2007 in Deutschland, oder an das Zuger Attentat von 2001, bei dem 14 Kantons- und Regierungsräte erschossen und zahlreiche weiteren Menschen zum Teil schwer verletzt wurden.
Nur wenig hilfreich und stark auslegungsbedürftig ist in diesem Zusammenhang der neu vorgeschlagene Art. 260sexies E-StGB: Wie schon der Bundesrat in seiner Botschaft bemerkt hat, könnten damit höchstens "kleinere Lücken" geschlossen werden: Zwar setzt diese Bestimmung keine terroristische Organisation voraus. Die dort unter Strafe gestellten Handlungen (Anwerben, Sich-Anleiten-Lassen/Anleiten, Reisen) müssen jedoch "im Hinblick auf die Verübung eines" (konkreten terroristischen) "Gewaltverbrechens" erfolgen. Die Tragweite der vorgeschlagenen Norm geht daher über die – bereits strafbaren – Vorbereitungshandlungen (Art. 260bis StGB) bzw. über Beihilfe zu Gewaltverbrechen (Art. 25 StGB) kaum hinaus.
Zudem ist nur schwer zu erkennen, wie die Schweiz damit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen nach Ratifikation des Übereinkommens des Europarates zur Verhütung des Terrorismus (vom 16. Mai 2005) vollständig nachkommen würde: Artikel 6 Absatz 1 dieses Übereinkommens verlangt ausdrücklich eine Strafnorm gegen Anwerbungen "für terroristische Zwecke". Eine solche Strafnorm ginge deutlich weiter als die vom Bundesrat (in Art. 260sexies Abs. 1 lit. a E-StGB) inkriminierte Anwerbung für ein konkretes terroristisches "Gewaltverbrechen" ("Begehung einer solchen Straftat oder die Teilnahme daran"). Schon die gezielte Anwerbung, sich z.B. dem IS anzuschliessen, muss nach dem Übereinkommen des Europarates unter Strafe gestellt werden (und nicht bloss die Anwerbung für konkrete Gewaltverbrechen des IS). In Art. 260sexies Abs. 1 lit. a E-StGB muss die fragliche verunglückte Wendung ("für die Begehung einer solchen Straftat oder die Teilnahme daran") daher ersetzt werden durch: "für terroristische Zwecke".
Im Übrigen drängt sich eine gezielte Ausweitung von Art. 260quinquies StGB (Terrorismusfinanzierung) auf: Gemäss der langjährigen Praxis des Bundesgerichtes stellt diese Norm die Finanzierung von terroristischen Einzeltätern und (wenig strukturierten) terroristischen Kleingruppen unter Strafe (die Finanzierung von terroristischen Organisationen im engeren Sinne fällt unter Art. 260ter StGB). – Es ist schlechterdings nicht einzusehen, weshalb die bewusste und massive logistische Unterstützung von hochkriminellen Einzelterroristen (wie Breivik usw.) oder terroristischen Kleingruppen (z.B. NSU) ausschliesslich in der Form der finanziellen Unterstützung strafbar sein sollte.
6. Januar 2020 / © Prof. Dr. Marc Forster
Mo
02
Sep
2019
Sogenannte soziale Netzwerke (von Anbietern wie Facebook, Google, Instagram, Snapchat usw.), grosse Online-Handelsplattformen (z.B. Alibaba, Ebay, Amazon usw.), abgeleitete Internettelefonie (z.B. über Whatsapp), Mailing- (z.B. Gmail von Google oder Outlook von Microsoft), Chat-/Messaging-, (Peer-to-Peer-)Videokommunikations- (z.B. über Skype oder Whatsapp) oder Cloud-Dienste werden zunehmend auch von Kriminellen genutzt. Leider gehören dazu regelmässig auch hochgefährliche Terroristen, mafiöse Organisationen und andere international tätige und gut vernetzte Verbrecher.
Zwei neue Forschungsarbeiten der Universität St. Gallen zeigen die gesetzlichen Lücken auf bei der strafprozessualen Überwachbarkeit wichtiger moderner Kommunikationskanäle (vgl. Laura Dusanek, Probleme der strafprozessualen Überwachung abgeleiteter Internetdienste wie Facebook, Skype oder Whatsapp – Lösungen im neuen BÜPF? MA SG 2019; Katja Allenspach, Revision des Überwachungsrechts: Eine Übersicht der bedeutendsten Änderungen, MA SG 2019). Bisher fehlt es dem Bundesrat bedauerlicherweise am politischen Mut zur dringend gebotenen Regulierung von Schweizer Tochter- und Vertriebsgesellschaften der grossen ausländischen IT-Konzerne:
Die Antwort auf die Frage, welche Internetdienste strafprozessual überwacht werden können (z.B. Telefonabhörung, Internet-Teilnehmerüberwachung usw.), ist komplex und ständigem technischem Wandel unterworfen. Sie hängt insbesondere vom verwendeten Dienst, von der Art der Verschlüsselung und vom verwendeten Kommunikationsgerät bzw. Internetzugang ab. Selbst die grossen ausländischen Internetdienste und Social Media (soweit sie überhaupt eine gesetzliche Mitwirkungspflicht bei schweizerischen Überwachungen nach dem BÜPF haben) sind teilweise technisch gar nicht in der Lage, auf "End-to-End"-verschlüsselte Kommunikationsinhalte (Gesprächsverkehr) ihres Dienstes zuzugreifen bzw. unverschlüsselte Daten zu liefern. Die gesetzlich stark regulierten Schweizer Internet-Zugangsprovider (wie Swisscom, Sunrise, Salt usw.) haben nur Zugriff auf die Registrierungs- und Identifikationsdaten bereits bekannter Anschlüsse sowie auf die "IP-Histories" (IP-Adressverläufe) von bestimmten Internetaktivitäten. Auch die Beschlagnahme unverschlüsselter (bereits "abgerufener") Kommunikationsinhalte auf Empfangsgeräten (Smartphones usw.) ist nur möglich, falls die Strafbehörden direkten Zugriff auf ein solche Geräte haben. Der höchstens subsidiär in Frage kommende Einsatz von GovWare (behördliche Software zur heimlichen Kommunikationsüberwachung) bildet ebenfalls kein Allheilmittel: Diese seit 1. März 2018 im Gesetz vorgesehene Überwachungsart ist sehr aufwändig und teuer; ausserdem setzt sie günstige Zugriffskonstellationen voraus (physischer Zugriff auf das Zielgerät oder heimliches Aufladen der GovWare per Internet, z.B. mittels präparierter E-Mail oder WLAN).
– Können Schwerkriminelle also in der Schweiz ungestört und ohne Überwachung über Internet kommunizieren und Verbrechen planen? Die beunruhigende Antwort lautet: in weiten Bereichen leider ja.
Die Problematik ist eine doppelte: Nicht nur fehlt es an einer klaren gesetzlichen Grundlage zum Durchgriff auf ausländische Datenverwalter grosser IT-Konzerne, Social Media und Online-Handelsplattformen, etwa über deren schweizerische Vertriebs- und Marketingfilialen. Hinzu kommt noch die technische Schwierigkeit, dass es bei verschlüsselten mobilen Internetdiensten (und damit im zentralen Bereich) weder für die schweizerische Strafbehörde, noch den technischen Dienst ÜPF, noch für den Schweizer Internet-Zugangsprovider ohne weiteres möglich ist, ohne Zutun des ausländischen Internetdienstes (oder aufwändige technische Zusatzvorkehren) auf die notwendigen verschlüsselten Kommunikationsdaten zu greifen.
Die Internet-Zugangsprovider sind zwar verpflichtet, die "IP-Histories" ihrer Kunden herauszugeben und entsprechende Auskünfte zur Identifizierung ihrer registrierten Internetkunden zu geben (Art. 22 BÜPF, Art. 14 aBÜPF). Auf verschlüsselte Chatverläufe und registrierte Benutzerdaten von Internetdiensten wie Facebook, Whatsapp, Google, Instagram, Snapchat, Skype usw. haben sie jedoch regelmässig keinen direkten Zugriff. Das neue BÜPF sieht daher eine Duldung möglicher Überwachungen durch alle – in der Schweiz ansässigen – "abgeleiteten Internetdienste" vor sowie eine Herausgabepflicht betreffend bei ihnen vorhandene Rand- und Identifikationsdaten (Art. 27 Abs. 1 und Art. 22 Abs. 1 und 3 BÜPF). Bei Schweizer Internetkommunikations-Anbietern, die Dienstleistungen von grosser wirtschaftlicher Bedeutung oder für eine grosse Benutzerschaft anbieten, bestimmt das Gesetz sogar noch, dass der Bundesrat inhaltliche Überwachungen (mit Verpflichtung zur Aufhebung eigener Verschlüsselungen der abgeleiteten Dienste) und Daten-Aufbewahrungspflichten vorsehen könne (Art. 27 Abs. 3 i.V.m. Art. 26 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 lit. c sowie Art. 22 Abs. 4 i.V.m. Abs. 2 BÜPF).
Der Bundesrat hat allerdings auf griffige gesetzliche Massnahmen, um die wichtigsten Provider mit Sitz bzw. Datenverwaltung im Ausland nach dem sogenannten Zugriffsprinzip zur Mitwirkung zu verpflichten, bisher bewusst verzichtet. Insbesondere will er keine Bestimmung einführen, wonach solche Dienstanbieter, die in der Schweiz regelmässig mit eigenen Niederlassungen Marketing betreiben, hier auch die Rand- und Identifikationsdaten der Schweizer Kunden verwalten (oder zumindest faktischen Zugriff auf die Daten haben) müssten. Nicht einmal Töchter von ausländischen IT-Giganten, welche bereits in der Schweiz ansässig sind und hier fleissig Schweizer Kundinnen und Kunden anwerben bzw. Marketing betreiben, möchte der Bundesrat in die Pflicht nehmen. Diese sind bisher nicht gesetzlich verpflichtet, sich über ihre Konzernmutter die Zugangsberechtigung für die Daten ihrer Schweizer Kundschaft zu beschaffen.
Nach bisheriger Ansicht des Bundesrates bestehe "kein Anlass dazu, dass Anbieterinnen, bloss weil sie abgeleitete Dienste bereitstellen, den gleichen Anforderungen wie die klassischen Fernmeldedienstanbieterinnen unterliegen" sollten. Anderslautende Schweizer Regelungen könnten "mangels Zuständigkeit gar nicht durchgesetzt werden". − Diese Argumentation überzeugt nicht. Geradezu verniedlichend und naiv wirkt die Ansicht des Bundesrates, marktbeherrschende Gosskonzerne wie Facebook oder Google würden "bloss" abgeleitete Dienste bereitstellen. Wenn ein ständig zunehmender Grossteil der Kommunikation über Produkte und Dienstleistungen dieser Konzerne läuft (z.B. Whatsapp, FB- und Instagram-Messenger, Google-Mails und -Chats oder Internettelefonie), darunter leider auch sehr viel anonyme Kommunikation mit kriminellem Hintergrund, dann drängt es sich im Gegenteil geradezu auf, diese Dienstleistungen einzubeziehen und wenigstens jene Daten (insbes. Daten, welche eine Identifizierung der Nutzer ermöglichen) zu beanspruchen, welche die Provider selber sammeln und verwalten. Der Schweizer Gesetzgeber ist auch durchaus dafür "zuständig", die Regeln zu bestimmen, nach denen Filialen von ausländischen Grossanbietern in der Schweiz Geschäfte betreiben und bewerben. In neueren Stellungnahmen des Bundesrates wird denn auch immerhin eingeräumt, dass grosse IT-Konzerne wirtschaftlich und technisch betrachtet die Funktion eigentlicher Fernmeldedienstleister innehaben. Eine förmliche Einstufung von grossen ausländischen Internetdiensten als "Fernmeldedienste" (im Sinne des BÜPF) durch den Dienst ÜPF (per "Merkblatt") löst den Konflikt mit dem völkerrechtlichen Territorialitätsprinzip aber in der Praxis nicht und ist auch rechtsstaatlich fragwürdig.
Nach den Ergebnissen der beiden (unabhängig voneinander erstellten) St.Galler Forschungsarbeiten hat die Revision des BÜPF an der bisherigen Rechtslage für grosse IT-Konzerne mit Datenspeicherung im Ausland grundsätzlich nichts geändert: Zwar ergibt sich eine gesetzliche Mitwirkungspflicht, wenn der Konzern "Dienste für sich in der Schweiz befindliche Personen" erbringt oder "sich gezielt an Personen in der Schweiz adressiert". Mitwirkungspflichtig sind jedoch nur jene Internetdienste, die einen Sitz oder eine Niederlassung in der Schweiz haben, welche die faktische oder rechtliche Kontrolle über die Daten ausüben. Faktische und rechtliche Kontrolle haben die jeweiligen Datenverwalter (z.B. FB Irland) bzw. die Konzernzentrale (z.B. FB USA). Für andere Tochterfirmen ausländischer IT-Giganten, also insbesondere reine Marketing- und Vertriebsfilialen in der Schweiz, gilt weiterhin die folgende Rechtslage:
Die Internationale Konvention zur Bekämpfung der Cyber-Kriminalität (CCC) orientiert sich noch stark am Territorialitätsprinzip. Dieses ist verhaftet im Nationalstaatendenken des 19. und 20. Jahrhunderts, welches noch von kontrollierbaren Staatsgrenzen mit bunt gestrichtenen "Schlagbäumen" und davor anhaltenden Postkutschen ausgeht. Eine solche internationalstrafrechtliche Sicht ist spätestens in Zeiten der grenzübergreifenden IT-Kriminalität schon fast rührend und hoffnunglos veraltet. Aufgrund des Territorialitätsprinzipes dürfen selbst die CCC-Signatarstaaten (z.B. die Schweiz) in den jeweiligen Partnerstaaten (z.B. den USA) keine direkten Datenerhebungen (auf nicht öffentlich zugänglichen Datenbanken) vornehmen. Einzelne regulatorische "Paradiese" für IT-Grosskonzerne wie Irland haben nicht einmal die (eher zahnlose) CCC ratifiziert. Wenn die Schweizer Strafbehörden ein Verbrechen aufdecken wollen, z.B. Terrorismus, Mord oder Kinderpornographie, welches mithilfe des Internets begangen oder vorbereitet wurde, müssen sie (gestützt auf die CCC) zunächst versuchen, die Schweizer Kundinnen und Kunden des betroffenen Internetdienstes (die allenfalls in den Kreis von Verdächtigen fallen könnten) um Zustimmung zur Datenerhebung (nach Art. 32 lit. b CCC) zu bewegen. Falls die Zustimmung (aus welchen Motiven auch immer) nicht erfolgt, kann noch versucht werden, die ausländische Datenverwaltung um Zustimmung zu bitten. Aus "Geheimnisschutz"- bzw. nahe liegenden Marketinggründen sind diese an einer freiwilligen Zusammenarbeit aber (verständlicherweise) meistens wenig interessiert.
Zwar wäre eine vom betroffenen Staat bewilligte grenzüberschreitende Datenerhebung mit dem Völkerrecht ("Territorialitätsprinzip") bzw. dem internationalen Strafrecht vereinbar. Eine solche Lösung setzt aber selbst nach der CCC auch noch eine Zustimmung der direkt betroffenen Kunden oder der ausländischen Datenverwaltung des betroffenen IT-Konzerns voraus. Falls eine solche freiwillige Datenherausgabe verweigert wird, bleibt der Strafbehörde nur noch der sehr langwierige und komplizierte Rechtshilfeweg.
Auch hier ergeben sich regelmässig Probleme. Selbst wenn Rechtshilfe geleistet wird, kommt sie oft zu spät, zumal die Daten-Aufbewahrungsvorschriften im Ausland oft lasch sind und die Verfahren oft viele Monate bzw. Jahre dauern. Bei Delikten wie z.B. Rassismus kommt noch dazu, dass ausländische Gerichte (insbesondere US-amerikanische oder irische Gerichte) die internationale Zusammenarbeit leider sogar in beunruhigendem Ausmass verweigern. Das kontinentaleuropäische Rechtsdenken bemüht sich um einen Ausgleich zwischen dem hochwertigen Grundrecht der Meinungsäusserungsfreiheit einerseits und dem notwendigen Schutz der betroffenen Menschen vor rassistischer und ehrverletzender Hetze und Verleumdung. Aus dieser Sicht trägt eine Verabsolutierung des "Freedom of (Hate) Speech" im angloamerikanischen und teilweise auch im skandinavischen Rechtskreis (Schweden hat die CCC ebenfalls noch nicht ratifiziert) Züge eines befremdlichen Grundrechtsfetischismus.
Einerseits darf ein Staat nicht einfach Zwangsmassnahmen auf ausländischem Hoheitsgebiet ergreifen. Anderseits muss er auf seinem Territorium sein Strafrecht durchsetzen können, auch gegenüber Personen und Gesellschaften, die im Inland wirtschaftlich tätig sind. Eine moderne Interpretation des Territorialitätsprinzips im Zeitalter des Cyberspace sollte daher an der faktischen wirtschaftlichen Betätigung ausländischer IT-Konzerne anknüpfen und damit einen gesetzlichen Zugriff auf dessen inländische Marketing- und Vertriebsfilialen zulassen.
Wie in den beiden St.Galler Forschungsarbeiten aufgezeigt wird, neigt auch die Praxis des Bundesgerichtes einem entsprechenden internationalstrafrechtlichen Zugriffsprinzip zu. Dem schweizerischen Gesetzgeber kann es nicht verwehrt sein, in der Schweiz domizilierte Vertriebs- und Marketingfilialen von ausländischen Diensten anzuweisen, sich die für eine ausreichende Mitwirkung (namentlich Nutzer-Identifizierung) benötigten Daten von ihrer Konzernzentrale oder von den ausländischen Datenverwaltern zu beschaffen. Dies müsste im BÜPF allerdings klar so geregelt werden. Dass ein angemessenes regulatorisches Vorgehen im Interesse der Rechtsstaatlichkeit und Verbrechensaufklärung durchaus möglich ist (solange die CCC noch keine Lösungen bringt), hat zum Beispiel Belgien bewiesen.
– Was müsste der schweizerische Gesetzgeber also tun, damit die Verfolgung von schweren Verbrechen wie Terrorismus, Drogenhandel oder Kinderpornographie nicht an der "Zustimmung" von Internet-Usern und ausländischen IT-Konzernen scheitert? Etwas mehr politischer Mut wäre gefragt. Die Vertriebs- und Marketinggesellschaften von ausländischen IT-Konzernen mit Sitz in der Schweiz müssten gesetzlich verpflichtet werden, sich den Datenzugang für ihre Schweizer Kunden (und die Berechtigung dazu) bei ihren ausländischen Muttergesellschaften zu beschaffen. – Sollte das bereits zu viel verlangt sein? Wird die internationalstrafrechtliche "Postkutsche" noch lange am Schlagbaum des veralteten Nationalstaatsdenkens angehalten?
2. September 2019 / © Prof. Dr. Marc Forster
Do
08
Nov
2018
Eine kürzlich an der Universität St. Gallen (Law School) erschienene Forschungsarbeit analysiert die Implikation von Schweizer Banken und Finanzintermediären, darunter Anwälten, in die Off-Shore-Aktivitäten der panamesischen Anwaltskanzlei Mossack Fonseca (Mossfon) im Lichte der sogenannten "Panama Papers". Konkret ging es insbesondere um die Gründung von zahlreichen "Briefkastenfirmen" bzw. nicht operativen Sitzfirmen sowie um treuhänderisch (bzw. über "Strohmänner") eröffnete und verwaltete Konten, Stiftungen und Gesellschaften ohne Deklaration der jeweils wirtschaftlich Berechtigten. Für die Vermittlung von (wirtschaftlich berechtigten) verdeckten Endkunden arbeitete Mossfon mit mehr als 14'000 "Intermediären" zusammen, darunter vielen Anwälten und Vermögensverwaltern, die zum grössten Teil aus Hongkong, Grossbritannien, der Schweiz und den USA stammten (vgl. Zoran Culjak, "Panama Papers" - Strafrechtliche und strafprozessuale Fragen mit besonderem Augenmerk auf die Grenzen des schweizerischen Anwaltsgeheimnisses, Masterarbeit Universität St.Gallen 2018, S. 4-11, zit. Untersuchung Panama Papers).
Die St. Galler Untersuchung erhellt Mossfons Verwicklungen in zahlreiche internationale Finanzskandale mit diversen "Politically Exposed Persons" (PEP), etwa beim dubiosen Firmennetzwerk von Cristina und Nestor Kirchner (Argentinien/USA-Nevada), bei den verdächtigen Eisenerz-Deals von Beny Steinmetz mit dem guineischen Diktator Lansana Conté (Guinea/Brasilien/Israel), bei der Beteiligung des zurückgetretenen isländischen Premierministers Sigmundur Gunnlaugsson an einer Gesellschaft auf den British Virgin Islands, bei den Korruptionsskandalen betreffend Petrobras und weitere beteiligte Firmen und Politiker (Brasilien), beim Korruptionsskandal um den ehemaligen pakistanischen Premierminister Nawaz Sharif (dubiose Immobiliengeschäfte in Grossbritannien), oder bei den Beteiligungen eines engen Freundes des russischen Präsidenten Vladimir Putin (nämlich des Musikers Sergej Roldugin) an Offshore-Gesellschaften, über die (gemäss den "Panama Papers" und darauf gestützen Medienberichten) hunderte Mio. USD aus Russland weggeschafft worden seien. Weitere Endkunden von Mossfon waren z.B. in Schmiergeldskandale verwickelte ehemalige Siemens-Manager, der ehemalige deutsche Geheimagent Werner Mauss, Angehörige des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, Angehörige von hohen Funktionären der chinesischen KP oder der ehemalige britische Ministerpräsident David Cameron (vgl. Untersuchung Panama Papers, S. 15).
Zu den Banken, die besonders intensiv mit Mossfon kooperierten, gehörten namentlich eine luxemburgische, zwei Schweizer Privatbanken, zwei Schweizer Grossbanken, zwei britische Finanzinstitute sowie eine französische und eine isländische Bank. Auffällig häufig betroffen waren Zweigniederlassungen diverser Banken in Luxemburg und auf den British Channel Islands. Sehr intensive und qualifizierte Kontakte zu Mossfon unterhielt namentlich auch die Deutsche Bank (vgl. S. 11 f.).
Laut Untersuchung war ein Schweizer Bürger als umtriebiger Juniorpartner bei Mossfon tätig. Nach Angaben der Eidgenössischen Steuerverwaltung können sodann rund 450 Endkunden (Personen und Gesellschaften) mit Sitz in der Schweiz mit den "Panama Papers" in Verbindung gebracht werden. Darunter finden sich mehrere hohe Funktionäre der FIFA (privatrechtlicher Verein mit Sitz in Zürich), etwa der aktuelle FIFA-Präsident Gianni Infantino (vgl. Untersuchung Panama Papers, S. 15 f.). Diverse Schweizer Finanzinstitute waren nicht nur in grossem Stil als Vermittler tätig, sondern führten teilweise auch direkt Bankkonten für verdeckte Mossfon-Endkunden (vgl. S. 15-18). Auch einige Schweizer Anwälte (insbesondere aus Genf und Zürich) tauchen in den "Panama Papers" als Vermittler und Verwalter von Offshore-Vehikeln auf oder als einschlägige Berater und Rechtsgeschäftsplaner (etwa bei Gründungen von Sitzgesellschaften).
Gemäss einer Stellungnahme der Meldestelle des Bundes für Geldwäschereiverdachtsfälle (MROS) haben seit den Medienberichten über die "Panama Papers" die Geldwäscherei-Verdachtsmeldungen stark zugenommen. Die Eidgenössische Finanzmarktausicht (FINMA) hat sodann bankenrechtliche Aufsichtsmassnahmen getroffen, indem sie bei ca. 20 Schweizer Banken vertiefte Abklärungen anordnete. Gegen die Gazprombank (Schweiz) hat sie wegen schweren Verstössen gegen das GwG (besonders im PEP-Fall Roldugin) sogar aufsichtsrechtliche Zwangsmassnahmen ergriffen (vgl. Untersuchung Panama Papers, S. 16-18).
Im Bereich der Vermittlung und besonders der Verwaltung von Offshore-Konstrukten deutet sich gemäss der St. Galler Untersuchung (gestützt auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtes und die neuere Literatur) eine deutliche Tendenz ab, den Schutz des Anwaltsgeheimnisses zu verneinen (besonders bei reinen "Briefkastenfirmen" und treuhänderischer Organtätigkeit) oder zumindest deutlich zu begrenzen. Die Rechtslage muss hier allerdings ‒ mangels klarer gesetzlicher Regelungen ‒ als vage und unübersichtlich bezeichnet werden, weshalb sich eine anwaltliche Tätigkeit mit Geheimnisprivileganspruch in diesen Bereichen zunehmend als heikle Gratwanderung erweist:
Gesellschaftsgründungen und andere Dienstleistungen, die sich auf die blosse standardisierte Erledigung von Formalitäten für "Briefkastenfirmen" und Scheinverwaltungen beschränken, fallen nicht unter den Schutz des Anwaltsgeheimnisses (vgl. Untersuchung Panama Papers, S. 38 f.). Auch bei Global- und Mischmandaten mit gewissen rechtsberatenden oder rechtsgeschäftlichen Elementen (z.B. Gesellschaftsgründung) einerseits und deutlichen Elementen der Vermögensverwaltung, Gesellschafts-Organtätigkeit, Vermögens- und Steuerberatung, Finanzproduktvermittlung oder Banken-Compliance anderseits, besteht eine hochproblematische Rechtsunsicherheit, die nach gesetzgeberischen Klärungen ruft (vgl. S. 47).
Bei der besonders folgenschweren Frage, welche anwaltlichen Tätigkeiten dem Geldwäschereigesetz (GwG) unterstehen und zu entsprechenden strafbewehrten Sorgfalts- und Meldepflichten führen, erweist sich die Rechtslage als nicht viel klarer: De lege lata gelten die anwaltliche Vermittlung, Gründung und Verwaltung von Offshore-Konstrukten zwar (per se) noch nicht als finanzintermediäre Tätigkeiten. Grosse Vorsicht ist jedoch geboten, wenn das "Startkapital" für die Gründung einer entsprechenden Sitzgesellschaft oder Stiftung über ein Konto des beteiligten Anwalts transferiert wird oder wenn dieser (nach dem Gründungsakt) die Gesellschaftsanteile in Form von Effekten (z.B. Aktien) über längere Zeit selber aufbewahrt. Als Finanzintermediäre gelten grundsätzlich auch Anwälte, die als Organe einer Offshore-Sitzgesellschaft bzw. eines Trusts (ohne eigentliche "kaufmännische" operative Wirtschaftstätigkeit) deren Vermögen bloss treuhänderisch (d.h. nach den Anweisungen des wirtschaftlich Berechtigten) verwalten bzw. ihren Zahlungsverkehr treuhänderisch organisieren. Dies kann im Einzelfall auch auf Immobiliengesellschaften zutreffen (vgl. Untersuchung Panama Papers, S. 42-45).
De lege ferenda dürfte (nicht zuletzt aufgrund der GAFI-Empfehlungen im die Schweiz betreffenden vierten Länderbericht von 2016) mittelfristig jede Mitwirkung von Anwälten bei der Errichtung oder Verwaltung von Offshore-Vehikeln als GwG-relevant eingestuft werden, insbesondere auch die ("rechtsgeschäftliche" und "rechtsberatende") Gründung von Offshore-Sitzgesellschaften.
Auch hier drängen sich gesetzgeberische Klärungen auf, zumal sich alle Anwälte, die in der finanzintermediären "Grauzone" tätig sind, einem schweren Dilemma von beruflichen Rechtspflichten aussetzen: Wenn sie Verdachtsgründe für Geldwäscherei nicht an die MROS melden, droht ihnen eine Strafverfolgung nach Art. 37 i.V.m. Art. 9 GwG (oder gar wegen Beihilfe zur Geldwäscherei). Wenn sie hingegen den Verdacht melden, droht ihnen Strafe wegen einer möglichen Verletzung ihres Berufsgeheimnisses (Art. 321 StGB) (vgl. Untersuchung Panama Papers, S. 45-47).
Umso mehr erstaunt es, dass einzelne Schweizer Anwälte offenbar weiterhin in der genannten "Grauzone" der Legalität als Offshore-"Intermediäre" tätig sind: Ende Juni 2018 (nach Abschluss der St. Galler Untersuchung und mehr als zwei Jahre nach Publikation der Panama Papers) sind weitere 1,2 Millionen E-Mails, Verträge und Firmendokumente von Mossfon aufgetaucht (sog. "Panama Papers 2"). Gemäss den dokumentierten Berichten eines international vernetzten Kollektivs investigativer Journalisten (ICIJ) ergebe sich daraus, dass einige Schweizer Anwälte, Vermögensverwalter und Treuhänder (insbesondere aus dem Kanton Genf), die schon über Mossfon zahlreiche Offshore-Vehikel betreuten, unterdessen mit einer anderen "einschlägigen" panamesischen Kanzlei im bisherigen Stil weiter ihre Geschäfte tätigen. Man darf darauf gespannt sein, ob und wie Politik, Strafbehörden und Berufsverbände auf entsprechende Informationen reagieren werden.
8. November 2018 / © Prof. Dr. Marc Forster
2. Nachtrag vom 10. September 2020:
Die Politik ist unterdessen wieder eingeknickt: Zwei im Parlament vertretenen Genfer Anwälten ist es (Anfang September 2020) gelungen, den Nationalrat zum Nichteintreten auf die "Lex Panama" zu bewegen (mit 107:89 Stimmen). Damit drohen dem Schweizer Dienstleistungs- und Finanzplatz und der überwältigenden Mehrheit der seriös arbeitenden Anwältinnen und Anwälte erhebliche Reputationsschäden, bloss weil ein paar "schwarze Schafe" unter ihnen weiter ungestört hochdubiose Offshore-Vehikel betreiben möchten. Die Schweizer Politik erweist sich als vergesslich und wenig lernfähig: Sie verhält sich wie vor 15 Jahren nach Ausbruch des Fiskalstreites USA-Schweiz, der bekanntlich zur Abschaffung des Bankgeheimnisses (im Fiskalverkehr mit dem Ausland) geführt hat. Politische und wirtschaftliche Selbstdemontage auf Druck von Partikulärinteressen (mit aggressiver Lobby) scheint eine typisch schweizerische Spezialität zu sein. Anders gesagt: Bei uns bestimmen die Böcke über die Gartenpflege.
1. Nachtrag vom 1. November 2019:
Die Politik hatte zunächst reagiert: Am 26. Juni 2019 verabschiedete der Bundesrat eine Botschaft (samt Entwurf) zur Änderung des GwG (BBl 2019 5451, sog. "Lex Panama"). Danach würden künftig auch für Anwälte gesetzliche Sorgfaltspflichten gelten, wenn sie als sogenannte "Beraterinnen" und "Berater" Dienstleistungen erbringen im Zusammenhang mit der Gründung, Führung oder Verwaltung von Sitzgesellschaften und Trusts. Sie wären sogar (neu) unter die geldwäschereigesetzliche Meldepflicht gefallen, wenn sie in einer (nicht berufstypischen) Geschäftstätigkeit als "Berater" Finanztransaktionen ausführen (vgl. Art. 2 Abs. 1 lit. c, Art. 8b und 8c, Art. 9 Abs. 1ter, 1quater und Abs. 2, Art. 9b Abs. 3, Art. 10a Abs. 5, Art. 11a Abs. 1-3, Art. 15, Art. 23 Abs. 5, Art. 30 Abs. 2 lit. a, Art. 32 Abs. 3, Art. 34 Abs. 1-2 und Art. 38 E-GwG; BBl 2019 5555-5565).
Fr
16
Mär
2018
Seit einigen Wochen berichten die Medien intensiv über das Mehrfach-Tötungsdelikt in Rupperswil, dem am 21. Dezember 2015 eine
Mutter, ihre beiden (13 bzw. 19 Jahre alten) Söhne und eine (21-jährige) junge Frau (Freundin des 19-Jährigen) zum Opfer fielen. Heute hat das Bezirksgericht Lenzburg das erstinstanzliche
Strafurteil gefällt: Es sprach den Beschuldigten Thomas N. schuldig des mehrfachen Mordes, der räuberischen Erpressung, der Geiselnahme, sexueller Handlungen mit
Kindern, der sexuellen Nötigung, strafbarer Vorbereitungshandlungen zu weiteren Morden sowie weiterer Delikte. Das Bezirksgericht verurteilte ihn zu einer
lebenslänglichen Freiheitsstrafe. Zudem erhält er eine ambulante Psychotherapie und wird er ordentlich verwahrt.
Angesichts der laut Bezirksgericht und Anklageschrift erdrückenden Beweislage gegen den beschuldigten Thomas N. (DNA-Spuren, Fingerabdrücke,
Geständnis usw.) geht allzu leicht vergessen, dass Polizei und Staatsanwaltschaft in den ersten Monaten nach der Bluttat noch völlig im
Dunkeln tappten und die Überführung mittels DNA-Spurenabgleich erst möglich wurde, nachdem die Ermittler Thomas N. als Verdächtigen hatten
identifizieren können. Die erfolgreiche Identifizierung des Beschuldigten (und damit das gesamte nachfolgende Beweisfundament) war aber wiederum erst aufgrund
einer digitalen "Rasterfahndung" mittels sogenannten "Antennensuchlaufs" zustande gekommen:
Bei der Rasterfahndung per Antennensuchlauf werden Verbindungs-Randdaten des mobilen Fernmeldeverkehrs von zunächst unbestimmt vielen (möglicherweise sehr vielen) Teilnehmern erfasst und (vorerst anonymisiert) abgeglichen, um aus den Randdaten der Mobilfunkantennen an den jeweiligen Tatorten und weiteren Ermittlungsergebnissen möglichst eine Schnittmenge von konkret verdächtigen Gerätebenutzern zu ermitteln (vgl. dazu Marc Forster, Antennensuchlauf und rückwirkende Randdatenerhebung bei Dritten, Bundesgerichtspraxis und gesetzliche Lücken betreffend Art. 273 und Art. 270 lit. b StPO, in: Jositsch/Schwarzenegger/Wohlers, Festschrift für Andreas Donatsch, Zürich 2017, S. 357 ff., 359 f.).
Im Fall Rupperswil war zunächst ermittelt worden, welche mobilen Fernmeldeanschlüsse in der Nähe des Tatortes im Tatzeitraum aktiv waren. Im Januar 2016 erhielt die Aargauer Kriminalpolizei die anonymisierten digitalen Rohdaten dieses Antennensuchlaufs. Es handelte sich zunächst um Zehntausende von Verbindungs-Randdaten bzw. registrierten Fernmelde-Aktivitäten sehr vieler mobiler Geräte. Aufgrund der Fachmeinung eines "Profilers" und weiteren Indizien ging die Polizei davon aus, dass die Täterschaft vermutlich selber in Rupperswil (oder naher Umgebung) wohnte. Um einen "Schnittmengen-Raster" herauszufiltern, wurde mit grossem Aufwand abgeklärt, welche der zahlreichen mobilen Geräte, die am Tatort und im Tatzeitraum aktiv waren, auch noch an anderen Antennenstandorten in Rupperswil regelmässig, d.h. über Monate hinweg, in Betrieb waren. Das waren dann nur noch wenige Geräte. In der Tat wohnte Thomas N. nur ca. 500 Meter vom Tatort entfernt. Und glücklicherweise war die Antennendichte in Rupperswil relativ hoch, so dass über die Antennen am Tatort und am Wohnort von Thomas N. eine Schnittmenge gebildet werden konnte (vgl. Forster, Antennensuchlauf, S. 358 f.).
Es besteht Grund zur Annahme, dass dieser Antennensuchlauf im Fall von Thomas N. weitere Opfer verhindert und einige Menschenleben gerettet hat:
Gemäss der 28 Seiten umfassenden Anklageschrift der Aargauer Staatsanwaltschaft habe der Beschuldigte sich schon bei der Bluttat vom 21. Dezember 2015 Zutritt zur Wohnung der Opfer verschafft, indem er sich mit einer gefälschten Visitenkarte als "Schulpsychologe Dr. Sebastian Meier" ausgegeben und ein weiteres gefälschtes Dokument (von ihm selbst verfasster vorgeblicher Brief einer Schulbehörde aus dem Kanton Aargau) vorgelegt habe. Bereits unmittelbar nach dem schweren sexuellen Missbrauch an einem der gefesselten Opfer, dem 13-jährigen Knaben, und nach der Tötung aller vier Opfer (per Kehlschnitt mit einem Messer) habe der pädosexuell veranlagte Thomas N. analoge Verbrechen an mindestens zwei weiteren Familien geplant und akribisch vorbereitet:
So habe der Beschuldigte nach dem gleichen Muster neue Briefe angefertigt, die vorgeblich von einer Schulbehörde
aus dem Kanton Solothurn bzw. einer Schulleiterin stammten. Am 27. Dezember 2015, sechs Tage nach der Bluttat, habe er im Internet nach einer Familie im Kanton Bern
recherchiert. In einem speziell angelegten Notizbuch habe er eigentliche "Fichen" angelegt über insgesamt
elf weitere Knaben, alle im Alter von ca. 11-14 Jahren. Darin habe er Photos der Knaben gesammelt und minutiös mit weiteren Informationen wie
Namen und Wohnorte ergänzt. Am 12. und 14. Januar 2016 habe er die von ihm ausspionierte Berner Familie auf deren
Festnetz-Telefonanschluss angerufen. Gemäss Anklage habe Thomas N. geplant, an dieser Familie (nach dem Muster von "Rupperswil") analoge Verbrechen zu begehen.
Damals tappte die Polizei hinsichtlich der Täterschaft noch vollständig im Dunkeln.
Ebenfalls Verbrechen nach dem gleichen Muster habe der Beschuldigte an einer weiteren Familie aus dem Kanton
Solothurn geplant und vorbereitet. Auch diese Familie habe er im Januar 2016 telefonisch angerufen (sich dabei aber am Apparat nicht gemeldet). Am 26. Januar 2016 habe er sich in das Wohnquartier der Familie begeben,
um deren Tagesablauf auszuspionieren. Damals befand sich die Polizei (gemäss ihren eigenen Medienmitteilungen) erst im Besitz von zehntausenden digitalen Rohdaten des Antennensuchlaufs. Die Identifikation eines Verdächtigen mittels der
technisch sehr aufwändigen hängigen Rasterauswertung war noch nicht erfolgt.
Am 11. Mai 2016 (unterdessen war er als Verdächtiger identifiziert) sei der Beschuldigte erneut in das Wohnquartier der Solothurner Familie gefahren. Wie bei der Bluttat von Rupperswil habe er im selben schwarzen Rucksack, den er schon damals verwendet habe, erneut die gefälschte Visitenkarte als "Schulpsychologe" bei sich getragen sowie ein gefälschtes Schreiben der Solothurner Schulbehörden. Ebenso habe er weitere Verbrechenswerkzeuge (vorbereitete Fesseln usw.) mitgeführt. Die Blutspuren seiner Opfer von Rupperswil am Rucksack habe er mit einem schwarzen Stift übermalt. Laut Anklageschrift habe er am 11. Mai 2016 von der Ausführung der geplanten und vorbereiteten neuen Verbrechen abgesehen. Am 12. Mai 2016 sei er verhaftet worden. Zu diesem Zeitpunkt habe sein Notizbuch die Namen von elf Knaben im Alter von 11-14 Jahren enthalten (vgl. dazu, mit Hinweisen auf die Anklageschrift, auch Neue Zürcher Zeitung vom 13. März 2018 S. 13; NZZ online vom 12. März 2018: "Ein zweites 'Rupperswil' konnte nur knapp verhindert werden").
Ohne Antennensuchlauf wäre Thomas N. vielleicht bis heute nicht identifiziert und gefasst worden.
Mit erheblicher Wahrscheinlichkeit wären aber -- zumindest laut Anklageschrift und erstinstanzlichem Strafurteil -- weitere Schwerverbrechen erfolgt, die Thomas
N. bereits akribisch vorbereitet habe: Am Tag vor seiner Verhaftung sei der Beschuldigte
bereits -- im wahrsten Sinne des Wortes -- vor der Tür weiterer anvisierter Opfer gestanden. Das Bezirksgericht hat den Beschuldigten daher auch wegen
strafbaren Vorbereitungshandlungen zu weiteren Morden und anderen Verbrechen verurteilt.
Das Bundesgericht hatte am 3. November 2011 in seinem Leitentscheid BGE 137 IV 340 die Rasterfahndung per Antennensuchlauf als grundsätzlich rechtmässige Untersuchungsmethode anerkannt (zu den Kriterien der Zulässigkeit dieser qualifizierten Randdatenerhebung des digitalen Fernmeldeverkehrs vgl. Forster, Antennensuchlauf, S. 359 f.). Da der Antennensuchlauf als Untersuchungsmassnahme nicht spezifisch und ausführlich im Gesetz geregelt ist, wurde das Bundesgericht für diesen Leitentscheid (in der juristischen Lehre) teilweise scharf kritisiert.
Leider hat es der Gesetzgeber auch in der am 1. März 2018 in Kraft getretenen letzten Revision des BÜPF und der StPO versäumt, eine klare gesetzliche Grundlage für den Antennensuchlauf (als qualifizierte Randdatenerhebung des digitalen Fernmeldeverkehrs) zu schaffen. Darauf ist in der Fachliteratur bereits ausdrücklich hingewiesen worden (vgl. Forster, Antennensuchlauf, S. 360).
Auch der Vorentwurf des
Bundesrates zur hängigen Teilrevision der StPO sieht keine Regelung des Antennensuchlaufs vor. Wenigstens soll die einfache Standort- und
Verkehrsranddatenerhebung bei Dritten (insbesondere Opfern von Delikten) spezifisch geregelt werden (vgl. Erläuternder Bericht EJPD zum VE StPO vom Dezember 2017, S. 38
Ziff. 2.1.41; zu diesem Revisionsvorschlag vgl. auch Forster, Antennensuchlauf, S. 360-367).
Dies betrifft allerdings eine andere Problematik.
Fazit: Pragmatische Gerichtsentscheide sowie kluge Ermittlungsstrategien von Kriminalpolizei und Strafbehörden können Menschenleben retten. Dies zeigt der Fall Rupperswil anschaulich. Bedauerlich ist, wenn in der Strafrechtsdoktrin das Bundesgericht faktisch für das Fehlen klarer gesetzlicher Grundlagen für digitale Überwachungen verantwortlich gemacht wird und nicht der dafür zuständige Gesetzgeber.
16. März 2018 / © Prof. Dr. Marc Forster
Do
06
Apr
2017
Derzeit wird öffentlich diskutiert, ob ein Facebook-User, der ein ehrverletzendes oder rassistisches Posting eines anderen Users mittels eines «Like» (Klick auf das «Daumen rauf»-Symbol) unterstützt, sich strafbar machen kann.
Die Ansicht, eine Strafbarkeit für den Absender des «Like» falle schon deshalb ausser Betracht, weil sein Verhalten von der Meinungsäusserungsfreiheit geschützt sei, geht am Strafrecht vorbei. Rassistische oder ehrverletzende Äusserungen und ihre Teilnahme daran sind von Gesetzes wegen gerade nicht von der Meinungsäusserungsfreiheit geschützt, sondern grundsätzlich strafbar (Art. 24-25, Art. 173 ff., Art. 261bis StGB).
Auch das Argument, ein Facebook-«Like» könne «mehrdeutig» sein bzw. sei nicht zwangsläufig als moralische Unterstützung gemeint, hilft wenig: Die strafrechtliche Relevanz eines Verhaltens ist nach objektivierten Kriterien zu prüfen. Die Behauptung, ein durchschnittlicher Facebook-User wisse nicht, was der «Like»-Button (bzw. das «Daumen rauf»-Symbol) bedeutet, erscheint wirklichkeitsfremd. Im Einzelfall wird ein Beschuldigter jedenfalls überzeugend darlegen müssen, inwiefern gerade er hier einem strafrechtlich relevanten «Irrtum» unterlegen sei bzw. das strafbare Posting gar nicht habe unterstützen wollen.
Aus strafrechtsdogmatischer Hinsicht stellt sich hier eine ganz andere Frage, nämlich die nach der Abgrenzung zwischen (strafloser) blosser Billigung einer Straftat und (strafbarer) psychischer Beihilfe (Art. 25 StGB) bzw. selbständigen Beihilfetatbeständen (des BT StGB). Die diesbezüglichen Kriterien sind nach herrschender Lehre und Praxis folgende:
Der psychische Gehilfe bestärkt den Täter seelisch in seinem Tatentschluss und erleichtert diesem damit die Durchführung der Straftat. Subjektiv muss der Gehilfe wollen oder zumindest in Kauf nehmen, dass er mit seinem unterstützenden Beitrag den Täter in dessen Tatentschluss (bzw. Dauertatverhalten) bestärkt (vgl. dazu Basler Kommentar StGB-Forster, Art. 25 N. 3). Zudem muss sich der Tatbeitrag des Gehilfen objektiv kausal auf den Erfolg der Haupttat auswirken; bloss versuchte Beihilfe ist nicht strafbar (BSK, Art. 25 N. 52). Die Unterstützung muss tatsächlich zur Straftat beitragen, ihre praktischen Erfolgschancen erhöhen und sich in diesem Sinne als kausal erweisen (sog. «Förderungskausalität»; BSK, Art. 25 N. 8).
Der Haupttäter muss aus dem Tatbeitrag somit einen konkreten praktischen Nutzen psychischer oder physischer Art ziehen, ansonsten fehlt es an einer Förderung der Haupttat. Blosse Billigung der Tat wäre noch keine psychische Gehilfenschaft (BSK, Art. 25 N. 10). Ein Facebook-«Like» kann die Haupttat auf zweifache Weise befördern: Erstens ist er dazu geeignet, den Urheber des Postings (Haupttäter) in seinem Tatentschluss bzw. Dauertatverhalten (Online-Halten des Postings) zu bestärken. Zweitens können «Likes» zudem zur weiteren Verbreitung der strafbaren Ehrverletzung oder rassistischen Hetze beitragen, indem andere User ermuntert werden, das Posting zu lesen (und evtl. ihrerseits zu liken und weiterzuverbreiten).
Primär ist bei den einzelnen in Frage kommenden Straftatbeständen jeweils zu prüfen, ob (über die
akzessorische Teilnahme, Art. 24-25 StGB, hinaus) ein selbständiger (täterschaftlicher) Beihilfetatbestand unter Strafe steht und erfüllt ist:
Beim Rassismustatbestand (Art. 261bis StGB) ist etwa an die Förderung rassistischer Propagandaaktionen oder an die öffentliche
Verbreitung rassistischer Ideologien zu denken (Abs. 2 und 3), bei Ehrverletzungen
an die Weiterverbreitung von übler Nachrede (Art. 173 Ziff. 1 Abs. 2 StGB). Diese selbständigen Beihilfetatbestände gehen der akzessorischen
Beihilfe als «leges speciales» vor
(BSK, Art. 25 N.
65). Auch der Versuch ist strafbar (BSK, Art. 25 N.
53).
Daraus ergibt sich (in den Grundzügen) folgendes Ergebnis:
Zu prüfen ist zunächst, ob ein ehrverletzendes oder rassistisches Posting einen selbständigen Beihilfetatbestand des BT StGB erfüllt. Akzessorische psychische Gehilfenschaft kommt (subsidiär) in Frage, wenn derjenige, der den «Like»-Knopf anklickt, will oder in Kauf nimmt, dass der Täter dadurch in seinem Tatentschluss (bzw. Dauertatverhalten) bestärkt wird. Zudem muss der «Like» das Dauerdelikt (objektiv) gefördert haben, d.h., er muss die Wahrscheinlichkeit erhöht haben, dass das Posting des Haupttäters weiter online bleibt bzw. weitere Beachtung findet.
Prof. Dr. Marc Forster, 6. April 2017
Mi
19
Okt
2016
Nach der mehrmals bestätigten
Rechtsprechung des Bundesgerichtes haben Beschuldigte, nachdem sie ein erstes Mal getrennt zur Sache befragt worden sind, grundsätzlich einen Anspruch auf Teilnahme an der Einvernahme von Mitbeschuldigten oder von Zeugen (Grundsatz der Parteiöffentlichkeit von Beweiserhebungen, Art. 147 Abs. 1 StPO). Vorbehalten ist ein
Ausschluss von der Teilnahme wegen Rechtsmissbrauchs (Art. 108 Abs. 1 lit. a StPO), etwa wenn der Beschuldigte die Teilnahme
dazu missbrauchen will, Einfluss auf Zeugen oder Mitbeschuldigte zu nehmen (Kollusion/Verdunkelung). Kein Rechtsmissbrauch liegt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes (und nach den Gesetzesmaterialien zur StPO) vor,
wenn lediglich eine prozesstaktisch legitime Anpassung des Aussageverhaltens des Beschuldigten droht: Dass der Beschuldigte sein weiteres Aussageverhalten den Aussagen von Mitbeschuldigten oder Zeugen anpassen
könnte (nachdem er ein erstes mal getrennt befragt wurde), lässt sein Teilnahmerecht nicht dahinfallen. Die Parteien dürfen ihre Verfahrensdispositionen der Entwicklung der Beweiserhebungen
anpassen.
In seinem Aufsatz in forumpoenale
2016 (Nr. 5
S. 281 ff., 287) vertritt Ulrich
Weder die
Ansicht, die betreffende Rechtslage sei im Lichte des Haftgrundes der Kollusionsgefahr (Art. 221 Abs. 1 lit. b StPO) "widersprüchlich und geradezu absurd". In Fällen mit Mitbeschuldigten sei es
"vor allem
die Gefahr der Beeinflussung, der
Absprache und der Anpassung von
Aussagen,
mit der welcher die Kollusionsgefahr
regelmässig begründet" werde. Wenn sich der Beschuldigte wegen Kollusionsgefahr in Haft befinde, aber trotzdem an Beweiserhebungen teilnehmen dürfe, könne dem Haftgrund "nur noch ungenügend
Rechnung getragen" werden. Dies sei "zweifelsohne widersprüchlich und grotesk".
Diesen Ausführungen ist zu widersprechen. Sie fussen auf einer Fehlinterpretation des Haftgrundes der Kollusionsgefahr. Falsch ist namentlich die Behauptung, die Gefahr einer prozesstaktischen "Anpassung von Aussagen" begründe bereits
einen Haftgrund
im Sinne der StPO:
Gemäss Art. 221 Abs. 1 lit. b StPO kolludiert ein Beschuldigter wenn er "Personen beeinflusst oder auf Beweismittel einwirkt, um so die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen". Damit ist insbesondere
die Beeinflussung von Zeugen oder Mitbeschuldigten gemeint oder die Manipulation bzw. Unterdrückung von Beweisunterlagen. Demgegenüber stellt die blosse Gefahr, dass ein
Beschuldigter seine eigenen
Aussagen den ihm bekannten Beweisergebnisen prozesstaktisch anpassen könnte (etwa den Aussagen anderer Befragter) nicht im Entferntesten einen Haftgrund dar. (Es erschiene sogar fraglich, ob hier überhaupt von "Kollusion" im Sinne der StPO gesprochen
werden könnte; das Gesetz meint mit der Beeinflussung von "Personen" andere Personen als den Beschuldigten, und mit der "Einwirkung auf Beweismittel" primär bestehende Beweisgegenstände.) Anders zu entscheiden hiesse, dass
praktisch jeder
Beschuldigte ohne weiteres
inhaftiert werden könnte, da grundsätzlich immer die Gefahr einer Anpassung an Beweiserhebungen (darunter Beweisaussagen Dritter) bestünde. Aber selbst in jenen Fällen, bei denen eine Beeinflussung von
Aussagen Dritter droht, liegt nach ständiger Praxis des Bundesgerichtes (und einhelliger Lehre) nicht automatisch ein Haftgrund vor. Zu verlangen sind
vielmehr konkrete
Indizien für eine erfolgte oder drohende Einflussnahme (vgl. zu dieser ständigen Praxis des Bundesgerichtes z.B. BSK StPO-Forster, Art. 221 N. 6-7).
Bei Art. 147 Abs. 1 StPO steht denn auch gar nicht die Gefahr im Vordergrund, dass der Beschuldigte die Aussagen von Mitbeschuldigten oder Zeugen (im Sinne von Kollusion) beeinflussen könnte: Würde der Beschuldigte
dies anlässlich seiner Teilnahme an Einvernahmen versuchen, hätte der die Einvernahme leitende Staatsanwalt (oder die Staatsanwältin) zunächst die Möglichkeit (und die Verpflichtung), Kollusionsversuche des Beschuldigten schon
im Ansatz aktiv zu
unterbinden. Falls der Beschuldigte sein Teilnahmerecht dennoch für Kollusionsversuche (weiter) missbrauchen würde, könnte die Staatsanwaltschaft ihn nötigenfalls von der Einvernahme ausschliessen (Art. 108 Abs. 1 lit. a StPO). Bei Art. 147 Abs. 1 StPO besteht die
einschlägige Gefahr nicht darin, dass der Beschuldigte andere Aussagen und Beweismittel verfälscht oder beeinflusst, sondern dass er seine eigenen künftigen Aussagen an das Aussageverhalten der Mitbeschuldigten prozesstaktisch anpasst. Hier überhaupt von "Kollusion" zu reden, erscheint schon
strafprozess-dogmatisch fragwürdig. Krass falsch wäre jedenfalls die Gleichsetzung des Haftgrundes der Kollusionsgefahr mit der Problematik der prozesstaktischen Anpassung von Beweisaussagen.
Nach der Regelung der StPO führt die blosse Gefahr, dass ein Beschuldigter seine Aussagen denjenigen von Mitbeschuldigten anpassen könnte, weder zu einem Haftgrund, noch zu einem Ausschluss bei den Einvernahmen. Umgekehrt führt Untersuchungshaft wegen Kollusionsgefahr auch nicht automatisch zu einem Ausschluss des Inhaftierten von jeglichen Beweiserhebungen: Dass
ein Beschuldigter in einem ganz anderen
Zusammenhang wegen Kollusionsgefahr in Haft ist (z.B. wegen telefonischer Zeugenbeeinflussung oder Unterdrückung von Beweisurkunden), rechtfertigt es nicht, ihm das Parteirecht auf
Teilnahme an der Einvernahme von Mitbeschuldigten zu verweigern. Vorbehältlich einer rechtsmissbräuchlichen Inanspruchnahme stehen die Verteidigungsrechte gerade auch den inhaftierten Beschuldigten zu.
Im Ergebnis erscheint mir nicht das Teilnahmerecht von Mitbeschuldigten gemäss Art. 147 Abs. 1 StPO "widersprüchlich und absurd", sondern, wenn schon, eine kurzschlüssige Vermischung des
Haftgrundes der Kollusionsgefahr mit der Problematik der prozesstaktischen Anpassung von Beweisaussagen.
Prof. Dr. Marc Forster/19. Oktober 2016
Mi
06
Apr
2016
In Medienberichten zu den "Panama Papers" wird behauptet, Schweizer Anwälte und Treuhänder dürften selbst Personen, gegen die international strafrechtlich ermittelt
wird, "helfen, schmutzige Vermögen zu
verschieben und sich hinter Offshore-Vehikeln zu verstecken" (Tages-Anzeiger und Der Bund vom 6. April 2016, als "Fazit" je auf S. 3, s.a. online). Dies, weil nur Finanzintermediäre dem GwG
unterstellt seien. Dieser Ansicht ist aus strafrechtlicher Warte zu widersprechen:
Zwar stimmt es, dass nur Finanzintermediäre (wie z.B. Banken) dem GwG direkt unterstellt sind. Auch der Straftatbestand der mangelnden Sorgfalt (oder der Verletzung von Meldepflichten) bei
Finanzgeschäften (Art. 305ter StGB) ist nur auf Finanz-intermediäre anwendbar (zur Bankencompliance s. Tamara Taube, Entstehung, Bedeutung und Umfang der Sorgfalts-pflichten der
Schweizer Banken bei der Geldwäscherei-prävention im Bankenalltag, Diss. SG 2013, pdf).
Nicht einfach übersehen werden darf dabei zunächst jedoch Art. 305bis Ziff. 1 i.V.m. Art. 25 StGB: Der Gehilfenschaft zu Geldwäscherei macht sich strafbar, wer
einen kausalen Tatbeitrag zu
Handlungen liefert, die geeignet sind, die Ermittlung der Herkunft, die Auffindung oder die Einziehung
von Vermögenswerten zu vereiteln, die, wie er weiss oder annehmen muss, aus einem Verbrechen oder aus einem qualifizierten Steuervergehen herrühren. Anwälte oder Treuhänder, die entsprechende logistische Vorkehren treffen, z.B. helfen, Tarnfirmen zu gründen, Strohmänner einzusetzen, Konten zu eröffnen oder
hohe Bargeldsummen zu transferieren usw., obwohl sie konkrete Hinweise auf einen entsprechenden deliktischen Hintergrund haben, können sich grundsätzlich strafbar machen. Die Bestechung von Amtsträgern zum Beispiel ist in der Schweiz schon seit langem
ein Verbrechen
(Art. 322ter-322octies StGB).
Auch qualifizierte
Steuer-vergehen (Art. 305bis Ziff. 1 und 1bis StGB) gelten jedenfalls seit dem 1. Januar 2016 als Vortaten der Geldwäscherei.
Falsch wäre sodann die Auffassung,
Anwälte könnten sich im Bereich ihrer sogenannten akzessorischen Geschäftstätigkeit (z.B. Verwaltungsratsmandate, Vermögensverwaltung, Inkassomandate usw.) auf
ihr Berufsgeheimnis (Anwaltsgeheimnis) berufen. Es gibt Fälle, bei denen Anwälte selbst als Finanzintermediäre akzessorisch tätig sind. Diese sind gesetzlich
verpflichtet, Geldwäschereiverdachtsfälle zu melden (Art. 9 Abs. 1 GwG) und sich einer Selbstregulierungsorganisation anzuschliessen (Art. 14
Abs. 3 GwG; BGE 132 II 103 E. 2.2 S. 105 f.). Auch fallen sie unter die Strafdrohung nach Art. 305ter StGB. Dies betrifft Anwälte, welche berufsmässig fremde Vermögenswerte annehmen oder aufbewahren
oder helfen, sie anzulegen oder zu übertragen (Art. 2 Abs. 3 GwG).
Geldwäschereiverdacht (i.S.v. Art. 305bis Ziff. 1 StGB und Art. 27 Ziff.
1 lit. c und e GwUe) kann insbesondere vorliegen, wenn eine auffällige Verknüpfung geldwäschetypischer Vorkehren besteht. Dies ist etwa der Fall, wenn hohe Geldbeträge über komplexe Kontenbewegungen unter zahlreichen involvierten Personen und Firmen in verschiedenen Ländern, darunter typischerweise sogenannte "Offshore"-Gesellschaften, verschoben wurden und für diese komplizierten
Transaktionen kein wirtschaftlicher Grund
ersichtlich ist. Auch ungewöhnliche Transaktionen mit hohen Bargeldbeträgen sind verdächtig oder Finanztransaktionen im konkreten Umfeld von massiven Korruptionsfällen (vgl. dazu M. Forster, in: Basler Kommentar Internationales Strafrecht, 2015, Art. 27 GwUe N. 9; derselbe, Internationale Rechtshilfe bei Geldwäschereiverdacht, ZStrR 2006, S. 274–294).
Prof. Dr. Marc Forster / 6. April 2016
Di
17
Nov
2015
A) Falsch ist zunächst die Annahme, Aufrufe zu terroristischer Gewalt auf Facebook und ähnlichen sozialen Netzwerken seien nicht strafbar: Anders als die öffentliche Aufforderung zu Verbrechen oder Gewalt
(Art. 259 StGB) oder (bei den meisten Tatbestandsvarianten) der Rassismustatbestand (Art. 261 StGB) setzt der Straftatbestand der Unterstützung einer kriminellen Organisation (Art. 260ter Ziff. 1
Abs. 2 StGB) keine "öffentlichen" Aeusserungen voraus.
Analoges gilt für das am 1.1.2015 (dringlich) in Kraft gesetzte
Bundesgesetz über das Verbot der Gruppierungen "Al-Qaïda" und "Islamischer Staat" sowie verwandter Organisationen (SR 122). Danach wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder
Geldstrafe bestraft, wer sich auf dem Gebiet der Schweiz an einer der genannten Gruppierungen oder Organisationen beteiligt, sie personell oder materiell unterstützt, für sie oder ihre Ziele
Propagandaaktionen organisiert, für sie anwirbt oder ihre Aktivitäten auf andere Weise fördert.
B) Unzutreffend ist auch die Ansicht, die Urheber strafbarer anonymer Aeusserungen auf privaten oder öffentlichen Internetseiten könnten durch die Strafverfolgungsbehörden leicht identifiziert werden: Wenn z.B. Urheber von Facebook-Postings oder von
Aeusserungen auf öffentlich zugänglichen Webseiten mit den Inhabern der Web-Accounts identisch sind oder wenn die Urheber der Posts sich nicht anonym äussern, können die Strafverfolgungsbehörden die Verdächtigen regelmässig identifizieren. Bei
allen anonymen Aeusserungen auf Netzwerken hingegen, deren Daten (IP-Histories usw.) in den USA gespeichert werden (z.B. Facebook, Google usw.),
ist es den Schweizer (und anderen
nichtamerikanischen) Strafverfolgungsbehörden aus technischen Gründen nicht möglich, die Urheber zu eruieren. Dafür braucht es mühsame Rechtshilfegesuche an die USA, welche die Strafverfolgung sehr erschweren (vgl. dazu meinen
unten angefügten Aufsatz in der Festschrift zum Schweizerischen Juristentag 2015).
C) Naiv ist schliesslich auch der
Glaube, die Geheimdienste (oder Strafverfolgungsbehörden) hätten die Kommunikation der terroristischen Attentäter von Paris leicht überwachen können: Verschlüsselte mobile
Internetkommunikation (z.B. Internettelefonie, Whatsapp, Skype) kann derzeit nur mittels "Staatstrojanern" bzw. Spezialsoftware (GovWare) überwacht werden, die zudem auf die Kommunikationsgeräte
von verdächtigen Personen (zuerst) eingeschleust werden müssen. Dies ist bei hunderten bzw. tausenden von verdächtigen Personen im präventiven Vorfeld von
Attentaten praktisch gar nicht
möglich; zudem
wäre es mit enormen Kosten
verbunden.
Daraus erklärt sich auch, weshalb nicht einmal der französische Geheimdienst in der Lage war, die Pariser Attentate und die damit verbundene Kommunikation der Täter und Komplizen (sehr
wahrscheinlich über verschlüsseltes mobiles Internet) zu überwachen. Die Gegner der in der Schweiz hängigen Gesetzesrevision zu den Ueberwachungsmassnahmen scheinen diese Zusammenhänge entweder
noch nicht zu kennen oder nicht wahrhaben zu wollen.
Prof. Dr. Marc Forster / 17.
November 2015
Nachtrag vom 19.11.15: Gemäss den Medienmitteilungen der
Pariser Staatsanwaltschaft haben die Attentäter noch bis unmittelbar vor den Anschlägen vom 13.11.15 miteinander über Mobiltelefone kommuniziert. Aufgrund der
nachträglich ermittelten GPS-Daten bzw. der Antennennstandorte eines in der Nähe des Bataclan sichergestellten Handys konnte die Polizei die konspirative Wohnung in Saint-Denis ausfindig machen,
welche am 18.11.15 von der Polizei gestürmt wurde (mit zwei getöteten und acht verhafteten Terrorverdächtigen).
Do
15
Okt
2015
Es ist einfach nur traurig. Da hetzt ein politischer Extremist in der Schweiz aus rassistischen Motiven systematisch gegen die Armenier, indem er
den historisch belegten Genozid leugnet bzw. rechtfertigt und das Gedenken der Opfer und ihrer Nachkommen lächerlich zu machen versucht. Und der Europäische Gerichtshof findet, ein Staat wie die
Schweiz, der solches Verhalten unter Strafe stellt und angemessen mit einer Geldstrafe büsst, verletze die Menschenrechte. Das Tolerieren von rassistischer Hetze gehöre eben -- so der EGMR in
seinem heutigen Entscheid in zweiter Instanz -- zu einem "demokratischen Rechtsstaat". Dies unterscheide ihn von "Diktaturen" und "totalitären Systemen". Der EGMR behauptet, es gebe "keinen
Konsens" über den Völkermord an den Armeniern. Damit führt er die Öffentlichkeit in die Irre: Er unterschlägt, dass es bloss an einem politischen Konsens (leider) bisher fehlt.
Das ist aber juristisch völlig unerheblich. In der Schweiz werden keine Urteile aufgrund politischer Anschauungen gefällt, sondern aufgrund von wissenschaftlichen Fakten. Unter ernstzunehmenden
Historikern (dazu gehören weder Herr Perinçek noch andere dubiose Hobby- bzw. Auftrags-Historiker) sind die wesentlichen Fakten zum Armenier-Genozid nicht umstritten. Nur wenig
tröstlich ist, dass das Urteil selbst unter den Richtern der Grossen Kammer des EGMR sehr umstritten war: Es fiel mit 10 zu 7 Stimmen zugunsten des
Genozidleugners aus.
Das Zeichen, das der EGMR offenbar aus politischer Rücksichtnahme setzt, ist fatal. Rassistische Hetze gehört nicht unter den Schutz der Menschenrechte gestellt, sondern strafrechtlich verfolgt.
Dass die in den Augen der EGMR-Richtermehrheit offenbar "totalitäre" und "meinungsäusserungsfeindliche" Schweiz dies tut, erfüllt mich als Staatsbürger und Jurist mit Stolz. Erfreulicherweise
beschreitet die Schweiz diesen Weg nicht ganz alleine: Andorra, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Malta, Mazedonien, die Slowakei, Slowenien, Ungarn, Zypern und die Schweiz stellen
nicht nur das Leugnen des Holocaust unter Strafe, sondern das rassistisch motivierte öffentliche Leugnen sämtlicher Genozide. -- Könnte es sein, das kleinere Staaten in diesem
Punkt ein besonders sensibles kriminalpolitisches Gespür unter Beweis stellen?
Marc Forster, 15.10.2015
Mi
27
Mai
2015
In einem Interview vom 27.05.2015 mit dem Tagesanzeiger.ch/Newsnet zu den Verhaftungen von sieben hochrangigen FIFA-Funktionären und zur
Aktenbeschlagnahmung am FIFA-Sitz in Zürich durch die Bundesanwaltschaft (BA) äussert Prof. Mark Pieth sein Erstaunen darüber, dass sich die Schweizer Justiz von
den USA habe "einspannen" lassen. Es handle sich um eine "Kombination aus der schweizerischen und der US-Justiz". Die "Initiative" sei dabei "von den USA" ausgegangen. -- Dieser
Einschätzung ist teilweise zu widersprechen:
Die BA ist nicht erst auf Initiative der USA (und schon gar nicht aufgrund des amerikanischen Festnahmeersuchens gegen FIFA-Funktionäre) aktiv geworden. Die USA verfolgen (laut Medienmitteilung ihres Justizministeriums) primär jahrzehntelange Bestechung von FIFA-Funktionären bei der Vergabe von Medien-, Vermarktungs- und Sponsoringrechten. Das Auslieferungsersuchen (präziser: das Festnahmegesuch) an die Schweiz betrifft diese Korruptionsvorwürfe der US-Justiz. Separat dazu hatte die BA aber bereits eine eigene (Schweizer) Strafuntersuchung eingeleitet wegen mutmasslichen Straftaten im Zusammenhang mit der Vergabe der WM-Turniere 2018 an Russland und 2022 an Qatar. Die FIFA hat diesbezüglich am 18. November 2014 selber Strafanzeige bei der BA eingereicht. Nach Medienmitteilungen der BA gehe es hier primär um ungetreue Geschäftsbesorgung zum Nachteil der FIFA. Zutreffend ist, dass die US-Strafverfolgungsbehörden und die BA ihre separaten Strafuntersuchungen koordinieren und sich (im Rahmen der völkerrechtlichen Regelungen) gegenseitig Rechtshilfe gewähren (insbes. Auslieferungen, Kontensperren, Herausgabe von Geschäfts- und Bankunterlagen).
Das neue Korruptionsstrafrecht (mit der vorgeschlagenen Neuregelung der Privatkorruption als
Offizialdelikt des StGB), welches ab nächster Woche im Parlament beraten wird, dürfte für die genannten Untersuchungen in den USA und der Schweiz keine
Auswirkungen mehr haben: Für die Strafbarkeit sind die Strafnormen im Zeitpunkt der untersuchten Delikte massgeblich. Die beidseitige Strafbarkeit (als
Voraussetzung für eine allfällige Auslieferung oder Aktenherausgabe an die USA) bestimmt sich grundsätzlich nach den geltenden Strafnormen im Zeitpunkt des Rechtshilfeersuchens.
Das neue Recht wird insofern zu spät kommen.
Prof. Dr. Marc Forster, 27. Mai 2015 ©
Nachtrag zum neuen Privatkorruptionsstrafrecht:
In seinem Urteil 1C_143/2016 vom 2. Mai 2016 (BGE-Publikation) hat das Bundesgericht bestätigt, dass bei Privatbestechung das Auslieferungserfordernis der
beidseitigen Strafbarkeit gestützt auf die (damals noch anwendbaren) Bestimmungen des
UWG (Art. 4a) grundsätzlich erfüllt war. Das
Strafantrags-Erfordernis des UWG liess die beidseitige Strafbarkeit nicht dahinfallen. Knapp zwei Monate nach diesem Urteil, nämlich am 1. Juli 2016, sind die
neuen StGB-Bestimmungen über Privatkorruption in Kraft getreten (Art. 322octies und novies StGB). Diese sind nun zwar als Offizialdelikte ausgestaltet, aber
lediglich als Vergehen, sodass Geldwäscherei an Privatkorruptionsgeld weiterhin nicht strafbar ist. Wenn die Bestechungshandlungen (wie meist
üblich) nicht in der Schweiz erfolgen, besteht auch praktisch keine Strafverfolgungszuständigkeit der schweizerischen Justiz. Ein weiteres schwer verständliches
Schlupfloch findet sich auch noch in Art. 322decies Abs. 1 lit. a StGB: Wenn die FIFA (oder eine andere "gefährdete" Organisation oder Gesellschaft) die
Privatbestechung seiner Mitarbeiter und Funktionäre "vertraglich genehmigt", ist diese straflos...
Prof. Dr. Marc Forster, 5. Oktober 2016 ©
Mo
05
Jan
2015
In letzter Zeit häufen sich Stellungnahmen der Bundesan-waltschaft (BA), die auf eine juristische Fehleinschätzung von Art. 260ter StGB (Strafbarkeit
der Unterstützung bzw. Beteiligung an einer kriminellen Organisation) schliessen lassen. Schon an einer Medienkonferenz von Ende August 2014 liess der Bundesanwalt verlauten,
die «blosse Mitgliedschaft» bei einer mafiösen Organisation sei in der
Schweiz «nicht strafbar», weshalb
bei italienischen Rechtshilfeersuchen an die
Schweiz Probleme (mit dem Rechtshilfeerfordernis der beidseitigen Strafbarkeit) entstünden. Laut
Medienberichten vom 4. und 5. Januar 2015 («NZZ am Sonntag») doppelte die BA kürzlich im gleichen Sinne nach: Laufende Untersuchungs- verfahren wegen «blosser Mitgliedschaft» würden künftig von
der BA automatisch eingestellt. Ein Strafverfahren werde nur noch durchgeführt, «wenn Hinweise auf konkrete Unterstützungshandlungen für eine mafiöse Organisation» vorliegen («Tages-Anzeiger» vom 5. Januar 2015, S. 3). Laut Bundesanwalt Michael Lauber reiche «die reine Mitgliedschaft bei einer kriminellen Organisation für eine Verurteilung nicht aus».
Darin sei sich sich «die herrschende Lehre einig». Es brauche den «Nachweis, dass die Beschuldigten die Organisation konkret in ihrer
kriminellen Aktivität unterstützt haben» (http://www.nzz.ch/nzzas/nzz-am-sonntag/wir-machen-keine-abenteuer-mehr-1.18454252).
Dieser mehrfach in den Medien verbreitete Standpunkt
der BA erscheint juristisch und kriminalpolitisch sehr bedenklich und lässt auf eine grundsätzliche Fehleinschätzung der Rechtslage schliessen.
Die Beteiligung an einer mafiösen Organisation (Art.
260ter Ziff. 1 Abs. 1 StGB) ist keineswegs eine Art «geringere» Form der organisierten Kriminalität. Eher trifft das Gegenteil
zu: Ein Mitglied einer kriminellen Organisation zu sein, ist mindestens so strafwürdig, wie die (blosse) punktuelle Unterstützung (Art. 260ter
Ziff. 1 Abs. 2 StGB) durch einen
aussenstehenden Helfer. Beide Varianten werden denn auch vom Gesetz unter den gleichen
Strafrahmen gestellt. Für
überführte Mafiamitglieder dürfte das konkrete Strafmass in der Regel sogar höher ausfallen als für
(jedenfalls nicht sehr wichtige) blosse Unterstützer. Mir ist kein Strafrechtsexperte bekannt, der nur die konkrete Unterstützung der Mafia, nicht aber die «blosse» Mitgliedschaft als strafbar
ansehen würde. Von einer entsprechenden «herrschenden Lehre» (im Sinne der Ausführungen der BA) kann noch viel weniger die Rede sein.
Wie den neusten Medienberichten indirekt zu entnehmen ist, könnte die irreführende Aussage der BA eine bewusste Provokation sein,
um politische Unterstützung für eine Verschärfung der StPO
zu generieren: Die vorgeschlagenen schärferen Instrumente (Verweigerung der
Verteidigung der ersten Stunde, Verweigerung einer nachträglichen Mitteilung der Telefonüberwachung usw., s.
«Tages-Anzeiger» vom 5. Januar 2015, S. 3)
werfen rechtsstaatliche Bedenken auf und dürften auf politischen Widerstand stossen. «Absurd» (so die Einschätzung von Ex-Staatsanwalt Paolo Bernasconi) sind die
aktuellen Regelungen keineswegs, auch nicht in Fällen mit Mafiabezug und auch nicht vor dem durchaus zutreffenden Hintergrund, dass der rechtsgenügliche
(beweisrechtliche) Nachweis einer Mafia-Mitgliedschaft oft schwierig
ist. Wenig sachgerecht erscheint in dem Zusammenhang auch, dass die BA und Teile der
Medien Einstellungen von Untersuchungen (z.B. mangels ausreichenden Beweisen) offenbar als peinliche «Niederlage» missverstehen, anstatt
sie als eine mögliche gesetzliche Erledigungsvariante von sorgfältigen rechtsstaat- lichen Untersuchungen zu erkennen. Die Mentalität, in heiklen Fällen lieber gar nicht erst anzuklagen,
als einen Freispruch zu «riskieren», ist vom US-amerikanischen kompetitiven Rechtsdenken
und von sachfremdem medialem Druck auf die
BA geprägt und dem schweizerischen Strafverfahrensrecht wesensfremd.
Prof. Dr. Marc Forster, 5. Januar 2015
Mi
22
Jan
2014
Nach Medienberichten, die auf der Auswertung von «Offshore-Leaks»-Daten durch das International Consortium of Investigative
Journalists (ICIJ) mit Sitz in
Washington gründen, waren Schweizer Grossbanken in den Jahren 2005/2006 in Geschäfte mit engen Fami- lienangehörigen des damaligen chinesischen Premierministers invol- viert. Dabei handelt es
sich um sogenannte «Politically Exposed Per- sons» (PEPs), für die strenge bankenaufsichtsrechtliche und straf- rechtliche Sorgfaltsregeln gelten.
Die für die Schweiz geltende aktuelle Definition von PEP findet sich in Art. 2 lit. a der (2010 erlassenen) Geldwäschereiverordnung der
FINMA (GwV, SR 955.033.0). PEPs sind Personen
mit prominenten
öffent- lichen Funktionen im Ausland, wie etwa Staats- und Regierungs- chefs oder hohe Politiker und Amtsträger, sowie
auch Unternehmen und dritte Personen, etwa
Familienangehörige oder wirtschaftlich Be- vollmächtigte (bzw. enge Geschäftspartner), die solchen Personen er- kennbar nahe stehen. PEP-Geschäftsbeziehungen
sind für die Banken mit erhöhten Haftungs- und Reputationsrisiken verbunden. Dies besonders dann, wenn es sich um
Angehörige von Machthabern aus Staaten mit hohen Korruptionsraten (oder massiven rechtsstaat- lichen Defiziten) handelt.
Eine Verpflichtung der Banken zu entsprechenden Abklärungen und Vorsichtsmassnahmen bei der
Aufnahme und Pflege von PEP-Ge-schäftsbeziehungen besteht nicht erst seit 2010. Schon 1998 (nach Bekanntwerden der grotesken Korruptionsfälle
Mobutu und Abacha) entschied die damalige Eidgenössische Bankenkommission, die
Sorgfaltsvorschriften von Geschäftsbeziehungen mit PEPs zu vertiefen. Ende 2001 verabschiedete der Basler Ausschuss (Basel Committee on Banking Supervision of the Bank for International Settlements) Mindeststandards zur Kundenidentifizierung. Die Schweiz (vertreten durch FINMA und Nationalbank) war an der Ausarbeitung dieser Standards
massgeblich beteiligt und initiierte beispielsweise die Regel, dass Geschäftsbeziehungen mit PEPs nur mit Zustimmung des obersten
Geschäftsführungsorgans eingegangen werden dürfen. 2002 wurden die einschlägigen überarbeiteten Wolfsberg-Prinzipien (unter
Mitwirkung u.a. von UBS und CS) verabschiedet. 2003 übernahm die Schweiz die 40 Empfehlungen der FATF zur Geldwäscherei-
prävention, darunter auch die Empfehlung Nr. 6 betreffend PEPs (Erkennung von PEP-Kundenbeziehungen, Bewilligung durch die
oberste Geschäftsführung, zusätzliche Abklärungen in Bezug auf die Herkunft der Vermögenswerte sowie
fortlaufende Überwachung der Geschäftsbeziehungen zu PEPs). Künftig werden der
PEP-Begriff und die betreffenden Sorgfaltspflichten direkt im Geldwäschereigesetz (GwG, SR
955.0) definiert und geregelt sein (vgl. Botschaft des Bundesrates zur Umsetzung der 2012 revidierten Empfehlungen der FATF, BBl 2014, 605 ff., 620
ff.).
Bei den in den Medien dargelegten Geschäftsverbindungen von Grossbanken mit nahen Angehörigen des damaligen chinesischen Premierministers waren besonders strenge
Compliance-Regeln zu beachten. Dies umso mehr, als der Premierminister (zwischen 2003 und
2013) aktiv im
Amt war. Solche Geschäftsverbindungen fallen Compliance-rechtlich in die höchste Risikoklasse. Im Fall «China-Leaks» stellt sich primär die Frage, ob die Banken die detaillierten Sorgfaltsvorschriften eingehalten haben, welche der Prüfung (und periodischen Vergewisserung) dienen, dass die angelegten Vermö- genswerte und betreuten
Geschäfte legaler
Herkunft und Ausrichtung sind. Die Prüfung, ob dabei aufsichtsrechtliche Vorschriften verletzt wurden, obliegt der
FINMA.
Geschäftsbeziehungen mit PEPs gelten in jedem Fall
als Kundenkon- takte mit erhöhtem Risiko (Art. 12 Abs. 3 GwV). Abzuklären hat die Bank namentlich, ob ihre Vertragspartei an den eingebrachten Vermö- genswerten
wirtschaftlich berechtigt ist, die Herkunft der einge- brachten Vermögenswerte, der Verwendungzweck abgezogener
Vermögenswerte, die Hintergründe und die Plausibilität grösserer Zahlungseingänge, der Ursprung des
Vermögens der Vertragspartei und
der wirtschaftlich berechtigten Person, die berufliche oder geschäftliche Tätigkeit
der Vertragspartei und der wirtschaftlich
berechtigten Person, ob es sich bei der Vertragspartei oder der wirtschaftlich berechtigten Person um eine PEP handelt, und bei juristischen Personen, wer diese faktisch
beherrscht (Art. 14 Abs. 2 GwV). Das oberste
Geschäftsführungsorgan der Bank (oder mindestens eines seiner Mitglieder) entscheidet
über die Aufnahme von Geschäftsbeziehungen mit PEPs und alljährlich
über deren Weiterführung (Art. 18 Abs. 1 lit. a GwV).
Wenn die Verantwortlichen es unterlassen, die Identität des wirtschaftlich Berechtigten mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt
abzuklären, machen sie sich (nach Art. 305ter Abs.
1 StGB) strafbar. Die Sorgfaltsmassstäbe werden in Art. 3-8 des Geldwä- schereigesetzes sowie in der GwV
konkretisiert (insbes. betreffend PEPs). Falls sich aufgrund der gebotenen Abklärungen ein Verdacht auf Geldwäscherei ergibt, indem die eingebrachten Vermögenswerte z.B. aus Korruption oder ungetreuer Amtsführung stammen könnten, ist die Bank verpflichtet, eine Verdachtsmeldung an die Meldestelle des Bundes zu erstatten (Art. 9 GwG) und die betroffenen Vermögenswerte zu sperren (Art. 10 GwG). Bei Widerhandlung gegen diese Verpflichtungen droht den Verantwortlichen ein Strafverfahren wegen Geldwäscherei (Art. 305bis StGB), mangelnder Sorgfalt bei Finanzgeschäften (Art. 305ter Abs. 1 StGB), Verletzung der Meldepflicht (Art. 37 GwG) und anderen
Delikten.
© 22.01.2014 / Prof. Dr. Marc Forster
Siehe zum Fall «China-Leaks» auch Handelszeitung
online vom 22.1.2014.
Mi
18
Dez
2013
Der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat mit seinen Urteilen schon mehr als einmal Kopfschütteln und
Ratlosigkeit bei Schweizer Juristen ausgelöst. Mit seinem Entscheid in Sachen Dogu Perincek ist die
Qualität und Überzeugungskraft der EGMR-Rechtsprechung an einem bisher unerreichten Tiefpunkt angelangt. Das Urteil wird Rassisten, Geschichts-Revisionisten und politische Hetzer hoch erfreuen.
Es wird sie ermuntern, historisch belegte Völkermorde an Minderheiten und Ethnien öffentlich, systematisch und auf diffamierende Weise zu leugnen oder zu rechtfertigen. Bemerkenswert ist auch,
dass ausgerechnet jene politischen Kreise in der Schweiz das Urteil loben, welche dem Völkerrecht sonst keinen besonderen Stellenwert beimessen wollen und «fremde Richter», insbesondere
europäische, ablehnen.
Die Rechtsgrundlage:
Im Jahre 1994 bestätigte die Schweizer Stimmbevölkerung mit einem Anteil von fast 55% die
Strafnorm gegen Rassismus. Damit schuf die Schweiz die Grundlage für eine Ratifizierung des Anti-Rassendiskriminierungsabkommens der UNO (vgl. z.B.
Marc Forster,
Die Korrektur des strafrechtlichen Rechtsgüter- und Sanktionenkataloges im gesellschaftlichen Wandel, Habil. 1995, ZSR 1995, 1-178, S. 157-161). Die Gegner der
Referendumsvorlage hatten unter anderem befürchtet, negative Stammtisch-Äusserungen gegen Ausländer könnten strafrechtlich verfolgt werden. Die Meinungsäusserungsfreiheit werde damit untergraben.
Strafbar macht sich unter anderem, wer öffentlich eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion herabsetzt oder aus einem dieser Gründe Völkermord oder andere Verbrechen gegen die
Menschlichkeit leugnet, gröblich verharmlost oder zu rechtfertigen sucht (Art. 261bis Abs. 4 StGB). Dass in den Jahren 1915 und
1916 zwischen (mindestens) 300'000 und 1,5 Millionen armenische Kinder, Frauen und Männer einer systematischen ethnischen Vertreibung sowie Massentötungen durch Verantwortliche des Osmanischen
Reichs zum Opfer gefallen sind, wird praktisch von keinem ernstzunehmenden Historiker in Abrede gestellt. Am 16. Dezember 2003 anerkannte der Schweizer Nationalrat offiziell den Völkermord an den
Armeniern. Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden im Übrigen in Art. 264 und 264a StGB näher definiert.
Der Fall Perincek:
Wie Medienberichten entnommen werden kann, handelt es sich bei Dogu Perincek um einen
extremistischen türkischen Nationalisten. Er wurde im August 2013 (u.a. wegen Verschwörung und Putschplänen gegen die
demokratisch gewählte türkische Regierung) von einem türkischen Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt und befindet sich heute im Gefängnis. Offenbar als Reaktion auf den Entscheid des
Nationalrates vom 16. Dezember 2003 liess Perincek im Mai, Juli und September 2005 (in Lausanne,
Opfikon und Köniz) öffentliche Veranstaltungen durchführen, an denen er wiederholt den Genozid an den Armeniern in
Abrede stellte. Zwar räumte er ein, dass Massaker und
Deportationen stattgefunden hätten. Er rechtfertigte diese
aber als «legitime Kriegshandlungen» und mit der Behauptung, die Armenier hätten ihrerseits analoge
Massaker und Deportationen an Türken begangen. Im Jahr 2007 verurteilte die Waadtländer Justiz Perincek wegen Rassen- diskriminierung
zu einer bedingten Geldstrafe von Fr. 9'000.--, einer Busse von Fr. 3'000.-- und einer Genugtuungsleistung von Fr.
1'000.-- zugunsten eines gemeinnützigen Vereins (Association Suisse-Arménie). Das Schweizerische Bundes- gericht bestätigte die Verurteilung mit Urteil vom 12. Dezember 2007 (Urteil 6B_398/2007 =
Pra 2008 Nr. 134 S. 838 ff.). Der EGMR verurteilte die Schweiz deswegen am 17. Dezember 2013 wegen Verletzung der Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 10
EMRK).
Die Argumente des EGMR:
Der EGMR argumentiert, Perincek habe die Massaker und Deportationen nicht geleugnet, sondern zu rechtfertigen versucht. Seine Ausführungen enthielten auch historische, juristische und politische Elemente.
Der EGMR übersieht zunächst, dass das Schweizer Strafrecht auch das (haltlose und rassistisch motivierte) Rechtfertigen
von Völkermord ausdrücklich unter Strafe stellt. Sodann besteht für die Behauptung, die Armenier hätten 1915-1916 ihrerseits Hundertausende Türken deportiert und getötet,
nicht der geringste Nachweis, geschweige denn ein wissenschaftlicher Konsens unter Historikern. Mit seinen Behauptungen versuchte Perincek, den
Opfern
des Genozids auf diffamierende Weise die Schuld an den von ihnen erlittenen Verbrechen zuzuschieben. Dies ist eine für extreme Rassisten und Revisionisten
geradezu typische Argumentationsstrategie. Dass das Schweizer Strafrecht auch das (haltlose und diffamierende)
Rechtfertigen von Völkermord unter Strafe stellt, ist ausdrücklich zu begrüssen. Der Entscheid des EGMR scheint dadurch geprägt, dass in einigen Ländern, insbesondere in skandinavischen,
osteuropäischen und anglosächsischen, revisionistische und rassistische Hetzereien nicht oder nur in geringerem Ausmass strafbar sind. Dies ist aber ein
politisches
Thema und lässt die Schweizer Antirassismus-Strafnorm keineswegs als menschenrechtswidrig erscheinen.
Der EGMR findet, Perincek habe weder die Armenier herabgewürdigt, noch zu Rassenhass oder Gewalt aufgerufen oder die öffentliche Ordnung ernsthaft gefährdet. Auch hier wedelt der
Gerichtshof begriffsjuristischen Staub auf, anstatt zwischen grundrechtlichen, strafrechtlichen
und kriminal- politischen Fragestellungen zu differenzieren:
Die Einschätzung des EGMR, Perincek habe die Armenier und deren Andenken an Hunderttausende Verfolgte und Getötete nicht öffentlich herabgewürdigt, ist schon aus den oben genannten Gründen
abzulehnen. Wer die Tatsachen verdreht und Opfer zu Tätern macht,
diffamiert und verhöhnt die Opfer aufs Gröbste. Hinzu kommt, dass Perincek agitatorisch, polemisch und aggressiv aufgetreten ist. Seine öffentliche Vortragstournee in drei verschiedenen Gemeinden in der
deutschen und französischen Schweiz war offensichtlich als bewusste Provokation inszeniert. Perincek leugnete und verdrehte historische Fakten zu propagandistischen (nationalistischen) Zwecken.
Seine reisserischen Auftritte mussten auf die in der Schweiz lebenden Armenier beleidigend, diffamierend und hetzerisch wirken.
Mit dem Hinweis, er habe nicht direkt zu Rassenhass oder Gewalt aufgerufen, argumentiert der EGMR erneut am Wortlaut der Schweizer Antirassismus-Strafnorm vorbei: Eine Verurteilung wegen Leugnens
oder Rechtfertigens von Völkermord setzt nicht voraus, dass der Täter (auch noch) zu Rassenhass oder gar zu Gewalt aufhetzt. Es genügt, dass er durch seine rassistisch-nationalistisch motivierte
Diffamation der Opfer den öffentlichen Frieden ernsthaft verletzt. Wer in der Schweiz zu Gewalt gegen Menschen oder
Sachen auffordert, wird schon nach Art. 259 Abs. 2 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren (oder Geldstrafe) bestraft. Der EGMR scheint mit den Normen des StGB offenbar wenig vertraut zu
sein. Der Umstand, dass die Schweizer Rassismus-Strafnorm nicht bloss den Aufruf zu Rassenhass und Gewalt unter Strafe stellt, sondern auch das diffamierende öffentliche Leugnen und Rechtfertigen
von Völkermord, ist sehr zu begrüssen. Dass einige europäische Länder (noch) keine identische Regelung haben, lässt die Schweizer Gesetzgebung nicht als menschenrechtswidrig erscheinen.
Auch der Unterschied, den der EGMR zum (seiner Ansicht nach durchaus strafbaren) Leugnen oder Rechtfertigen des Holocaust
sehen will, überzeugt nicht. Er beruft sich darauf, dass es keinen politischen Konsens
zum Genozid an den Armeniern gebe, da ihn «nur» 20 von 190 Staaten anerkannt hätten. Eine solche Argumentation stellt die Aufgabe des Strafrichters auf den Kopf: Bei der Anwendung der
Strafbestimmungen gegen Genozid (Art. 264 StGB) und Leugnen von Genozid (Art. 261bis Abs. 4 StGB) muss der Strafrichter
beurteilen, ob nach den historisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen von einem Völkermord auszugehen ist. Die
Frage, welche Staaten und Behörden aus politischen Überlegungen die historischen Fakten offiziell anerkannt haben, kann dabei keine massgebliche Rolle spielen. In einem demokratischen Rechtsstaat muss rassistische Genozidleugnung auch dann strafbar sein können, wenn
gewisse Länder noch Mühe bekunden, Rassismus konsequent zu bekämpfen oder (sie betreffende) historische Fakten aufzuarbeiten. Und selbst politisch hat ein grosser Teil der europäischen bzw.
westlich-demokratischen Staaten den Genozid an den Armeniern offiziell anerkannt. Historisch-wissenschaftlich ist er
genauso wenig bestreitbar wie der Holocaust.
Bei seiner Auffassung, die Verurteilung Perinceks zu einer bedingten Geldstrafe und einer Busse erscheine unverhältnismässig, verkennt der EGMR wiederum das Schweizer Sanktionenrecht.
Eine Freiheitsstrafe droht Perincek nur, wenn er die Busse nicht zahlt oder rückfällig wird. Ausserdem mischt sich der EGMR appellatorisch-kleinlich in die Strafzumessung der zuständigen
Strafgerichte ein.
Schlussfolgerung - wenn der kriminalpolitische Schwanz mit dem menschenrechtlichen Hund wedelt:
Es sind keine juristischen Gründe ersichtlich, weshalb Schweizer Gerichte nicht weiterhin Art. 261bis Abs. 4 StGB anwenden und rassistische Straftäter wie Dogu Perincek konsequent bestrafen
sollten. Der demokratische Rechtsstaat hat im Gegenteil die grundrechtliche Verpflichtung,
menschenverachtenden öffentlichen Rassismus strafrechtlich zu verfolgen. Dies gilt auch für revisionistische
öffentliche Agitationen, die unter dem Deckmantel der «Meinungsäusserungsfreiheit» daherkommen und die wissenschaftlich belegten Tatsachen zu verbiegen suchen (vgl.
z.B. Forster, Habil., a.a.o., S. 161). Dass der EGMR das rassistische Leugnen von Völkermord demgegenüber unter
den Schutz der Menschenrechte stellen möchte, ist eine bedauerliche juristische Fehlleistung, die fast schon an Zynismus
grenzt. Die Analyse der Urteilsgründe lässt darauf schliessen, dass hier kriminalpolitische Überlegungen und Prägungen im Vordergrund standen und nicht echte Motive des Grundrechtsschutzes. Ein Weiterzug des Urteils an die Grosse Kammer des EGMR durch die Schweiz
drängt sich geradezu auf.
©
18.12.2013 / Prof. Dr. Marc Forster
Nachtrag: Im März 2014 hat der Bundesrat entschieden, das EGMR-Urteil an
die Grosse Kammer weiterzuziehen.
Di
02
Jul
2013
Fr
13
Jul
2012
Nachdem das Bundesgericht dazu grünes Licht gegeben hat, wurden
die Empfänger von Schmiergeldern in der Höhe
von 160 Millionen Franken an FIFA-Funktionäre durch die Staatsanwaltschaft Zug bekannt gegeben. Zwar vertritt die überwiegende Lehre (darunter Daniel Jositsch und Mark Pieth) die
Auffassung, dass die Wahrnehmung einer öffentlichen Aufgabe durch Private, selbst durch Funktionäre eines ökonomisch und politisch mächtigen privatrechtlichen Vereins wie die
FIFA, grundsätzlich nicht vom Korruptionsstrafrecht des
schweize-rischen StGB erfasst sei
(vgl. z.B. Fabian Steuri, Strafbarkeit und internationale Rechtshilfe in Korrup-tionsfällen - Unter
besonderer Berücksichtigung der Vergabe von Grossveranstaltungen durch internationale Sportverbände, Masterarbeit Universität St. Gallen, 2011, S. 37, 42). Dies ist jedoch aus kriminalpolitischen
Gründen (des Rechtsgüterschutzes und der Gleichbehandlung von strafwürdigem Verhalten) hoch problematisch und wird von diffusen wirtschafts-, standort-, sport- und fiskalpolitischen Motiven beeinflusst. Bei Olympiaden, Fussball-WM und -EM
usw. handelt es sich um politische, wirtschaftliche, soziale und sportkulturelle Grossanlässe von internationaler öffentlicher Bedeutung und Tragweite. Spitzenfunktionäre von IOC, FIFA, UEFA usw. haben enorme wirtschaftliche Macht und massiven politischen
Einfluss, vergleichbar nur mit
sehr hohen staatlichen Funktionären. Das IOC hat sogar Beobachterstatus bei der UNO. Es liesse sich durchaus die These vertreten, dass mit der Vergabe, Planung und Durchführung dieser
internationalen Grossanlässe (funktional und gesamtbetrachtend) eine staatliche Aufgabe wahrgenommen wird. Das in der Lehre eingebrachte Kriterium, für eine Anwendung des Korruptionsstrafrechts müsse zwangsläufig eine
offizielle Vergabe durch den
Staat an die privatrechtliche
Organisation erfolgen, erscheint künstlich bzw. als juristische "Hintertür". Das Kriterium lässt sich dogmatisch und mit der Teleologie des Korruptions-strafrechts jedenfalls nur schwer
begründen. Stossend sind denn auch diverse damit verbundenen Wider-sprüche, wonach die fraglichen Organisationen z.B. aus steuerrechtlicher Sicht privilegierten "öffentlichen Zwecken" dienen sollen, aus
strafrechtlicher Sicht hingegen nicht. Auch die
faktische Staatshaftung für die Veranstaltungskosten (Defizitgarantien usw.)
oder paradiplomatische
Privilegien sprechen für eine
staatliche Aufgabe. Die kriminalpolitisch unhaltbare Rechtslage ruft jedenfalls de lege ferenda nach rascher Korrektur.
Prof.
Dr. Marc Forster, 13. Juli 2012 ©
Di
16
Aug
2011
Bernard Bertossa kommentiert (in Semaine Judiciaire 2011 Bd. I S. 286 f.) den kürzlich publizierten BGE 137 IV 13: Der Haftgrund
der Wiederholungsgefahr (nach Art. 221 Abs. 1 lit. c der neuen StPO) verlangt unter ande- rem, dass der Beschuldigte "bereits
früher gleichartige Straftaten verübt" hat. Der Haftgrund der Ausführungsge- fahr (Art. 221 Abs. 2
StPO) setzt voraus, dass eine Per- son damit gedroht hat, ein schweres Verbrechen auszu- führen.
Das Bundesgericht hatte einen Fall zu beurteilen, wo dem Beschuldigten ein untersuchtes Tötungsdelikt zur Last gelegt wurde. Aufgrund des psychiatrischen Gutach- tens musste zwar befürchtet werden, dass
der Beschul- digte (weitere) schwere Delikte dieser Art verüben könn- te. Er hatte jedoch weder eine entsprechende "Drohung" geäussert, noch hatte er (über das erst zu untersuchen- de
Tötungsdelikt hinaus) bereits gleichartige Vortaten ver- übt. Aufgrund einer "systematisch-teleologischen" Ausle- gung (bzw. Gesetzeslückenfüllung) gelangte das Bundes- gericht zur Ansicht, dass
bei akut zu befürchtenden wei- teren Schwerverbrechen ausnahmsweise vom Vortaten-
erfordernis abgesehen werden könne.
Bernard
Bertossa scheint den Entscheid zu begrüssen ("on respire") und kritisiert (etwas sarkastisch) das vom Gesetzgeber eingeführte
Vortatenerfordernis bei schwe- ren Verbrechen. ("Il n'est pas certain que les victimes du troisième crime auraient apprécié!") Gleichzeitig will
Ber-
tossa die Ursache der verunglückten gesetzlichen Fas- sung ausfindig gemacht haben: - Die Zürcher... Was ihn übrigens nicht verwundere. ("Si on peine à comprendre de tels
égarements, on en connaît au moins l'origine. Sans surprise, c'est dans l'ancien code de procédure pé- nale du canton de Zurich que l'on trouve, au paragraphe 58 al. 1 ch. 3, une disposition de
même nature.")
Hier irrt Kollege Bertossa allerdings.
Vielleicht hatte er eine schon etwas ältere Ausgabe der Zürcher StPO zur Hand. Jedenfalls kannte schon die Zürcher StPO (seit 2005) bei
Schwerverbrechen den Haftgrund der soge- nannten qualifizierten
Wiederholungsgefahr (§ 58 Abs. 1 Ziff. 4), welche (im Gegensatz zur von Bertossa
zitierten einfachen Wiederholungsgefahr, § 58 Abs. 1 Ziff. 3) kei- ne
bereits verübten Vortaten voraussetzte (nachzule- sen z.B. in BGE 135 I 71 E. 2.4
S. 73). Der Eidgenössi- sche Gesetzgeber hat es versäumt, eine entsprechen- de
qualifizierte Wiederholungsgefahr als Haftgrund in der neuen StPO einzuführen. Um die stossendsten Folgen abzuwenden, sah sich das Bundesgericht zu delikaten Auslegungsmanövern gezwungen.
Soviel zur "Ehrenrettung der Zürcher". (Der Blogger ist Thurgauer.) Für den Eidgenössischen Gesetzgeber (und zwangsläufig für die Gerichte) sieht es weniger günstig aus: Leider ist
Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO noch in weiteren Teilen ziemlich verunglückt (mehr dazu in: Basler Kom- mentar StPO-Forster, Art. 221 N. 10-13, sowie im unten angefügten Aufsatz in der ZStrR/pdf,
downloadbar).
Prof. Dr. Marc Forster, 16. August 2011. ©
Zu den daraus resultierenden
politischen Vorstössen siehe aktuell (Sommer 2013) auch:
http://www.20min.ch/schweiz/news/story/Auch-gefaehrliche-Ersttaeter-sollen-kuenftig-in-U-Haft-16233974
–
Mo
22
Apr
2024
Wichtiger Haftgrund bei Schwerverbrechen, keine klare
gesetzliche Grundlage
Die 2011 in Kraft getretene Eidgenössische StPO wies bis vor Kurzem eine gravierende Lücke bei den strafprozessualen Haftgründen auf. Vor 2011 hatten diverse kantonale Strafprozessgesetze noch den Haftgrund der sogenannten «qualifizierten» Wiederholungsgefahr vorgesehen (z.B. § 58 Abs. 1 Ziffer 4 StPO/ZH): Im Gegensatz zur einfachen Wiederholungsgefahr (Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO) konnte danach bei drohenden schweren Gewaltverbrechen vom sogenannten Vortatenerfordernis abgesehen werden. Das heisst, es musste mit der Anordnung von Untersuchungshaft nicht abgewartet werden, bis neben dem «bloss» untersuchten Schwerverbrechen bereits gerichtliche Verurteilungen zu weiteren ähnlichen Delikten vorlagen. Dieser wichtige Haftgrund geriet beim Erlass der Eidgenössischen StPO (2011) in Vergessenheit. Möglicherweise hatte der Gesetzgeber damals fälschlich angenommen, dass der spezifische neue Haftgrund der Ausführungsgefahr (Art. 221 Abs. 2 StPO) auch alle bisherigen Fälle der qualifizierten Wiederholungsgefahr abdeckte.
Notstandsrechtliche Lückenfüllung durch das Bundesgericht
und Legalitätsprinzip
In seiner anschliessenden Rechtsprechung ist das Bundesgericht zum Schluss gekommen, dass es qualifizierte Haftfälle gibt, bei denen die Anordnung von Untersuchungshaft möglich sein muss, ohne dass bereits Verurteilungen zu schweren Gewaltdelikten vorliegen. In BGE 137 IV 13 hat das Bundesgericht auf eine entsprechende gravierende Gesetzeslücke hingewiesen. Das Bundesgericht hat erwogen, dass es «vernünftigerweise nicht in der Absicht der Legislative gelegen» haben könne, bei einem mutmasslich bereits verübten und erneut akut drohenden schweren Gewalt- oder Sexualverbrechen auf die Möglichkeit einer strafprozessualen Inhaftierung zu verzichten, nur weil der Beschuldigte nicht bereits früher schon wegen ähnlichen Schwerverbrechen gerichtlich verurteilt worden war (bestätigt in BGE 143 IV 9 E. 2.3.1).
In der Fachliteratur ist seit 2012 darauf hingewiesen worden, dass eine solche Abweichung vom Gesetzeswortlaut allerdings vor dem Hintergrund des Legalitätsprinzips (Art. 36 Abs. 1 BV) rechtsstaatlich hochproblematisch war und ein entsprechender neuer Haftgrund (wieder) ausdrücklich im Gesetz zu verankern sei (vgl. Marc Forster, ZStrR 2012, S. 341 f.). Im Dezember 2012 reichten daraufhin Isabelle Moret und Daniel Jositsch entsprechende parlamentarische Vorstösse ein. Im Juni 2023 hat das Parlament schliesslich eine Teilrevision der StPO verabschiedet, darunter einiger haftrechtlicher Bestimmungen. Unter anderem verankerte es neu den Haftgrund der «qualifizierten» Wiederholungsgefahr, Art. 221 Abs. 1bis StPO, im Gesetz. In der Bundesversammlung ist diesem Haftgrund kein Widerstand erwachsen. Die Bestimmung trat am 1. Januar 2024 in Kraft (vgl. zur Reformgeschichte Marc Forster, Basler Kommentar StPO, 4. Aufl. 2023, Art. 221 N. 15b).
Neuer Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr
Die gesetzliche Regelung in Art. 221 Abs. 1bis StPO ist wie folgt ausgestaltet: Lit. a setzt eine untersuchte qualifizierte Anlasstat voraus, nämlich den dringenden Verdacht, dass die beschuldigte Person durch ein Verbrechen oder ein schweres Vergehen die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer Person schwer beeinträchtigt hat. Das Vorliegen einer einschlägigen Vortat ist demgegenüber nicht erforderlich. Lit. b verlangt aber zusätzlich, als Prognoseelement, die ernsthafte und unmittelbare Gefahr, dass die beschuldigte Person ein gleichartiges, schweres Verbrechen verüben werde.
Leitentscheid des Bundesgerichtes zum neuen Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr
In seinem zur amtlichen Publikation bestimmten ersten Grundsatzurteil zu Art. 221 Abs. 1bis StPO, 7B_155/2024 vom 5. März 2024, hat das Bundesgericht einige Fragen zur Auslegung der neuen Bestimmung geklärt und insbesondere geprüft, ob sich gegenüber der bisherigen Rechtsprechung zum Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr eine Praxisänderung aufdrängen könnte:
Grad der Rückfallgefahr, «umgekehrte Proportionalität» gegenüber der Schwere der drohenden Verbrechen
Im vom Bundesgericht beurteilten Fall eines untersuchten vorsätzlichen Tötungsdeliktes hatte die Verteidigung die These vertreten, der neue Art. 221 Abs. 1bis lit. b StPO verlange eine «sehr ungünstige» Rückfallprognose. Der Umstand, dass das psychiatrische Gutachten beim Beschuldigten eine «bloss» mittelgradige Rückfallgefahr für neue schwere Gewaltverbrechen festgestellt habe, genüge nach neuem Recht nicht mehr. Dies ergebe sich aus dem gesetzlichen Erfordernis einer «ernsthaften und unmittelbaren Gefahr» neuer Schwerverbrechen. Diesbezüglich könne an der bisherigen einschlägigen Bundesgerichtspraxis nicht mehr festgehalten werden. Das Bundesgericht ist dieser Argumentation nicht gefolgt:
Es erwog Folgendes: Art. 221 Abs. 1bis lit. b StPO verlange als Prognoseelement die ernsthafte und unmittelbare Gefahr, dass die beschuldigte Person ein gleichartiges «schweres Verbrechen» verüben werde. Zwar sei in der bisherigen einschlägigen Bundesgerichtspraxis nicht wörtlich vom Erfordernis einer «ernsthaften und unmittelbaren» Gefahr (von neuen Schwerverbrechen) die Rede gewesen. Es habe in diesem Sinne aber schon altrechtlich eine restriktive Haftpraxis bestanden, indem das Bundesgericht ausdrücklich betont habe, qualifizierte Wiederholungsgefahr komme nur in Frage, wenn das Risiko von neuen Schwerverbrechen als «untragbar hoch» erscheint (BGE 143 IV 9 E. 2.3.1; 137 IV 13 E. 3 f.). Bei der konkreten Prognosestellung werde auch weiterhin dem Umstand Rechnung zu tragen sein, dass bei qualifizierter Wiederholungsgefahr Schwerverbrechen drohen. Bei einfacher und qualifizierter Wiederholungsgefahr sei von einer sogenannten «umgekehrten Proportionalität» zwischen Deliktsschwere und Eintretenswahrscheinlichkeit auszugehen (BGE 146 IV 136 E. 2.2; 143 IV 9 E. 2.8-2.10). Der kantonalen Vorinstanz sei darin zuzustimmen, dass bei ernsthaft drohenden schweren Gewaltverbrechen auch nach neuem Recht keine sehr hohe Eintretenswahrscheinlichkeit verlangt werden könne. Die richterliche Prognosebeurteilung habe sich dabei auf die konkreten Umstände des Einzelfalles zu stützen (BGE 7B_155/2024 vom 5. März 2024, E. 3.6.2).
Im beurteilten Fall stufte das Bundesgericht es als bundesrechtskonform ein, dass die Vorinstanz eine ausreichend erhebliche (ernsthafte und unmittelbare) Wahrscheinlichkeit für neue schwere Gewaltverbrechen bejahte. Das Obergericht habe dabei namentlich der im psychiatrischen Gutachten festgestellten «mittelgradigen» Rückfallgefahr Rechnung tragen dürfen, der gutachterlich diagnostizierten psychischen Auffälligkeit und Unberechenbarkeit des Beschuldigten, der besonderen (gewaltexzessiven) Brutalität des ihm zur Last gelegten Tötungsdeliktes, seiner auffälligen Vorliebe für Waffen, insbesondere Messer, Schlagstöcke und Elektroschockgeräte, der von ihm in Internet-Chats geäusserten weiteren Gewaltbereitschaft, seiner Affinität für sadistische Darstellungen von brutaler Gewalt oder auch den vom Obergericht dargelegten Anzeichen für eine massive Suchtmittelproblematik des Beschuldigten (BGE 7B_155/2024 vom 5. März 2024, E. 3.6.3).
Unmittelbare Sicherheitsgefährdung bei qualifizierter Wiederholungsgefahr
Weiter hatte die Verteidigung geltend gemacht, es fehle im beurteilten Haftfall an einer unmittelbaren Sicherheitsgefährdung durch die drohenden neuen Delikte. Bei der «Unmittelbarkeit» handle es sich um ein «neues gesetzliches Kriterium», das eine Praxisänderung erforderlich mache. Auch dieser Argumentation folgte das Bundesgericht nicht. Die in Art. 221 Abs. 1bis lit. a StPO genannten Anlasstaten, nämlich Verbrechen und schweren Vergehen, mit denen die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer Person schwer beeinträchtigt wird, würden vom Gesetzgeber bereits de lege als unmittelbar sicherheitsgefährdend eingestuft. Im Gegensatz zur einfachen Wiederholungsgefahr (Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO, neue Fassung ebenfalls in Kraft seit 1. Januar 2024) verlange der Wortlaut von Art. 221 Abs. 1bis lit. a StPO denn auch keine (zusätzliche) «unmittelbare Sicherheitsgefährdung» (BGE 7B_155/2024 vom 5. März 2024, E. 3.7).
22. April 2024 / © Prof. Dr. Marc Forster, RA
Do
02
Nov
2023
Die WHO treibt auf zwei Ebenen einen transnationalen Rechtsrahmen voran, zur Pandemiebekämpfung und zur Vorsorge gegenüber – breit und unklar definierten – "globalen Gesundheitsnotständen". Zum einen soll ein neuer WHO-Vertrag zur Pandemievorsorge abgeschlossen werden. Die Entscheidung, diesen neuen Vertrag auszuhandeln, wurde im Dezember 2021 auf der zweiten Sondersitzung der Weltgesundheitsversammlung (WHA) getroffen. Zweitens wird der bereits seit 2002 bestehende multilaterale Vertrag zur Regelung von "globalen Gesundheitsnotständen" überarbeitet. Der Beschluss, diesen Prozess einzuleiten, wurde von der WHA im Mai 2022 gefällt. Nach dem Fahrplan der WHO sollen diese neuen Rechtsgrundlagen von den Vertragsstaaten und WHO-Gremien im Mai 2024 bewilligt werden.
Diese folgenreiche Entwicklung des transnationalen Rechtsrahmens zur Bekämpfung von Pandemien und sogenannten "globalen Gesundheitsnotständen" stösst bei Expertinnen und Experten der Grundrechte und des Medizinrechts auf grosse Bedenken. Sie rufen dringend zu einer offenen Debatte auf. Zu hoffen ist, dass dieser offene faktenbasierte Diskurs nicht vom WHO-spezifischen organisierten "Pre-Bunking" unterdrückt und gestört werden wird (Zensur und Diskreditierung von unliebsamen, nach Meinung von WHO-Funktionären angeblich irreführenden Informationen in Medien und elektronischen Foren).
In der hier beigefügten Analyse der Global Health Responsibility Agency werden zusammengefasst folgende Tendenzen der WHO-Bestrebungen kritisiert ("Die Pandemiegesetzgebung der WHO: Besorgniserregende Verhandlungen von internationaler Tragweite, Oktober 2023, Autorin: Dr. Amrei Müller, © 2023 Global Health Responsibility Agency, S. 47 f.):
Erstens werden die besonderen Befugnisse der WHO, einen globalen Gesundheitsnotstand (PHEIC) auszurufen und "den Staaten medizinische und nicht-medizinische Gegenmassnahmen zu empfehlen, erheblich zunehmen".
Zweitens "werden in Zukunft über das geplante globale Bioüberwachungssystem große Mengen an biologischem Material- und Genomsequenzdaten gesammelt und ausgetauscht. Dies erhöht nicht nur die Wahrscheinlichkeit der Entdeckung neuer oder wiederauftretender Erreger mit (angeblichem) PHEIC-/Pandemiepotenzial, sondern schafft auch Anreize für hochgefährliche Gain of Function-Forschung".
Drittens "soll die präventive Forschung und Entwicklung zu Krankheitserregern mit PHEIC-/Pandemiepotenzial erheblich ausgeweitet werden, insbesondere die Forschung und Entwicklung von mRNA-basierten Impfstoffen".
Viertens "soll die rasche Notfallzulassung von PHEIC-/Pandemieprodukten im internationalen und regionalen Recht sowie in den nationalen Rechtsordnungen aller WHO-Mitgliedstaaten ermöglicht werden".
Fünftens "wird die WHO teilweise in eine Agentur umgewandelt, die die weltweite Produktion, Beschaffung und Verteilung von PHEIC-/Pandemieprodukten" leitet und koordiniert, "wobei die WHO-Mitgliedstaaten verpflichtet sein werden, ihre eigenen Produktions- und Verteilungsnetze für solche Produkte auf- und auszubauen".
Sechstens "wird ein biomedizinisches System für die Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs unter Verwendung digitaler Gesundheitspässe über weltweit interoperable Digitalplattformen aller Wahrscheinlichkeit nach Realität werden".
Siebtens "sollen die Staaten in ihre Gesundheitsinfrastruktur investieren, damit sie in der Lage sind, die von der WHO empfohlenen medizinischen und nicht-medizinischen PHEIC-Gegenmassnahmen, einschließlich Massenimpfkampagnen, durchzuführen". Dabei dürften "große Teile staatlicher Gesundheitsbudgets für die Prävention, Vorbereitung und Reaktion auf PHEIC/Pandemien ausgegeben werden" müssen, "besonders in Staaten mit geringem Einkommensniveau".
Achtens "wird das weltweite ‚Pre-Bunking‘ und ‚De-Bunking‘ – einschließlich direkter Zensur – von durch die WHO definierten Fehlinformationen oder Desinformationen über Erreger und Krankheiten, die einen PHEIC bzw. eine Pandemie verursachen, voraussichtlich erheblich zunehmen".
Die Verabschiedung und Umsetzung dieser von der WHO-Doktrin inspirierten Reformvorschläge, "wird daher wahrscheinlich
weltweit weitreichende negative Folgen für die Gesundheit und den Menschenrechtsschutz haben. Sie werden die Rechte und
Pflichten der Staaten aushöhlen, nationale Gesetze und Politiken im Gesundheitsbereich festzulegen und umzusetzen, die den
vorrangigen Gesundheitsbedürfnissen der Bevölkerung entsprechen und die Menschenrechte auf Gesundheit, Privatsphäre, Meinungsfreiheit, körperliche Unversehrtheit, Leben und Freiheit von Folter oder unmenschlicher oder
erniedrigender Behandlung respektieren und gewährleisten."
Ausserdem werden sie "die undurchsichtige Durchmischung des öffentlichen und privaten Sektors in internationalen Gesundheitsinstitutionen wie der WHO vorantreiben, indem sie philanthropischen Stiftungen, multinationalen Unternehmen und öffentlich-privaten Partnerschaften immer mehr Einfluss auf die globale Pandemiepolitik (und damit Macht) verleihen. Dies bringt nicht nur zusätzliche Interessenkonflikte für die WHO mit sich und erhöht die Möglichkeiten für Profitmacherei in PHEIC-/Pandemiesituationen durch diese privaten Akteure. Es führt auch zu einer weiteren Streuung der internationalen Verantwortlichkeiten und verhindert damit die Einrichtung wirksamer Rechenschaftsmechanismen für Schäden, die durch globale Pandemie-/PHEIC-Präventions- und Reaktionsprogramme verursacht werden. Die Reformen schaffen zudem Anreize für hochgefährliche Gain of Function-Forschung. Nicht zuletzt wird die Umsetzung dieser Reformen immense (öffentliche) Ressourcen benötigen".
Vor diesem Hintergrund ruft die Global Health Responsibility Agency dringend auf "zu einer offenen und umfassenden Debatte über die geplanten Änderungen des Vertrags zur Regelung von "globalen Gesundheitsnotständen" und zum geplanten neuen WHO-Pandemievertrag und ihre weitreichenden Auswirkungen in allen WHO-Mitgliedstaaten". Dies müsse "ein erster Schritt sein, um die besorgniserregenden Verhandlungen von internationaler Tragweite und ihre potenziell weitreichenden negativen Folgen für die menschliche Gesundheit und den Menschenrechtsschutz weltweit zu stoppen".
(Dokument hochgeladen von Prof. Dr.iur. Marc Forster/2.November 2023)
Do
07
Sep
2023
Strafbewehrte Impfobligatorien
Auf dem Höhepunkt der Corona-Epidemie haben vereinzelte Länder allgemeine oder partielle Impfobligatorien eingeführt, mit denen die Bevölkerung unter Strafdrohung zu Prophylaxe-Anstrengungen gegen die Lungenkrankheit Covid-19 bewegt werden sollte. In Europa hat Deutschland eine einrichtungsbezogene
Impfpflicht (Bundeswehr, Spitäler und Pflegeeinrichtungen) eingeführt, Österreich sogar ein generelles strafbewehrtes Impfobligatorium, Italien (das 2019/20 von
der Coronawelle besonders stark betroffen war) eine Impfpflicht für ältere Menschen ab 50 Jahren. Griechenland sah für über 60-jährige Ungeimpfte konfiskatorische
Dauerbussen von monatlich EUR 100.-- vor. In der Schweiz wurden Forderungen nach einem Corona-Impfobligatorium vor allem in den Medien erhoben. Die deutsche Bundesregierung hat sich noch im April 2022 (bereits unter der Dominanz der Omikron-Variante) vergeblich darum bemüht, ein allgemeines Impfobligatorium zu legiferieren; Österreich
hat seine allgemeine strafbewehrte Impfpflicht zunächst beschlossen und dann 2022 wieder sistiert.
Grundrechtliche Problematik
Bei aller berechtigter gesundheitspolitischer Besorgnis (teilweise begleitet von grosser medialer Aufregung) muss aus rechtsstaatlicher Warte bedacht werden, dass ein strafbewehrtes Corona-Impfobligatorium massive grundrechtliche Konsequenzen nach sich zöge. Die Menschen könnten nicht mehr frei wählen, welche Pharmaprodukte ihnen zu welchem Zweck in den Körper gespritzt werden; für die freie Ausübung ihrer diesbezüglichen elementaren Grundrechte würde ihnen sogar eine Bestrafung drohen. In Österreich z.B. waren massive kumulierbare Geldstrafen von mehreren tausend Euro vorgesehen. Ein solcher Schwersteingriff in die elementaren Grundrechte bedarf einer äusserst sorgfältigen juristischen Legitimationsprüfung und Interessenabwägung. Das muss besonders bei neuartigen Pharmaprodukten gelten, im vorliegenden Fall mRNA-Präparaten, die erst provisorisch und ohne klinische Doppelblindstudien zugelassen waren, bei denen noch wenig Erfahrungen betreffend immunologische Langzeitfolgen und unerwünschte Nebenwirkungen hatten gesammelt werden können und für deren massenweisen Einsatz die Produzenten auch noch jegliche Haftung ablehnten.
Interdisziplinäre Untersuchung an der Universität St.Gallen
Die Coronakrise hat die ganze Welt ab 2019 sehr massiv und unvorbereitet getroffen. Auch in der Schweiz hat sie die Justiz vor grosse Herausforderungen gestellt, die sie in unserem Land rasch und inhaltlich zumeist massvoll und überzeugend löste (vgl. dazu Marc Forster, Strafrecht, Justiz und Menschenrechte in Zeiten von Covid-19, SJZ 2020, S. 451 ff.). Demgegenüber hat sich die Rechtswissenschaft (im gesamten deutschsprachigen Raum) zur Problematik der Corona-Massnahmen nicht gerade mit "Lorbeeren" überhäuft. Als eine der (ziemlich überschaubaren) positiven Ausnahmen sei hier die pionierhafte Untersuchung von Silvia Behrendt/Amrei Müller genannt (auf: Jusletter vom 20. Dezember 2021 und 24. Januar 2022). Soeben ist auch ein Forschungsbeitrag der Universität St. Gallen erschienen, welcher aus rechtsmedizinisch-juristischer Perspektive die Grundrechtskonformität einer strafbewehrten Corona-Impfpflicht untersucht (Fabienne Gmünder, Masterarbeit Uni SG 2023). Interdisziplinäre Forschungsleiter waren der Rechtsmediziner Prof. Dr.med. Roland Hausmann und der Strafrechtler Prof. Dr.iur. Marc Forster.
Resultate
Die St.Galler Untersuchung unterscheidet zwischen den tatsächlichen Gegebenheiten unter der Dominanz der Delta-Variante des
SARS-CoV-2-Virus (mit ihren für den Krankheitsverlauf von Covid-19 ebenfalls besonders gefährlichen Vorläuferinnen bis ca. Herbst 2021) und der seither dominanten
Omikron-Variante. Aus juristisch-rechtsmedizinischer Sicht ist diese Differenzierung wichtig, da sich unter den Gesichtspunkten der Geeignetheit, Notwendigkeit und Zumutbarkeit
eines Impfobligatoriums diverse Parameter und Erkenntnisse verändert haben. Der Forschungsbeitrag kommt zum Schluss, dass ein
generelles Impfobligatorium selbst unter der Delta-Variante grundrechtswidrig (gewesen) wäre (MA S. 45 f., 55). Angesichts möglicher (wenn auch seltener)
schwerer Nebenwirkungen und "Impfschäden" und der deutlich selteneren schweren Krankheitsverläufe bei jungen Personen, wird eine strafbewehrte Impfpflicht für
junge Menschen als unverhältnismässig eingestuft (S. 46, 55). Unter dem Einfluss einer relativ gefährlichen Virusvariante (Delta und ähnliche)
wird hingegen ein partielles gesetzliches Impfobligatorium für professionelles Pflegepersonal, das in engem Körperkontakt mit betagten oder
gesundheitlich besonders vulnerablen Personen steht, für zumutbar und
vertretbar angesehen. Ebenso wird für gefährliche Varianten eine Impfpflicht für betagte Personen ins Auge gefasst. Allerdings räumt die Untersuchung ein, dass es
verfassungsrechtlich und kriminalpolitisch schwierig wäre, für den schweren grundrechtlichen Eingriff einer strafbewehrten Impfpflicht ein nichtdiskriminierendes
und sachlich überzeugendes Alters- und Vulnerabilitätskriterium festzulegen.
Eignung der "Impfung"
Zentral ist die juristische Prüfung der Verhältnismässigkeit eines (allgemeinen oder partiellen) Impfobligatoriums. Bei der Eignung der Massnahme ist zunächst zu untersuchen, welches gesetzgeberische Ziel mit einer mRNA-Impfung gegen Covid-19 realistischerweise erreichbar ist. Eine sterilisierende Impfung im engeren Sinne (wie etwa gegen Masern) ist im Falle des Coronavirus nicht möglich. Vielmehr schützt die Impfung (nur aber immerhin) vor schweren Verläufen und sie hemmt auch in gewissem Umfang die Übertragbarkeit des Virus. Im Fokus steht daher als realistisches Ziel die Vermeidung einer grossen Welle von schweren Erkrankungen mit der Folge einer drohenden Überlastung der Spitäler (vgl. MA S. 39). Gestützt auf die bisherigen medizinischen Forschungsresultate zur Wirksamkeit der mRNA-"Impfung" zeigt sich dabei folgendes Bild:
Der Impfstoff von Pfizer-BioNTech gegen SARS-CoV-2-Infektionen (und auch
spezifisch gegen Varianten) lässt bei vollständig geimpften Erwachsenen innerhalb von sechs Monaten nach. Tartof et al. stellten fest, dass die
Wirksamkeit gegen Nicht-Delta-Varianten einen Monat nach vollständiger Impfung bei 97% lag und nach fünf Monaten auf bis zu 67% abfiel. Für die
Delta-Variante belief sich die Wirksamkeit einen Monat nach vollständiger Impfung auf 93%, sank jedoch nach fünf Monaten auf 53%. In zahlreichen Studien wurde
nachgewiesen, dass Antikörper, die durch Impfungen hervorgerufen werden, insb. die jüngsten Virusvarianten weniger effektiv neutralisieren können. Eine US-amerikanische Studie von
Weinberger zeigt, dass die Wirksamkeit der mRNA-Impfstoffe gegen eine Infektion mit SARS-CoV-2 nach 8 Monaten von über 90% auf 70-80% abfällt; jedoch bleibt die
Wirksamkeit gegen Hospitalisierung nahezu konstant bei rund 90%. Personen, die mehr als sechs Monate zuvor zwei Dosen mRNA-Impfstoff erhalten haben, sind besser
gegen Delta als gegen Omikron geschützt, wobei die dritte Dosis die Schutzwirkung gegen Hospitalisierung auf 94% (Delta) bzw. 90% (Omikron) erhöht (vgl. MA S.
13).
Was die Nebenwirkungen des "Spikens" betrifft, hatte der Generaldirektor der
WHO noch in einer offiziellen Pressemitteilung vom 1. Dezember 2021 sämtliche Sicherheitsbedenken, die sich aus einer grossen Anzahl von Verdachtsmeldungen an die
Frühwarn-Datenbank VigiAccess über Nebenwirkungen nach der COVID-19-Impfung ergeben haben, mit Hinweis auf die hohen Impfraten rundweg zurückgewiesen. Demgegenüber hat SWISS-MEDIC in der
Zeitspanne vom 1. Januar 2021 bis zum 22. Februar 2023 Verdachtsmeldungen von unerwünschten Wirkungen der COVID-19-Impfungen in der Schweiz ausgewertet. Insgesamt wurden 16'855
Verdachtsfälle gemeldet, wobei 10'365 (61.5%) als nicht schwerwiegend und 6'490 Verdachtsfälle (38.5%) als
schwerwiegend eingestuft wurden. Verabreicht wurden in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein 16'981'243 Impfdosen. Daraus ergibt sich eine Melderate von 0.99 pro 1'000
verabreichten Dosen (MA S. 14 f.). Hier ist allerdings noch zusätzlich einer nicht unerheblichen Dunkelziffer Rechnung zu tragen. Jedenfalls erscheint es nicht ohne weiteres
garantiert, dass impfende Ärzte und Medizinalpersonal auch alle schweren Verdachtsfälle melden, zumal die damit verbundenen Haftungsfragen und
strafrechtlichen Probleme (etwa Fragen zur ausreichenden Aufklärung und zur rechtswirksamen Einwilligung) juristisch noch ungeklärt erscheinen.
Bedenklich wirkt sich aus juristischer Sicht aus, wenn vorher gesunde Menschen ohne schweres Covid-19-Erkrankungsrisiko erst nach einer behördlich empfohlenen oder gar gesetzlich obligatorischen Impfung schwerwiegend anderweitig erkranken. In den meisten skandinavischen Ländern wurde die Impfung von jungen Männern aufgrund zahlreicher Myokarditis-Verdachtsfälle ab Frühling 2021 sukzessive gestoppt. Weitere schwere (wenn auch seltene) Nebenwirkungen aus der medizinischen Praxis (wie z.B. Schlaganfälle, Gürtelrosen, allergische Schocks, Karzinom-Rezidive usw.) bilden noch Gegenstand von internationalen Untersuchungen.
Erforderlichkeit
Weiter untersucht der Forschungsbeitrag (unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit des Grundrechtseingriffes), welche medizinischen Notlage mit einem Impfobligatorium gebannt werden soll und ob dafür auch mildere Massnahmen ausreichen könnten. Die Virusvarianten bis Delta (dominant bis ca. Sommer 2021) brachten das Gesundheitssystem (2019-2020) nahe an seine Belastungsgrenzen. Seit Omikron (ca. Herbst 2021) haben sich die massgeblichen Fakten merklich verändert. Zum einen sind deutlich weniger schwere Verläufe zu verzeichnen, sodass wegen Covid-19 kein Gesundheitsnotstand in den Notfallstationen der Spitäler auftrat. Zum anderen sind auch die Behandlungsmöglichkeiten für schwere Erkrankungen unterdessen deutlich verbessert worden, zumal Erfahrungen gesammelt und medizinische Fortschritte erzielt werden konnten. Als mildere Massnahmen (im Vergleich zum Impfobligatorium) bieten sich – zumindest seit der Dominanz von Omikron – etwa ein Testobligatorium und ein Quarantäne-Obligatorium für positiv Getestete an, wie sie unter der Geltung der Covid-19-Gesetzgebung bereits vorübergehend zur Anwendung kamen (MA S. 42 f.).
Die St.Galler Untersuchung berücksichtigt auch Studien zur Impfbereitschaft der Bevölkerung. Das Vertrauen der Schweizerinnen und Schweizer in ihre Institutionen ist im internationalen Vergleich zwar generell hoch. Eine hohe Bereitschaft zur freiwilligen Corona-Impfung hängt aber, neben vertrauenswürdigen und wirksamen Impfstoffen, auch noch wesentlich davon ab, dass ausreichend und objektiv über die Vor- und Nachteile der Impfung informiert wird. Nicht nur in der Schweiz haben die verantwortlichen Behörden nur sehr spärlich und vage über potenzielle Nebenwirkungen informiert, auch als bereits bekannt war, dass Corona-Impfungen zu schweren Nebenwirkungen führen können. Laut einer dänischen Studie kann eine transparente Kommunikation, die auch negative Aspekte nennt, zwar die Akzeptanz der Impfung etwas schmälern, jedoch stärkt sie gleichzeitig das Vertrauen in die Gesundheitsbehörden und wirkt der Verbreitung von sogenannten "Verschwörungstheorien" entgegen. Fraglich erscheint, ob es überhaupt zielführend sein kann, mittels massivem indirektem Zwang (bis hin zum Ausschluss vom kulturellen und sozialen Leben) bzw. unter Androhung von Bussen oder anderen Nachteilen die Willensfreiheit der Bevölkerung bei der Frage von Impfungen beeinflussen zu wollen (MA S. 16 f., mit Hinweisen auf Hehli und Vokinger/Rohner).
Zumutbarkeit
Als entscheidend für die Frage der grundrechtlichen Zulässigkeit eines Impfobligatoriums erweist sich das Kriterium der Zumutbarkeit (sog. "Zweck-/Mittel-Relation" bzw. Verhältnismässigkeit im engeren Sinne). Zunächst ist zu prüfen, in welches Grundrecht eingegriffen wird: Die medizinische Selbstbestimmung und das Recht, selber entscheiden zu dürfen, welche Substanz man wann in den Körper gespritzt erhält, gehört zum Kernbereich der Menschenrechte. Ein Impfobligatorium greift aber nicht nur in die körperliche sondern auch in die geistige Unversehrtheit des Menschen ein; sie umfasst das Recht, Situationen eigenständig zu bewerten und in Übereinstimmung mit dieser Bewertung zu handeln (MA S. 20, u.a. mit Hinweis auf Zeder). Die Durchführung einer Impfung ist nur dann gestattet, wenn zuvor eine ausführliche Aufklärung des Impflings erfolgt ist und dieser daraufhin seine Zustimmung zur Durchführung der Impfung erteilt hat (MA S. 21). Dabei ist auch auf mögliche Nebenwirkungen einer Impfung hinzuweisen. Nach herrschender Lehre und Praxis läge ohne eine solche Einwilligung in einen invasiv-medizinischen Eingriff (sog. "informed consent") sogar – per se – eine strafbare Körperverletzung vor.
Besonders heikel wirkt sich vor diesem grundrechtlichen Hintergrund sogenannter indirekter staatlicher Zwang aus. Dazu gehörten der zeitweise komplette Ausschluss von Nichtgeimpften – selbst mit negativen Corona-Tests – vom sozialen und kulturellen Leben (etwa Bibliotheken, Theater, Fitnesszentren, Schwimmbäder, Gottesdienste, Kinos, Restaurants, Bars oder Diskotheken). In Deutschland wurde 2G sogar an einigen Hochschulen eingeführt. Dass die Studierenden an Freiburger (Ue./Schweiz) Hochschulen die Testkosten (mit monatelangen Tests als Zulassungsvoraussetzung) selber bezahlen mussten, hat das Bundesgericht als verfassungswidrig eingestuft. Die St.Galler Untersuchung äussert auch Kritik an den vom Bundesrat im Dezember 2021 eingeführten 2G-Regeln. Im Klartext bedeutete 2G, dass infizierte und kranke (aber "geimpfte") Personen ungehindert und ohne Tests Diskotheken, Bars und Gottesdienste besuchen konnten, während mit grosser Wahrscheinlichkeit gesunde (negativ auf das Coronavirus getestete) Ungeimpfte ausgeschlossen wurden. Diese kontraproduktive (wenn nicht gar gefährliche) Regelung wurde zwar im Namen einer angeblichen "Epidemiebekämpfung" erlassen; ihr erkennbarer Zweck erschöpfte sich jedoch in der zusätzlichen Verschärfung des gesellschaftlichen Drucks auf Ungeimpfte bzw. in deren sozialer Stigmatisierung.
Beim Kriterium der (partiellen) Zumutbarkeit einer strafbewehrten Impfpflicht ist zu unterscheiden, welche Bevölkerungsgruppen zu dem medizinisch-gesellschaftlichen Notstand, der durch mRNA-Impfungen realistischerweise vermieden werden soll, besonders stark beitragen. Primär sind dies betagte und gesundheitlich vulnerable Menschen. Gleichzeitig profitieren diese (statistisch gesehen) aber auch individuell mehr vom Impfschutz, da sie ohne Impfung besonders stark von schweren Krankheitsverläufen betroffen sind (MA S. 42). Kinder und junge Menschen hingegen haben im Durchschnitt deutlich weniger schwere Krankheitsverläufe. Hinzu kommt noch, dass bei jungen Menschen statistisch auffällig viele erhebliche Nebenwirkungen auftreten, weshalb (etwa ab Frühling 2021) die Corona-Durchimpfung junger Menschen in Skandinavien praktisch eingestellt wurde. Das Verhältnis zwischen Nutzen und Risiko wird für Junge auch noch dadurch verschlechtert, dass erstens (in eher seltenen Einzelfällen) sogar schwere Impfschäden auftreten können (MA S. 42) und zweitens die noch nicht ausreichend erforschten Langzeitwirkungen für Junge eine grössere Bedeutung haben als für betagte Menschen.
Fazit
So sehr eine vorsichtige und restriktive Pandemiepolitik im Zeitraum 2020-21 grundsätzliches Verständnis verdient hat, müssen
massiver indirekter Impfzwang, behördlich-mediale Desinformationen, fragwürdige 2G-Regelungen und strafbewehrte
Impfobligatorien (ab ca. Herbst 2021) aus rechtsmedizinischer und rechtswissenschafticher Warte kritisch analysiert und bewertet werden. Den
Grundrechten ist auch – und gerade – in "pandemisch-phobischen Zeiten" Nachachtung zu verschaffen. Als mühsam erkämpfte zivilisatorische Errungenschaften sind
sie zu wertvoll, um auf Worthülsen einer "Schönwetterpolitik" und wohlklingende Stichworte für Festreden reduziert zu werden (kritisch zum diesbezüglichen Grundrechtsrelativismus in einer phobisch mediatisierten Gesellschaft s. Marc Forster, Kriminalpolitik und
Kriminalpraxis vor alten und neuen Herausforderungen, in: Genillod et al. [Hrsg.], SAK-Tagung Interlaken 2021, Bd. 39, Basel 2022, S. 3 ff., 12 f.).
© Prof. Dr. Marc Forster / 7. September 2023
Do
23
Mär
2023
Am 1. Januar 2024 wird das revidierte Entsiegelungsrecht in Kraft treten (nArt. 248-248a StPO; im Parlament verabschiedet am 17. Juni 2022, vgl. BBl 2022 1560, S. 8 f.). Das Kernproblem des bisherigen Rechts bildeten die lange Verfahrensdauer bzw. das Missbrauchspotential für Verfahrensverschleppungen. Zur Beschleunigung der Entsiegelungsverfahren sollen künftig insbesondere die restriktivere Definition der siegelungsfähigen Aufzeichnungen und Gegenstände sowie Vorschriften zur Straffung des Verfahrens beitragen.
Mit der Ausdehnung der Siegelungsberechtigung und der Verfahrensteilnahme auf Drittpersonen, welche nicht Inhaberinnen der sichergestellten Aufzeichnungen und Gegenstände sind, aber eigene geschützte Geheimnisrechte (aufgrund von Art. 264 Abs. 1 StPO) anrufen können, wird die betreffende Praxis des Bundesgerichtes in der StPO verankert. Als Beispiel sei der Fall eines Arztes genannt, in dessen Praxis Patientenunterlagen sichergestellt werden.
Nach der neuen Regelung kann primär der Arzt als Inhaber der Aufzeichnungen und Träger des Berufsgeheimnisses die Siegelung beantragen (nArt. 248 Abs. 1 Satz 1 StPO). Da für die Staatsanwaltschaft (StA) aber erkennbar ist, dass hier eigene höchstpersönliche, intime Geheimnisse die mitbetroffenen Patientinnen und Patienten tangiert sind, hat die StA diesen als berechtigten Personen ebenfalls Gelegenheit zu geben, die Siegelung zu verlangen (nArt. 248 Abs. 2 StPO). Dies muss zumindest dann gelten, wenn der Arzt selber kein Siegelungs-begehren gestellt hat. Soweit die Patienten entsprechende eigene Geheimnis-rechte (Arzt- und Patientengeheimnis) geltend machen, sind sie als berechtigte Personen zu behandeln und im Entsiegelungsverfahren als Parteien beizuziehen (nArt. 248a Abs. 3 und Abs. 5 StPO). Falls erst das Entsiegelungsgericht erkennt, dass hier neben dem Arzt (als Inhaber) auch die Patienten selbstständig berechtigt sind, so sind Letztere über das Siegelungsbegehren des Arztes zu informieren (nArt. 248a Abs. 2 StPO) und als berechtigte Personen ins Verfahren beizuziehen.
Gemäss der klaren Regelung von nArt. 248 Abs. 2 StPO hat die StA auch den eigenständig berechtigten Drittpersonen, im Beispiel also den mitbetroffenen Patientinnen und Patienten, Gelegenheit zu geben, die Siegelung zu verlangen. Selbst wenn erst das Entsiegelungsgericht erkennt, dass sie (betreffend Patien-tengeheimnisse) berechtigt sind, müssen sie noch nachträglich zum Entsiegelungsverfahren beigezogen werden (nArt. 248a Abs. 2-5 StPO). Es fragt sich, ob dieser selbstständige Rechtsschutz auch für Klienten von Anwälten gelten muss. Nach der im hier vertretenen Auffassung ist dies jedenfalls dann zu bejahen, wenn der Anwalt als Inhaber kein Siegelungsbegehren gestellt hat. Die mitbetroffenen Klienten können eigene Interessen an der Wahrung des Anwaltsgeheimnisses haben (die den Anwalt nicht tangieren). Sofern der Anwalt ein Siegelungs-begehren stellt, ist er als Inhaber an den bei ihm sichergestellten Aufzeichnungen "berechtigt" und kann auch die Interessen seiner Klientschaft wahren. Da die neue Regelung diesbezüglich die bisherige Praxis des Bundesgerichtes abbildet, ist daraus keine spürbare Beschleunigung und Vereinfachung des Verfahrens zu erwarten.
Auch die dreitägige Frist für das Siegelungsbegehren des Inhabers oder der Inhaberin (nArt. 248 Abs. 1 Satz 2 StPO) trägt nur wenig zur gesetzgeberisch angestrebten Verfahrensbeschleunigung bei. Schon nach der bisherigen Rechtsprechung war das Siegelungsbegehren grundsätzlich innert wenigen Tagen zu stellen.
Von erheblicher (normativer) Bedeutung ist die vom Parlament bewusst vorgenommene Einschränkung der möglichen Siegelungsgründe und Durchsuchungshindernisse. Der Siegelung – und damit einem möglichen Durchsuchungs-hindernis im Verfahren nach nArt. 248 f. StPO – unterliegen nach der im Parla-ment verabschiedeten Fassung nur noch Aufzeichnungen oder Gegenstände, die "aufgrund von Art. 264 StPO nicht beschlagnahmt" werden dürfen. Einer Entsiegelung und Durchsuchung können somit künftig nur noch die (allgemeinen) gesetzlichen Zwangsmassnahmenhindernisse von Art. 197 StPO in Verbindung mit einem besonderen Beschlagnahmehindernis gemäss Art. 264 Abs. 1 StPO entgegen stehen. Zwar wurde diese Einschränkung der gesetzlichen Siegelungs-gründe im Gesetzgebungsverfahren ausführlich diskutiert (vgl. Botschaft 2019, S. 6750 f.; Votum BR Keller-Sutter, AB NR 2021 S. 618) und in der Literatur teilweise kritisiert. Der Gesetzgeber hat sich jedoch in Kenntnis dieser Einwände und Gegenvorschläge für die restriktive Lösung (gemäss Expertengruppe NR 2021) entschieden.
Zeugnis- und Aussageverweigerungsrechte ausserhalb der Berufs- und Amtsgeheimnisse nach Art. 264 Abs. 1 lit. a und c-d StPO bilden somit künftig keine möglichen Entsiegelungshindernisse mehr. Das gilt etwa für alle Zeugnis- und Aussageverweigerungsrechte ausserhalb von Art. 170-173 StPO, nämlich solche aufgrund persönlicher Beziehungen gemäss Art. 168 f. StPO, für den nemo tenetur-Grundsatz (Art. 113 Abs. 1 StPO), das Bankkundengeheimnis oder für allgemeine Geschäfts- und Fabrikationsgeheimnisse. Falls kein Siegelungsgrund (geschütztes Geheimnisinteresse) nach Art. 264 Abs. 1 StPO angerufen werden kann, bildet auch der akzessorische Einwand der Untersuchungsrelevanz bzw. der fehlenden Verhältnismässigkeit (Art. 197 Abs. 1 lit. c StPO) kein Entsiegelungs-hindernis. Das Entsiegelungsverfahren dient nicht der allgemeinen Prüfung der der Verhältnismässigkeit von Zwangsmassnahmen, sondern dem Geheimnis-schutz im Hinblick auf die Durchsuchung von Aufzeichnungen und Datenträgern (Art. 246 StPO). Dies gilt schon nach der ständigen bisherigen Praxis des Bundesgerichtes. Die allgemeinen Zwangsmassnahmen-voraussetzungen von Art. 197 StPO sind folglich nur bei Substanziierung von gesetzlich geschützten Geheimnissen (zusätzlich) zu prüfen. Auf ein Entsiegelungsgesuch ist hingegen (mangels gültigem Siegelungsbegehren) nicht einzutreten, falls keine gesetzlich geschützten Geheimnisrechte wenigstens kursorisch angerufen wurden. Falls sich erst nach Substanziierung und näherer Prüfung im Entsiegelungsverfahren ergibt, dass keine Geheimnisse gemäss Art. 264 Abs. 1 StPO tangiert sind, ist das Entsiegelungsgesuch gutzuheissen.
Auch hier sind die praktischen Auswirkungen der Revision eher gering, da schon nach bisheriger Rechtsprechung die primären Entsiegelungshindernisse von Art. 197 Abs. 1 i.V.m. Art. 264 Abs. 1 StPO stark im Vordergrund standen. Weder das Bankkundengeheimnis (BankG, mit Vorbehalt der strafrechtlichen Beweiserhe-bung) noch der nemo tenetur-Grundsatz (mit Einschränkung in Art. 113 Abs. 1 Satz 3 StPO) wurden in der Praxis als Entsiegelungshindernisse anerkannt. Neben den besonderen gesetzlichen Zeugnis- und Aussageverweigerungsrechten (Berufs- und Amtsgeheimnisse) nach Art. 264 Abs. 1 lit. a und c-d StPO verbleiben somit praktisch nur noch für den Persönlichkeitsschutz relevante Privat-geheimnisse, nämlich persönliche Aufzeichnungen und Korrespondenz der beschuldigten Person, als möglicher Siegelungsgrund (Art. 264 Abs. 1 lit. b StPO). Diese Privatgeheimnisse sind allerdings noch gegenüber dem jeweiligen Strafver-folgungsinteresse abzuwägen.
Gestützt auf den Entwurf 2019 und den Vorschlag der Rechtskommission des Nationalrates (2021) wird das Zwangsmassnahmengericht neu auch im erstin-stanzlichen Gerichtsverfahren für Entsiegelungen zuständig sein. Zwar erscheint es inkonsequent, dass im Berufungsverfahren (nArt. 248a Abs. 1 lit. b StPO spricht etwas erratisch von "den anderen Verfahren") die Verfahrensleitung des Berufungsgerichts zuständig bleibt. Die betreffende Kritik in Teilen der Literatur ist allerdings in die Revision nicht eingeflossen.
Grössere Auswirkungen auf die Beschleunigung und Verfahrensstraffung wird nArt. 248a StPO nach sich ziehen. Absatz 3 der Bestimmung sieht vor, dass die berechtigte Person schriftliche "Einwände gegen das Entsiegelungsgesuch" innert einer nicht erstreckbaren (gesetzlichen) Frist von 10 Tagen vorzubringen hat. Da in der bisherigen Praxis solche Fristen oft mehrmals und über mehrere Wochen und Monate hinweg richterlich erstreckt wurden, trägt diese neue Bestimmung zur Beschleunigung bei. Analoges gilt grundsätzlich auch für die gesetzliche Entscheidungsfrist von ebenfalls 10 Tagen (nach Eingang der Stellungnahme) in "spruchreifen" Fällen (Abs. 4), das heisst, wenn keine richterliche Triage der gesiegelten Aufzeichnungen nötig ist und auch sonst kein zwingender sachlicher Grund für eine mündliche Entsiegelungsverhandlung vorliegt. Bei solchen Entscheidungsfristen stellt sich allerdings regelmässig die Frage nach deren blossem Ordnungscharakter bzw. nach den Folgen einer Missachtung der Frist, insbesondere in sachlich begründeten Fällen. Analog zu den Entscheidungsfristen bei Haftverfahren wird eine sachlich begründete und massvolle Überschreitung der Frist nicht ohne weiteres zur Rückgabe der gesiegelten Aufzeichnungen an die Inhaber führen.
Die weiteren Fristvorschriften (von nArt. 248a Abs. 5 StPO) betreffend Durch-führung einer Entsiegelungsverhandlung innert 30 Tagen (nach Eingang der Stellungnahme in nicht "spruchreifen" Fällen) und den "unverzüglichen" Entsie-gelungsentscheid (nach durchgeführter Verhandlung) werden die erstinstanz-lichen Verfahren in der Regel ebenfalls deutlich beschleunigen. Auch die 30-Tages-Frist und die Vorschrift eines "unverzüglichen" Entscheides (innert Tagen bis wenigen Wochen) dürften allerdings blossen Ordnungscharakter in dem Sinne haben, dass ihre Missachtung bzw. massvolle Überschreitung in sachlich begrün-deten Fällen nicht (per se) zur Rückgabe der gesiegelten Aufzeichnungen führt.
In einem neuen Forschungsbeitrag der Universität St. Gallen wird der Reformweg des Entsiegelungsrechts analysiert, vom Vorentwurf 2017 der Expertengruppe BJ, über den darauf gestützten Entwurf des Bundesrates (2019) und die Änderungsvorschläge der Rechtskommission des Nationalrates (2021) bis zur Schlussabstimmung der Räte am 17. Juni 2022 (vgl. Andrina Singenberger, Probleme des Entsiegelungsrechts im Lichte der Revision StPO, Masterarbeit Uni SG, November 2022, S. 37 f.). Dabei werden die bisherige Rechtslage, Kritik und Revisionsvorschläge der Fachliteratur sowie die erfolgte Reform einer kritischen Würdigung unterzogen (vgl. dazu MA S. 36-60).
© Prof. Dr. Marc Forster, RA / 23. März 2023
Nachtrag:
Beschwerde ans Bundesgericht in Entsiegelungssachen auch nach neuem Recht (nArt. 248a StPO, nArt. 80 Abs. 2 BGG):
Wegen einer irrtümlichen Äusserung in einem Teil der Materialien ist in Fachkreisen die Frage aufgeworfen worden, ob nach Inkrafttraten der neuen StPO weiterhin die Beschwerde an das Bundesgericht gegen Entsiegelungs-entscheide der Zwangsmassnahmengerichte zulässig ist. Die Frage ist eindeutig zu bejahen:
Herr B. Stadelmann (Bundesamt für Justiz) äusserte sich anlässlich der Sitzung der nationalrätlichen Kommission für Rechtsfragen vom 8./9. Oktober 2020 missverständlich ("ein Verzicht auf das Prinzip der "double instance" - was bedeutet, dass ein Entsiegelungsentscheid des Zwangsmassnahmengerichts endgültig ist und nicht an das Bundesgericht weitergezogen werden kann"). Der Irrtum wurde in den Beratungen der Bundesversammlung leider teilweise kolportiert (Votum von Frau NRin C. Markwalder).
Die betreffenden Äusserungen beruhen auf einem juristischen Missverständnis. Die "double instance" nach Art. 80 Abs. 2 Satz 3 BGG
bezieht sich auf den kantonalen Instanzenzug. Schon nach jetzigem Recht sagt das Gesetz, dass es keine kantonale Beschwerdeinstanz braucht und die direkte Beschwerde ans BGer
zulässig ist, wenn das ZMG "als einzige kantonale Instanz entscheidet". Die neue Fassung (nArt. 80 Abs. 2 BGG) spricht von "letzten kantonalen Instanzen" und sieht weitherhin
vor, dass es (ausnahmsweise) keine kantonale Rechtsmittelinstanz braucht, wenn kantonale Instanzen "nach der Strafprozessordnung als einzige kantonale Instanz entscheiden". Das
trifft auf Entsiegelungsentscheide des ZMG auch nach neuem Recht weiterhin zu (nArt. 248a Abs. 4 StPO: "endgültig").
Damit hat sich für den Weiterzug von Entsiegelungsentscheiden des ZMG an das BGer nach neuem BGG nichts geändert. Auch aus den Materialien ergibt sich im Gesamtkontext deutlich, dass das
Parlament beim Entsiegelungsrecht den bisherigen Instanzenzug vom ZMG an das BGer beibehalten wollte. In früheren Entwürfen (VE 2017, Entwurf 2019) war sogar noch vorgeschlagen
worden, zusätzlich den doppelten kantonalen Instanzenzug vorzuschreiben, um das BGer indirekt etwas zu entlasten. Die Beschwerde ans BGer abzuschaffen, war hingegen nie
vorgesehen. Die Aussage, wonach ein "Verzicht auf die double Instance" bedeute, "dass ein Entscheid des ZMG endgültig" sei "und nicht an das BGer weitergezogen werden" könne, ist juristisch
falsch und verkennt das Prinzip der double instance. Dieses bezieht sich auf den kantonalen Instanzenzug. Wenn im Sinne von nArt. 80 Abs. 2 BGG und nArt. 248a StPO auf die double instance
verzichtet wird, fällt nicht die BGG-Beschwerde ans BGer dahin, sondern die StPO-Beschwerde an eine kantonale Beschwerdeinstanz. Diese Rechtslage bestand schon nach bisherigem Recht und wird auch
nach neuem Recht so bleiben. Alles andere widerspräche dem klaren Wortlaut des Gesetzes, der BGer-Praxis und den Materialien.
© Prof. Dr. Marc Forster, RA / 21. April 2023
Do
20
Okt
2022
Am 6.10.2022 ist die Referendumsfrist gegen die Revision der Eidg. Strafprozessordnung unbenutzt abgelaufen. Von der Öffentlichkeit und den Medien fast unbemerkt, hat das Parlament am 17.6.2022 den umstrittenen und äusserst knapp ausgefallenen Entscheid gefällt, das bisherige Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft gegen die Haftentlassung von hochgefährlichen oder stark fluchtgefährdeten Beschuldigten abzuschaffen (BBl 2022 1560, 7). Nur noch die beschuldigte Person wird (ab Inkrafttreten der neuen Bestimmungen) die Anordnung oder Verlängerung von Untersuchungs- und Sicherheitshaft anfechten können.
Bisherige Rechtslage und Praxis
Die Strafprozessordnung sieht in Art. 222 gegen die Anordnung, Verlängerung und Aufhebung von Untersuchungs- oder Sicherheitshaft eine Beschwerdemöglichkeit der verhafteten Person vor. Zur Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft sprach sich Art. 222 StPO bisher nicht aus. Diese ergibt sich allerdings klar aus Art. 111 Abs. 1 i.V.m. Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 BGG. Das Bundesgericht interpretierte daher Art. 222 StPO von 2011 bis heute nicht als «qualifiziertes Schweigen» des Gesetzgebers und bejahte eine Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft (BGE 147 IV 123, 124 f. E. 2.2; 138 IV 92, 94 E. 1.1; 137 IV 22, 23 E. 1.2–1.4; 137 IV 87, 89 E. 3; 137 IV 230, 232 E. 1; 137 IV 237, 240 E. 1.2; 137 IV 340, 345 E. 2.3.2. vgl. Forster, Jusletter 26.3.2018, N 2–19; Micheroli/Tag, Jusletter 16.5.2022, N 11–51). Auch nach Erlass des neuen Art. 222 StPO am 17.6.2022 hat das Bundesgericht – bis zum künftigen Inkrafttreten der Revision – an seiner bisherigen Rechtsprechung festgehalten (vgl. z.B. Bundesgerichtsurteil 1B_441/2022 vom 13.9.2022, E. 2).
Ein fragwürdiger kriminalpolitischer Zufallsentscheid
Mit der StPO-Teilrevision vom 17.6.2022 beschränkt der Gesetzgeber das Haft-Beschwerderecht nach Art. 222 StPO nun «einzig» auf die inhaftierte Person. Folglich strich er auch die sich aus Art. 111 Abs. 1 i.V.m. Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 BGG ergebende Legitimation aus dem Gesetz (BBl 2022 1560, 17). Dieser Abschaffung des Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft war ein heftiges kriminalpolitisches Tauziehen im Parlament vorausgegangen: Sowohl der Vorentwurf (2017) als auch der Entwurf (2019) des Bundesrates sahen noch eine ausdrückliche Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft vor (Botschaft, BBl 2019, 6794; vgl. Forster, Jusletter 2018, N 14; Micheroli/Tag, Jusletter 2022, N 4 f.). Die Rechtskommission des Nationalrates hat mit einer hauchdünnen Zufallsmehrheit (13:12) eine Abschaffung des Haft-Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft – sowohl nach StPO als auch nach Bundesgerichtsgesetz – vorgeschlagen. Der Nationalrat ist diesem Vorschlag (als Erstrat) am 18.3.2021 gefolgt, mit dem ebenfalls sehr engen Resultat von 98:89 Stimmen (AB 2021 N 613 f.; vgl. Micheroli/Tag, Jusletter 2022, N 6–8). Der Ständerat folgte dem Nationalrat am 14.12.2021 nicht. Die «Chambre de réflexion» wollte das Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft beibehalten (AB 2021 S 1361 f., 1370, 1372; vgl. Micheroli/Tag, Jusletter 2022, N 9). Im Rahmen der Differenzbereinigung (ab 14.1.2022) und anlässlich seiner zweiten Beratung am 2.3.2022 hielt der Nationalrat aber an seinem Entscheid fest (AB 2022 N 75; vgl. Micheroli/Tag, Jusletter 2022, N 10). Bei der Schlussabstimmung vom 17.6.2022 wurde der Vorschlag des Nationalrats von der Bundesversammlung angenommen.
Systemwidrigkeiten und Risiken
Welchen Risiken die sehr knappe Parlamentsmehrheit damit die Bürgerinnen und Bürger aussetzt, wird künftig die Praxis zeigen müssen (vgl. dazu Forster, Jusletter 26.3.2018, N 1–13; Micheroli/Tag, Jusletter 16.5.2022, N 11–51). Der in der Revision von 2022 erfolgte Ausschluss der Staatsanwaltschaft von der StPO-Haftbeschwerde ist im Übrigen mehrfach systemwidrig: Sogar in der Verwaltungs-Strafrechtspflege ist die Untersuchungsbehörde zur Haftbeschwerde ausdrücklich legitimiert (Art. 51 Abs. 6 VStrR; vgl. Basler Kommentar VStrR [2020]-Graf, Art. 51 N 98–104). Nur schwer einzusehen ist sodann, weshalb die Staatsanwaltschaft gemäss Art. 231 Abs. 2 lit. b StPO beantragen kann, Haftentlassungen – ausgerechnet – des erkennenden erstinstanzlichen Strafgerichtes korrigieren zu lassen (durch die Verfahrensleitung des Berufungsgerichtes), während Haftentlassungen der Zwangsmassnahmengerichte für die Staatsanwaltschaft (nach Art. 222 StPO) unanfechtbar sein sollen. Angesichts der ebenfalls ablehnenden Haltungen der Expertengruppe (VE), des Bundesrates, des Bundesgerichtes und des Ständerates haben faktisch eine Stimme Mehrheit in der Rechtskommission des Nationalrates bzw. 9 Stimmen Mehrheit im (anwaltlich dominierten) Nationalrat zu diesem fragwürdigen kriminalpolitischen Ergebnis geführt.
20. Oktober 2022 / © Prof. Dr. Marc Forster, RA
Fr
06
Mai
2022
Die Ausführungsgefahr ist ein hoch interessanter und kriminalpolitisch umstrittener Haftgrund. Viele Verteidiger und gewisse Hochschuldozierende
monieren, dass es sich um Präventivhaft handle, die eher ins Polizeirecht (präventive Gefahrenabwehr) gehöre als ins Strafprozessrecht (repressive Untersuchung
und Verfolgung von Straftaten). Die Praktiker der Strafjustiz weisen darauf hin, dass der Haftgrund zwar eher selten zur Anwendung gelangt, in der Praxis jedoch unverzichtbar
erscheint.
-- Wie sind die gesetzlichen Haftgründe konzipiert und inwiefern stellt Haft wegen Ausführungsgefahr (Art. 221 Abs. 2 StPO)
Präventivhaft dar?
Ein Blick auf Art. 221 StPO zeigt, dass alle anderen gesetzlichen Haftgründe von Abs. 1 neben einem sogenannten "besonderen" Haftgrund
(Flucht-, Kollusions- und Wiederholungsgefahr, lit. a-c) zusätzlich den dringenden Tatverdacht eines bereits begangenen Verbrechens oder Vergehens voraussetzen. Man spricht hier
auch vom "allgemeinen" Haftgrund des dringenden Tatverdachts, der in den Fällen von Abs. 1 immer vorliegen muss. Die Ausführungsgefahr in Abs. 2 ist demgegenüber ein
selbstständiger Haftgrund, der keinen dringenden Tatverdacht eines bereits verübten Deliktes (notwendigerweise) voraussetzt. In den Fällen von Abs. 2 kann somit Haft zulässig sein,
obwohl in strafrechtlicher Hinsicht noch "nichts passiert" ist, das bereits untersucht werden könnte. Das Gesetz drückt sich in Abs. 2 dementsprechend anders aus als in Abs. 1: Anstatt von
einer "beschuldigten Person" (Abs. 1) spricht Abs. 2 bloss von einer "Person"; wenn noch keine mutmassliche Straftat passiert ist, kann auch niemand förmlich beschuldigt sein. Ausserdem spricht
Abs. 2 von "Haft" und nicht von Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft. Gemeint ist damit Präventivhaft; wenn keine Straftat untersucht wird und keine mutmassliche Sanktion zu
sichern ist, kann auch keine Untersuchungs- oder Sicherheitshaft vorliegen.
-- Welche Fälle werden von Art. 221 Abs. 2 StPO erfasst und wieso ist dieser Haftgrund in der Kriminalpraxis unentbehrlich?
Der klassische Anwendungsfall einer Präventivhaft wegen Ausführungsgefahr sieht exemplarisch wie folgt aus: Der wegen Gewaltdelikten vorbestrafte X
sagt seinem Kumpel Y, er werde seine (Xs) Freundin umbringen, da sie ihn betrogen habe. X schildert dem Y detailliert und glaubhaft, wie er das Opfer zu töten plant. Y geht zur Polizei und meldet
dort, was X ihm gesagt hat. Eine Untersuchungshaft gestützt auf Art. 221 Abs. 1 lit. a-c StPO ist hier nicht möglich, da noch kein Delikt (kein dringender Tatverdacht) vorliegt, das untersucht
werden könnte. Das Verhalten von X, der gegenüber Y lediglich ankündigt, er werde eine dritte Person töten, ist noch keine Straftat, die verfolgt werden könnte. Wenn die Staatsanwaltschaft
Präventivhaft beantragt und der Haftrichter zum Schluss kommt, es sei ernsthaft zu befürchten, dass X seine Drohung wahrmachen könnte, wird der Haftrichter Präventivhaft anordnen. Diese dauert
dann so lange, bis ein Psychiater abgeklärt hat, ob X aus psychiatrischer Sicht gefährlich ist und töten könnte. Wenn die Prognose sehr ungünstig ist, wird Fürsorgerischer Freiheitsentzug wegen
Fremdgefährdung gegen X angeordnet werden; Untersuchungshaft ist nicht möglich, da kein Delikt vorliegt. Wenn die Prognose nicht sehr ungünstig ist, wird X aus der Präventivhaft entlassen werden,
allenfalls gegen Ersatzmassnahmen für Haft (z.B. Verbot, sich der bedrohten Person zu nähern, ambulante Psychotherapie, fürsorgerische Massnahmen usw.).
Es gibt noch einen Spezialfall der Ausführungsgefahr, den einzelne Anwälte und Anwältinnen zum Anlass nehmen zu behaupten, Präventivhaft sei
überflüssig: Im oben geschilderten "klassischen" Fall liegt keine Straftat vor, weil X eine Tötung gegenüber Y ankündigt und nicht gegenüber dem anvisierten potenziellen Opfer. Falls X seine
Freundin direkt mit dem Tod bedroht und diese (wegen der Ernsthaftigkeit der Drohung) in Schrecken oder Angst versetzt wird, läge bereits eine strafbare Drohung (Art. 180 StGB) vor. In diesem
Fall könnte also bereits eine Strafuntersuchung gegen X wegen mutmasslicher Drohung eröffnet werden. Trotzdem müsste auch hier oft auf Präventivhaft (Abs. 2) zurückgegriffen werden und nicht auf
einen besonderen Haftgrund nach Abs. 1: Untersuchungshaft nach Abs. 1 lit. a-c würde nämlich neben dem dringenden Tatverdacht von Drohung auch noch den Nachweis von Fluchtgefahr, Kollusionsgefahr
oder Wiederholungsgefahr voraussetzen. Diese besonderen Haftgründe sind nicht ohne weiteres erfüllt. Wenn aber X seine Freundin mit dem Tod bedroht und zudem ernsthaft zu befürchten ist, er werde
seine Drohung wahr machen, rechtfertigt sich Präventivhaft nach Abs. 2.
-- Kriminalpolitische Würdigung, Alternativen, Praxis zur Ausführungsgefahr, Bedeutung von psychiatrischen
Gutachten
Präventivhaft wegen Ausführungsgefahr wird relativ selten angeordnet. Der Haftgrund ist heikel, da hier eine Person "bloss" wegen schwersten
Drohungen inhaftiert wird, die noch nicht zwangsläufig strafbar sein müssen. Allerdings sieht auch das Zivilrecht (ZGB) bei schwerer Selbst- oder Drittgefährdung einen möglichen gerichtlich
verfügten Freiheitsentzug vor (bis die Gefährdung therapeutisch behoben ist und in den Grenzen des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes). Insofern stellt Art. 221 Abs. 2 StPO eine diffus-hybride
Haftart dar zwischen Strafprozess-, Polizei- und zivilem Fürsorgerecht. Nach der Einschätzung vieler erfahrener PraktikerInnen und Dozierenden braucht es aber weiterhin die Möglichkeit einer
Präventivhaft in solchen Fällen. Der Gesetzgeber will die Ausführungsgefahr in der hängigen StPO-Revision denn auch (nach den bisherigen Entwürfen) beibehalten. Teile der Anwaltschaft kämpfen
kriminalpolitisch dagegen an. Eine andere Frage ist die, ob diese Konstellation dem Zivilrichter überlassen werden könnte, der über Fürsorgerischen Freiheitsentzug nach ZGB
entscheidet. In den Fällen, wo bereits strafbare Drohungen zu untersuchen sind, wäre eine solche Überlappung von Zuständigkeiten zwischen Straf- und Zivilbehörden allerdings
heikel. Und für die Betroffenen macht es im Ergebnis wenig Unterschied, ob nun ein Straf- oder ein Zivilrichter über den Freiheitsentzug entscheidet.
Die heutigen gesetzlichen Hürden für die Anordnung von Präventivhaft und die Gerichtspraxis nach StPO sind ziemlich streng. Es muss ein schweres
Verbrechen, etwa ein Tötungsdelikt, ein schweres Sexualdelikt oder schwere Körperverletzung, ernsthaft drohen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes ist bei der Annahme von
Ausführungsgefahr besondere Zurückhaltung geboten. Das Bundesgericht verlangt eine sehr ungünstige Risikoprognose. Es verlangt hingegen nicht, dass der Drohende bereits konkrete
Anstalten getroffen haben müsste, um das angedrohte schwere Verbrechen zu verüben. Zum Beispiel muss er sich noch keine Tatwaffe zwangsläufig beschafft haben. Entscheidend ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Ausführung aufgrund einer
Gesamtbewertung der persönlichen Verhältnisse sowie der Umstände als sehr hoch erscheint. Dabei ist auch dem psychischen Zustand der drohenden Person bzw. ihrer Unberechenbarkeit oder Aggressivität und allfälligen Vorstrafen
Rechnung zu tragen. Je schwerwiegender das ernsthaft angedrohte
schwere Verbrechen ist, desto eher rechtfertigt sich grundsätzlich, im Rahmen einer sorgfältigen Risikoprüfung, die Präventivhaft.
Wenn der Haftrichter z.B. sieht, dass jemand "bloss" aus Verzweiflung,
unter Drogeneinfluss oder aus grober Fahrlässigkeit schwer gedroht hat, die Ausführung aber nach den konkreten Umständen nicht sehr wahrscheinlich erscheint, wird er auf Präventivhaft verzichten,
allenfalls Ersatzmassnahmen anordnen oder den Fall dem Zivilrichter (häusliche Gewalt, Prüfung von Fürsorgerischer Unterbringung oder anderen fürsorgerischen Massnahmen) übergeben. Wenn der
Haftrichter hingegen schwere Bedenken hat und die Ernsthaftigkeit nicht ausreichend ausschliessen kann, wird er ein psychiatrisches Vorabgutachten zur Gefährlichkeitsprognose
einholen. Dieses sollte innert einigen Wochen bis wenigen Monaten erstellt werden. Oft fallen diese Gutachten allerdings etwas vage aus, weil erstens die Beurteilung "ad hoc" (ohne längere
therapeutische Erfahrung) schwierig ist und zweitens die forensischen PsychiaterInnen die "Verantwortung" auf beide Seiten hin nicht sehr gerne übernehmen. Regelmässig muss der Haftrichter daher
eine sehr heikle Abwägung vornehmen zwischen den Risiken für das bedrohte Opfer und den Freiheitsrechten der drohenden Person.
6. Mai 2022 / © Prof. Dr. Marc Forster
Mi
19
Mai
2021
– Ist das neue Gesetz über präventive Massnahmen gegen "terroristische Gefährder" (PMT) sachlich notwendig oder rechtsstaatlich bedenklich? Könnte es auch militante Klimaschützer/innen oder rabiate Corona-Demonstrierende treffen? Welche Strafnormen treten am 1. Juli 2021 bereits in Kraft? Über was wird am 13. Juni 2021 noch abgestimmt? Wohin geht die weitere Entwicklung?
– Was kommt am 1. Juli 2021?
Gegen die vom Parlament (im September 2020) verabschiedeten strafrechtlichen und rechtshilferechtlichen Normen zur Terrorismusbekämpfung ("Vorlage 1") ist kein Referendum ergriffen worden. Die betreffenden Normen treten bereits am 1. Juli 2021 in Kraft (gemäss dem bundesrätlichen Entscheid vom 31. März 2021). Dabei handelt es sich insbesondere um die revidierte Strafnorm von Art. 260ter StGB gegen kriminelle und terroristische Organisationen und um den neuen Art. 260sexies StGB gegen die Anwerbung, Ausbildung und Reisetätigkeit (insbesondere von sogenannten "Jihadisten") im Hinblick auf terroristische Straftaten. Hinzu kommt eine neue Strafnorm in Art. 74 Abs. 4 des Nachrichtendienstgesetzes (NDG, SR 121) gegen die Beteiligung an einer (nach Art. 74 Abs. 1 NDG) verbotenen Organisation oder Gruppierung und gegen ihre personelle oder materielle Unterstützung, insbesondere durch Organisieren von Propaganda oder Anwerbung für sie und durch sonstiges Fördern ihrer Aktivitäten. Am 1. Juli 2021 in Kraft treten wird auch der neue Art. 80d-bis IRSG betreffend vorzeitige Übermittlung (noch vor Erlass einer Rechtshilfe-Schlussverfügung) von Informationen und Beweismitteln an ausländische Strafbehörden und weitere gesetzliche Anpassungen (insbes. Ergänzungen in der StPO betreffend Bundesgerichtsbarkeit für Art. 260ter und sexies StGB sowie Art. 74 Abs. 4 NDG; vgl. BBl 2020 7893 ff.).
– Über was wird im Juni 2021 noch an der Urne abgestimmt?
Gegen das vom Parlament am 25. September 2020 ebenfalls verabschiedete Bundesgesetz über präventive polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT) ist hingegen das Referendum ergriffen worden. Darüber wird am 13. Juni 2021 abgestimmt ("Vorlage 2"):
Gegen sogenannte terroristische Gefährderinnen und Gefährder (Art. 23e des revidierten BWIS, SR 120) können vom Fedpol, unter den gesetzlich geregelten Voraussetzungen (Art. 23f-q BWIS), präventive polizeiliche Massnahmen verfügt bzw. beantragt werden, nämlich eine Melde- und Gesprächsteilnahmepflicht (Art. 23k BWIS), ein Kontaktverbot mit gewissen Personen (Art. 23l BWIS), eine lokale Aus- und Eingrenzung (Art. 23m BWIS), ein Ausreiseverbot (Art. 23n BWIS), ein Hausarrest ("Eingrenzung auf eine Liegenschaft", Art. 23o-p BWIS) sowie eine (nicht geheime) elektronische Randdaten-Überwachung bzw. Lokalisierung über Mobilfunk, zur Sicherung des Vollzuges solcher Massnahmen (Art. 23q BWIS). Die Melde- oder Gesprächsteilnahmepflicht, das Kontaktverbot, die Aus- oder Eingrenzung, das Ausreiseverbot sowie die Mobilfunk-Randdaten-Überwachung (elektronische Lokalisierung) kann gegen terroristische Gefährderinnen und Gefährder ab deren vollendetem 12. Altersjahr angeordnet werden, der Hausarrest ab dem 15. Altersjahr (Art. 24f BWIS). Der Hausarrest ist vom Zwangsmassnahmengericht zu bewilligen (Art. 23p Abs. 1 BWIS); er ist auf drei Monate begrenzt und kann zwei mal (um jeweils maximal drei weitere Monate) verlängert werden (Art. 23o Abs. 5 BWIS). Die Massnahmenentscheide können mit Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht angefochten werden (Art. 24g BWIS; vgl. BBl 2020 7742 ff.).
– Was wartet zusätzlich noch in der gesetzgeberischen Pipeline?
Nicht zu vergessen ist schliesslich noch eine dritte Reformvorlage mit unmittelbaren Bezügen zur Terrorismusbekämpfung, zu der kürzlich die Botschaft des Bundesrates vom 5. März 2021 publiziert worden ist (BBl 2021 738): Im PCSC-Abkommen mit den USA und im Abkommen mit der EU zur Beteiligung an "Prüm" (inklusive Eurodac-Protokoll EU-Schweiz-Liechtenstein) geht es um die Erweiterung des justiziellen Informationsaustausches zu Zwecken der Strafverfolgung (also nicht nur polizeiliche Zusammenarbeit und Prävention) bzw. um neue Möglichkeiten der akzessorischen Rechtshilfe im Bereich der Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität. Die Abkommen sollen insbesondere die gegenseitige Abgleichung von Fingerabdrücken, DNA-Profilen und Fahrzeugregistrierungen ermöglichen (vgl. Entwürfe der beiden Bundesbeschlüsse in BBl 2021 739 und 741).
Zur strafrechtlichen "Vorlage 1" (in Kraft ab 1. Juli 2021):
Art. 260ter StGB stellt das Unterstützen der Tätigkeit von terroristischen Organisationen (und die Beteiligung an solchen) unter Strafe, Art. 260sexies StGB ähnliche Unterstützungshandlungen (wie Art. 74 Abs. 4 NDG gegen das Anwerben, Ausbilden oder Reisen) im Hinblick auf terroristische Straftaten. Angesichts dieser Normen-Überschneidungen wird die Gerichtspraxis abgrenzen müssen, welche Gruppierungen nicht terroristisch (im Sinne des StGB) aber verboten (im Sinne des NDG) sind (keine Anwendbarkeit von Art. 260ter StGB, aber Anwendbarkeit von Art. 74 Abs. 4 NDG), und welche Unterstützungshandlungen nicht im Hinblick auf konkrete terroristische Gewaltverbrechen erfolgen (keine Anwendbarkeit von Art. 260sexies StGB, aber mögliche Anwendbarkeit von Art. 74 Abs. 4 NDG gegen verbotene Gruppierungen). Gemäss NDG verboten werden können auch Gruppierungen, die nicht alle Tatbestandselemente einer terroristischen Organisation (Art. 260ter Abs. 1 lit. a Ziff. 2 StGB) erfüllen. Da die "Vorlage 1" die Strafbarkeit nach dem bisherigen befristeten "IS-/Al-Qaïda-Gesetz" (AS 2014 4565, AS 2018 3345) abdeckt, wird dieses aufgehoben, sobald der Bundesrat die dort anvisierten Gruppierungen und Organisationen für verboten erklärt hat (vgl. Anhang Ziff. I zum Bundesbeschluss vom 25.9.2020, BBl 2020 7893; Art. 74 Abs. 1 NDG). Bis dahin bleibt das IS-Gesetz längstens bis Ende 2022 in Kraft (letzte Verlängerung durch das Parlament).
Keine Privilegierung von "Mafiabossen"
Zu begrüssen ist die Korrektur, die das Parlament am bundesrätlichen Entwurf von Art. 260ter StGB vorgenommen hat: Nach dem Entwurf hätte die neue Strafobergrenze von zehn Jahren Freiheitsstrafe nur für die Unterstützung und Beteiligung an einer terroristischen Organisation gegolten (vgl. BBl 2018 6529). Für Mafiabosse (denen sonst regelmässig keine eigenen konkreten Verbrechen nachzuweisen sind) wäre hingegen eine deutlich tiefere Strafobergrenze von lediglich fünf Jahren vorgesehen gewesen (vgl. die Kritik in meinen Blog vom 6. Januar 2020). Die vom Parlament im September 2020 verabschiedete gesetzliche Fassung korrigiert diese Unstimmigkeit.
Problematik terroristischer Einzeltäter und Kleingruppen
De lege ferenda bestehen allerdings noch Lücken bei der Verfolgung von terroristischen Anschlägen und Massenmorden von Einzeltätern und Kleingruppen. Zu erinnern ist insbesondere an den Terroranschlag in Wien vom 2. November 2020 (mit vier Toten und 23 teils schwer Verletzten), an die 51 Morde von Christchurch im März 2019, die Anschlagsserie in London zwischen März und September 2017 (14 Tote und 146 Verletzte), die Lastwagen-Attentate im Juli bzw. Dezember 2016 in Nizza und Berlin (mit 86 bzw. 11 getöteten Menschen), das Bombenattentat am Boston Marathon 2013 (3 Tote, 264 Verletzte, darunter viele Schwerverletzte), die 2011 auf Utoya ermordeten 77 Kinder und Jugendlichen, die NSU-Mordserie 2000-2007 in Deutschland (neun Tote), oder an das Zuger Attentat von 2001, bei dem 14 Kantons- und Regierungsräte erschossen und zahlreiche weiteren Menschen zum Teil schwer verletzt wurden. Terroristische Einzeltäter und Kleingruppen, die den Organisationstatbestand nicht erfüllen, werden von Art. 260ter StGB nicht erfasst, Art. 260quinquies StGB stellt lediglich ihre Finanzierung unter Strafe, nicht aber deren anderweitige, bewusste und massive logistische Unterstützung (abgesehen von der kausalen Beihilfe zu einem konkreten Verbrechen). Ob Art. 260sexies StGB und Art. 74 Abs. 4 NDG, die auf Jihad-Unterstützer zugeschnitten sind, hier praxistaugliche gesetzliche Grundlagen bringen werden, erscheint eher fraglich.
Zur präventiv-polizeilichen "Vorlage 2": PMT,
Volksabstimmung vom 13. Juni 2021:
Als "terroristische Gefährder/innen" gelten nach dem PMT (Referendumsvorlage zum revidierten BWIS, SR 120, BBl 2020 7741 ff.) Personen, bei denen "aufgrund konkreter und aktueller Anhaltspunkte davon ausgegangen werden muss, dass sie oder er eine terroristische Aktivität ausüben wird" (Art. 23e Abs. 1 BWIS). Die Vorlage definiert "terroristische Aktivitäten" als "Bestrebungen zur Beeinflussung oder Veränderung der staatlichen Ordnung, die durch die Begehung oder Androhung von schweren Straftaten oder mit der Verbreitung von Furcht und Schrecken verwirklicht oder begünstigt werden sollen" (Art. 23e Abs. 2 BWIS).
Die Problematik des Terrorismusbegriffes
Die "Terrorismusdefinition" von Art. 23e BWIS erscheint im Lichte der bundesgerichtlichen (strafrechtlichen) Praxis etwas gar weit gefasst. Das Bundesgericht legt den Fokus auf die besonders schwere Gewaltverbrechen (wie z.B. Bombenattentate, Tötungsdelikte, schwere Brandanschläge, Flugzeugentführungen usw.), die sich nicht ausschliesslich gegen staatliche Polizei- und Militärkräfte richten, sondern regelmässig – und gerade – auch gegen beliebige zivile Opfer und zivile Anschlags-Ziele (z.B. öffentliche Verkehrsmittel wie Züge oder Flugzeuge). Diese Fokussierung auf zivile Opfer ist im Terrorismusstrafrecht sehr wichtig, da die Justiz sonst (bei schweren Delikten gegen Militär- und Polizeikräfte bzw. bei bürgerkriegsähnlichen Konflikten) regelmässig vor ein schweres Dilemma gestellt wird, das den Terrorismusbegriff ad absurdum zu führen droht: Bekanntlich gefallen sich autoritäre Machthaber und exzessiv gewalttätige staatliche Regimes sehr oft darin, praktisch alle Oppositionellen in ihrem Land als "Terroristinnen und Terroristen" zu bezeichnen und zu verfolgen, teilweise sogar (mit Auslieferungsersuchen) bis ins Ausland (vgl. dazu Marc Forster, in: Basler Kommentar Internationales Strafrecht, 2015, Art. 3 IRSG N. 7-11). In gewissen Staaten sind (neben Politiker/innen) namentlich Journalist/innen, die kritisch über staatliche Gewalt und Unterdrückung von Minderheiten berichten, von diesem internationalstrafrechtlichen Missbrauch und der Politisierung des Terrorismusbegriffes betroffen. Ohne eine konsequente Fokussierung auf systematische Gewalt gegen Zivilpersonen und auf das Verbreiten von Furcht und Schrecken in der Zivilbevölkerung läuft die Justiz Gefahr, dass sie einseitig Partei ergreifen muss gegen Bürgerkriegsparteien oder gegen legitime Freiheitskämpfer, die sich gegen Willkürherrschaft und schwere systematische Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Regimes wehren (derzeit zum Beispiel in Burma).
Terrorismusbegriff im PMT
Zwar erscheint die Definition der "terroristischen" Aktivitäten (in Art. 23e BWIS) unter diesem Gesichtspunkt etwas unbestimmt. Der rechtspolitische Vorwurf, die PMT-Vorlage erlaube eine extensive Ausdehnung der präventiven Massnahmen (gegen terroristische Gefährder/innen) auf legitime politische Aktivist/innen und Demonstrierende in der Schweiz, ist jedoch unbegründet: Erstens müssen "Bestrebungen zur Beeinflussung oder Veränderung der staatlichen Ordnung" vorliegen, "die durch die Begehung oder Androhung von schweren Straftaten oder mit der Verbreitung von Furcht und Schrecken verwirklicht oder begünstigt werden sollen" (Art. 23e Abs. 2 BWIS). Zweitens muss "aufgrund konkreter und aktueller Anhaltspunkte davon ausgegangen werden" können, dass Gefährder/innen eine solche "terroristische Aktivität ausüben" werden (Art. 23e Abs. 1 BWIS). Und drittens müssen – neben den besonderen (qualifizierten) Voraussetzungen von Art. 23k-q BWIS – als allgemeine gesetzliche Voraussetzung noch zusätzlich sämtliche Subsidiaritäts-Kriterien von Art. 23f Abs. 1 BWIS kumulativ erfüllt sein.
Besonders einschneidende präventive Zwangsmassnahmen – wie etwa der "Hausarrest" nach Art. 23o BWIS – setzen die Hürden noch deutlich höher, als sie bereits in den allgemeinen Grundsätzen von Art. 23e und 23f BWIS verankert sind: Ein Hausarrest setzt nämlich "konkrete und aktuelle Anhaltspunkte" dafür voraus, dass von terroristischen Gefährder/innen eine "erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter ausgeht, die nicht anders (als durch Hausarrest) abgewendet werden kann" (Art. 23o Abs. 1 lit. a BWIS). Aber es kommt hier noch eine zusätzliche Voraussetzung dazu: Selbst bei Erfülltsein dieses qualifizierten Erfordernisses ist der Hausarrest nur möglich, wenn zuvor eine mildere Zwangsmassnahme (etwa ein Kontaktverbot, eine Rayonauflage oder ein Reiseverbot) angeordnet worden ist und der Gefährder oder die Gefährderin dagegen verstossen hat (Art. 23o Abs. 1 lit. b BWIS). Der Hausarrest muss zudem richterlich bewilligt werden (Art. 23p BWIS).
– Hausarrest gegen Klimaschützer und Corona-Demonstrierende?
Juristisch unbegründet erscheinen somit Befürchtungen (von vermeintlichen oder echten "Expert/innen" des Terrorismus-Straf- und Polizeirechts), wonach politische Aktivist/innen, etwa militante Klimaschützer/innen, die z.B. Fassaden beschmieren oder vorübergehend Filialen von Banken oder anderen Unternehmen besetzen (Hausfriedensbruch, Nötigung, Sachbeschädigung), als "terroristische Gefährder/innen" eingestuft und von Hausarresten betroffen werden könnten. Dafür findet sich in Art. 23e-q BWIS keine sachliche Grundlage. Wenn der Zwangsmassnahmenrichter allerdings konkrete und aktuelle Anhaltspunkte sieht, dass von gefährlichen und extrem gewaltbereiten politischen Extremist/innen eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter ausgeht, nachdem bereits angeordnete mildere Präventivmassnahmen nichts gefruchtet haben (Art. 23o Abs. 1 BWIS), ist gegen einen präventiven Hausarrest von verhältnismässiger Dauer rechtsstaatlich kaum etwas einzuwenden. Dies umso weniger, als die Strafprozessordnung bei ernstlicher Ausführungsgefahr für ein schweres Verbrechen sogar die Anordnung von Untersuchungshaft in einem Gefängnis (und mit einem sehr restriktiven Vollzugsregime) ermöglicht, und zwar auch präventiv, nämlich gegen Gefährder/innen, die nicht zwangsläufig bereits ein Delikt begangen haben müssen (Art. 221 Abs. 2 StPO). Der einschlägigen Praxis der Strafbehörden und den Lageberichten von Polizei und Staatsschutz lässt sich entnehmen, dass in der Schweiz wohnhafte radikalisierte Jihad-Sympathisant/innen (der sogenannten "dritten Generation") leider zunehmend jünger werden. Dass bereits 15-Jährige terroristische Gefährder/innen (unter den genannten restriktiven Voraussetzungen) von Hausarrest betroffen sein können (Art. 24f Abs. 2 BWIS), trägt dieser bedauerlichen Entwicklung Rechnung.
– Grundrechtswidriger "Sündenfall" oder notwendige gesetzliche Reform in Zeiten hoher terroristischer Bedrohung?
Das PMT ist im Übrigen die logische kriminalpolitische Konsequenz aus äusserst tragischen Erfahrungen mit diversen terroristischen Schwerverbrechern (Terroranschläge von Paris, London, Nizza, Berlin, Wien usw.), deren hohe Gefährlichkeit zwar bereits vor den Terroranschlägen polizeilich erkannt worden war, gegen die aber (mangels bereits verfolgbarer schwerer Delikte) keine gesetzliche Grundlage für geeignete präventive Polizeimassnahmen bestand. Die Vorlage schliesst diese Lücke im schweizerischen Terrorismus-Polizeirecht.
19. Mai 2021 / © Prof. Dr. Marc Forster
Mo
06
Jan
2020
Anfang Dezember 2019 ist der Ständerat (nach einem Rückweisungsantrag von Ständerat Beat Rieder) auf die Terrorismusvorlage (BBl 2018 6427ff., 6525 ff.) vorläufig nicht eingetreten. Es wurde verlangt, dass die Sicherheitspolitische Kommission einen Mitbericht der Rechtskommission einholt.
Unter Hinweis auf die Vernehmlassung des Anwaltsverbandes wurde insbesondere die Vorlage zu den rechtshilferechtlichen Bestimmungen kritisiert; so erlaube der Art. 80dbis E-IRSG den Staatsanwälten (nicht nur bei Terrorismusverdacht), vorzeitig (vor Abschluss eines entsprechenden förmlichen Rechtshilfeverfahrens) Informationen und Beweismittel an ausländische Strafbehörden zu übermitteln (vgl. Tages-Anzeiger vom 10. Dezember 2019). Dieser Einwand übersieht, dass heute sogar eine unaufgeforderte Übermittlung ans Ausland (ohne jegliches Rechtshilfeersuchen) zulässig sein kann (Art. 67a IRSG).
Leider werden die statistischen Zahlen zur Entwicklung terroristischer Gewaltverbrechen von den amerikanischen und europäischen Behörden regelmässig geschönt und verzerrt dargestellt:
Das Aussenministerium der USA (State Department) hat Statistiken zur Zahl der "weltweiten" Terroranschläge und zur Zahl der getöteten Opfer zwischen 2006 und 2018 publiziert (vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/380942/umfrage/anzahl-der-terroranschlaege-weltweit/ https://de.statista.com/statistik/daten/studie/380949/umfrage/getoetete-personen-durch-terroranschlaege-weltweit/). Die betreffenden Zahlen könnten zunächst einen gewissen Rückgang terroristischer Anschläge suggerieren. Wenn westliche (und besonders amerikanische) Quellen von "weltweit" sprechen, meinen sie allerdings in der Regel die westliche "Welt". Die Zahlen der in den Jahren 2012 und 2017 angeblich Getöteten (11'098 bzw. 18'753 Menschen) erscheinen auffällig tief (und merkwürdig präzise). – Hat hier z.B. auch der Staatsterror gegen die eigene Zivilbevölkerung (etwa durch das syrische Regime, u.a. mit dem Einsatz von Fassbomben in Wohngebieten) Berücksichtigung gefunden? Und wie steht es mit den damaligen horrenden Opferzahlen allein des IS in Syrien und im Irak oder mit den unüberschaubaren Mordserien diverser Terrororganisationen (etwa in Afghanistan, im Yemen oder in verschiedenen Regionen Afrikas)? Könnte es sein, dass die amerikanischen Behörden damit angebliche Erfolge ihres (ab 2001 eingeleiteten) "War on Terrorism" dokumentieren möchten? Solche politisch gefärbten Zahlen müssten aufgrund von anderen verlässlichen Quellen (etwa des Internationalen Roten Kreuzes oder der UNO) jedenfalls kritisch hinterfragt werden. Selbst aus den Zahlen des State Department liessen sich bestenfalls grosse Schwankungen der Opferzahlen (zwischen 2006 und 2017) ablesen. Und im Jahr 2018 hat die Zahl der Terror-Todesopfer mit 32'836 Personen sogar einen neuen absoluten Höchststand erreicht (vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/380949/umfrage/getoetete-personen-durch-terroranschlaege-weltweit/).
Aber auch Europa "trickst" und beschönigt mit gewissen Statistiken zu terroristischen Gewaltverbrechen: So hat die EU (über Europol) Zahlen publiziert zu den "terroristischen Angriffen" von 2008-2018 in Europa und den diesbezüglichen Festnahmen (vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/493217/umfrage/angriffe-und-festnahmen-mit-terroristischem-hintergrund-in-der-eu/). Zwar sind die Festnahmen seit ca. 2010 markant (auf mehr als das Zweifache) gestiegen. Auffällig ist jedoch, dass Europol nur die Zahl der terroristischen "Angriffe" nennt, aber keine Opferzahlen. Daraus resultiert eine Verfälschung der Statistik: Blosse Einzelangriffe werden gleich gezählt und gewichtet wie Massenmorde (z.B. das Massaker vom 13. November 2015 im Pariser Konzertsaal "Bataclan" oder die beiden Massentötungen mit Lastwagen von 2016 in Nizza und Berlin). Der methodische Unsinn führt zum verzerrten Bild, dass – ausgerechnet – die beiden europäischen "Terrorjahre" 2015 und 2016 (mit hunderten Toten und Schwerverletzen) statistisch "friedlicher" erscheinen als z.B. die Jahre 2014 und 2017, und dass dabei das falsche Bild einer seit 2010 abnehmenden bzw. gleichbleibenden terroristischen Gewaltkriminalität suggeriert wird.
Zur Erinnerung: Allein bei den drei "Angriffen" vom 13. November 2015 in Paris gab es 130 Tote und 683 Verletzte. Am 14. Juli bzw. 19. Dezember 2016 wurden bei zwei Lastwagen-Anschlägen in Nizza und Berlin 86 bzw. 11 Menschen getötet; 400 bzw. 55 weitere Opfer wurden (grossteils schwer) verletzt. Mit anderen Worten: Zwar ist seit 2010 die Zahl der jährlichen Anschläge eher etwas gesunken; die Opferzahlen haben aber (bis 2015/2016) wieder markant zugenommen. Auch die statistischen Angaben des Nachrichtendienstes des Bundes kranken an ähnlichen Gewichtungsfehlern (indem zwischen der Anzahl und der Schwere der Anschläge in Europa nicht ausreichend differenziert wird, vgl. Lagebericht NDB "Sicherheit Schweiz 2019", S. 38).
Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Behörden primär Erfolge vermelden wollen (steigende Anzahl Verhaftungen), während die hohen Opferzahlen (auch in Europa) statistisch retouchiert werden (Zählen von "Anschlägen" anstatt von Opfern). Solche Schönfärbereien beeinflussen offenbar auch die kriminalpolitischen Entscheide des eidgenössischen Parlamentes bei der Revision des veralteten Terrorismus-Strafrechts.
Auch in der (revisionskritischen) strafrechtlichen Literatur mischen sich gelegentlich "wissenschaftliche" Argumente mit kriminalpolitischen Motiven: Schon dem bisherigen Art. 260ter StGB wurde vorgeworfen, er sei "präventiv" ausgerichtet und führe zu einer strafrechtsdogmatisch unzulässigen Vorverlagerung der Strafbarkeit, indem er Aktionen unter Strafe stelle, "bevor überhaupt ein konkretes Delikt verübt" worden sei. Dabei "suggeriere" das Strafrecht der Bevölkerung einen "Schutz vor terroristischen Attentaten" bzw. eine "Beherrschung des Problems". – Solchen Verkürzungen ist zu widersprechen: Die Mafia oder terroristische Organisationen wie der IS haben bereits zahlreiche Schwerverbrechen nachweislich begangen. Mit einer "Verschiebung der Strafbarkeit auf der Zeitachse" (wie in Teilen der Literatur behauptet wird) hat Art. 260ter StGB überhaupt nichts zu tun. Die Bestimmung bezweckt vielmehr eine Beweisverlagerung: Angehörige (namentlich Bosse) mafiöser und terroristischer Organisationen sowie deren massgebliche Unterstützer sollen auch dann strafrechtlich verfolgt werden können, wenn ihnen noch keine Beteiligung (Mittäterschaft oder Teilnahme) an einem konkreten Mafiaverbrechen oder einem terroristischen Gewaltverbrechen persönlich zugerechnet werden kann.
Wenn der Gesetzgeber hier eine Strafwürdigkeit erkennt, geht es ihm weder um "Prävention", noch begeht er ein strafrechtsdogmatisches Sakrileg. Selbst das gemeinrechtliche Individualstrafrecht kennt diverse Fälle von akzessorischer Strafbarkeit ohne Verwirklichung des anvisierten Hauptdeliktes: Versuchte Anstiftung zu einem Verbrechen ist ohne jegliche Haupttat strafbar (Art. 24 Abs. 2 StGB). Auch blosse (öffentliche) Aufrufe zu Verbrechen oder Gewaltstraftaten (Art. 259 StGB) oder blosse Vorbereitungshandlungen zu gewissen Schwerverbrechen (Art. 260bis StGB) sind strafbar, ohne dass in der Folge eine entsprechendes Verbrechen versucht oder verübt werden müsste. Falls ein Terrorist z.B. wegen eines konkreten Mordes angeklagt wird, muss auch ihm eine persönliche Beteiligung daran rechtsgenüglich nachgewiesen werden. – Wieso aber sollten Mafiosi und Terroristen nicht schon wegen ihrer nachweisbaren Zugehörigkeit z.B. zur Camorra oder zum IS in angemessener Weise bestraft werden können?
Wer gegen solche "Vorverlagerungen" der Strafbarkeit im Bereich der Schwerstkriminalität ankämpft, betreibt in der Regel keine Strafrechtsdogmatik, sondern Kriminalpolitik. Erfreulicherweise besteht für eine entsprechende Modernisierung und Verschärfung des Terrorismusstrafrechts nach schweizerischem Modell (vgl. dazu schon M. Forster, Kollektive Kriminalität, Das Strafrecht vor der Herausforderung durch das organisierte Verbrechen, Basel 1998) unterdessen ein weitgehender völkerrechtlicher Konsens (vgl. Art. 6 Abs. 1 und 8-9 des Übereinkommens des Europarates zur Verhütung des Terrorismus vom 16. Mai 2005, SEV Nr. 196, BBl 2018 6541 ff.).
Die im Entwurf des Bundesrates vorgeschlagene Änderung, bei der neuen Unterstützungsvariante die verbrecherische Zielsetzung der kriminellen Organisation nicht (nochmals) zu erwähnen (Art. 260ter Abs. 1 lit. b E-StGB), verdient Zustimmung: Zum einen wird diese Zielsetzung bereits bei der gesetzlichen Definition der (unterstützen) krimOrg ausreichend erwähnt; zum anderen hat die Bundesgerichtspraxis deutlich gemacht, dass die Unterstützung konkreter Verbrechen hier gerade nicht zu verlangen ist, weshalb der bisherige (renundante) Gesetzestext missverständlich wirkt.
Berechtigt scheint hingegen die Kritik (etwa des Anwaltsverbandes) am vorgeschlagenen Wegfall des Geheimhaltungs-Merkmals (Art. 260ter Abs. 1 E-StGB): Dass ein gesetzliches Tatbestandsmerkmal die Strafverfolgung "erschwere" (so das Hauptargument der Strafverfolger), ist vom Gesetzgeber gewollt und reicht als kriminalpolitisches Motiv einer Streichung (für sich alleine) nicht. Das bisherige Erfordernis der Geheimhaltung des Aufbaus und der personellen Zusammensetzung der krimOrg erklärt sich aus der (leider vielfach in Vergessenheit geratenen) Zielsetzung der Norm: Die Vorverlagerung der Strafbarkeit auf Beteiligung und Unterstützung ausserhalb der klassischen Regeln der Teilnahmedogmatik rechtfertigt sich nur für besonders gefährliche terroristische sowie (im engeren Sinne) mafiöse Gruppierungen, nicht aber für "gewöhnliche" Verbrecherbanden, bei denen die "Omertà" und die heimliche Unterwanderung (der legalen Wirtschaft und Politik) eine deutlich geringere Bedeutung spielen.
Sehr zu begrüssen ist wiederum die höhere Strafobergrenze (10 Jahre) für Terroristen (Art. 260ter Abs. 2 E-StGB) sowie das Mindeststrafmass (drei Jahre) für Mafiabosse bzw. Terroristen mit "bestimmendem Einfluss" (Abs. 3). Wenig einleuchtend scheint hingegen, wieso der Mafiaboss lediglich mit höchstens 5 Jahren Freiheitsstrafe bedroht werden soll, sofern ihm keine konkreten Verbrechen persönlich nachzuweisen sind (Abs. 2 ist allein auf terroristische krimOrg zugeschnitten).
Das schweizerische Terrorismus-Strafrecht weist leider weiterhin bedenkliche Lücken auf, denen der Entwurf des Bundesrates von 2018 zu wenig Rechnung trägt: Völlig zu übersehen scheint der Gesetzgeber das Problem der terroristischen Anschläge und Massenmorde von Einzeltätern und Kleingruppen. Diese werden von Art. 260ter StGB überhaupt nicht erfasst. – Zu erinnern ist hier beispielsweise an die 51 Morde von Christchurch im März 2019, die Lastwagen-Attentate im Juli bzw. Dezember 2016 in Nizza und Berlin (mit 86 bzw. 11 getöteten Menschen), das Bombenattentat am Boston Marathon 2013, die 2011 auf Utoya ermordeten 77 Kinder und Jugendlichen, die NSU-Mordserie 2000-2007 in Deutschland, oder an das Zuger Attentat von 2001, bei dem 14 Kantons- und Regierungsräte erschossen und zahlreiche weiteren Menschen zum Teil schwer verletzt wurden.
Nur wenig hilfreich und stark auslegungsbedürftig ist in diesem Zusammenhang der neu vorgeschlagene Art. 260sexies E-StGB: Wie schon der Bundesrat in seiner Botschaft bemerkt hat, könnten damit höchstens "kleinere Lücken" geschlossen werden: Zwar setzt diese Bestimmung keine terroristische Organisation voraus. Die dort unter Strafe gestellten Handlungen (Anwerben, Sich-Anleiten-Lassen/Anleiten, Reisen) müssen jedoch "im Hinblick auf die Verübung eines" (konkreten terroristischen) "Gewaltverbrechens" erfolgen. Die Tragweite der vorgeschlagenen Norm geht daher über die – bereits strafbaren – Vorbereitungshandlungen (Art. 260bis StGB) bzw. über Beihilfe zu Gewaltverbrechen (Art. 25 StGB) kaum hinaus.
Zudem ist nur schwer zu erkennen, wie die Schweiz damit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen nach Ratifikation des Übereinkommens des Europarates zur Verhütung des Terrorismus (vom 16. Mai 2005) vollständig nachkommen würde: Artikel 6 Absatz 1 dieses Übereinkommens verlangt ausdrücklich eine Strafnorm gegen Anwerbungen "für terroristische Zwecke". Eine solche Strafnorm ginge deutlich weiter als die vom Bundesrat (in Art. 260sexies Abs. 1 lit. a E-StGB) inkriminierte Anwerbung für ein konkretes terroristisches "Gewaltverbrechen" ("Begehung einer solchen Straftat oder die Teilnahme daran"). Schon die gezielte Anwerbung, sich z.B. dem IS anzuschliessen, muss nach dem Übereinkommen des Europarates unter Strafe gestellt werden (und nicht bloss die Anwerbung für konkrete Gewaltverbrechen des IS). In Art. 260sexies Abs. 1 lit. a E-StGB muss die fragliche verunglückte Wendung ("für die Begehung einer solchen Straftat oder die Teilnahme daran") daher ersetzt werden durch: "für terroristische Zwecke".
Im Übrigen drängt sich eine gezielte Ausweitung von Art. 260quinquies StGB (Terrorismusfinanzierung) auf: Gemäss der langjährigen Praxis des Bundesgerichtes stellt diese Norm die Finanzierung von terroristischen Einzeltätern und (wenig strukturierten) terroristischen Kleingruppen unter Strafe (die Finanzierung von terroristischen Organisationen im engeren Sinne fällt unter Art. 260ter StGB). – Es ist schlechterdings nicht einzusehen, weshalb die bewusste und massive logistische Unterstützung von hochkriminellen Einzelterroristen (wie Breivik usw.) oder terroristischen Kleingruppen (z.B. NSU) ausschliesslich in der Form der finanziellen Unterstützung strafbar sein sollte.
6. Januar 2020 / © Prof. Dr. Marc Forster
Mo
02
Sep
2019
Sogenannte soziale Netzwerke (von Anbietern wie Facebook, Google, Instagram, Snapchat usw.), grosse Online-Handelsplattformen (z.B. Alibaba, Ebay, Amazon usw.), abgeleitete Internettelefonie (z.B. über Whatsapp), Mailing- (z.B. Gmail von Google oder Outlook von Microsoft), Chat-/Messaging-, (Peer-to-Peer-)Videokommunikations- (z.B. über Skype oder Whatsapp) oder Cloud-Dienste werden zunehmend auch von Kriminellen genutzt. Leider gehören dazu regelmässig auch hochgefährliche Terroristen, mafiöse Organisationen und andere international tätige und gut vernetzte Verbrecher.
Zwei neue Forschungsarbeiten der Universität St. Gallen zeigen die gesetzlichen Lücken auf bei der strafprozessualen Überwachbarkeit wichtiger moderner Kommunikationskanäle (vgl. Laura Dusanek, Probleme der strafprozessualen Überwachung abgeleiteter Internetdienste wie Facebook, Skype oder Whatsapp – Lösungen im neuen BÜPF? MA SG 2019; Katja Allenspach, Revision des Überwachungsrechts: Eine Übersicht der bedeutendsten Änderungen, MA SG 2019). Bisher fehlt es dem Bundesrat bedauerlicherweise am politischen Mut zur dringend gebotenen Regulierung von Schweizer Tochter- und Vertriebsgesellschaften der grossen ausländischen IT-Konzerne:
Die Antwort auf die Frage, welche Internetdienste strafprozessual überwacht werden können (z.B. Telefonabhörung, Internet-Teilnehmerüberwachung usw.), ist komplex und ständigem technischem Wandel unterworfen. Sie hängt insbesondere vom verwendeten Dienst, von der Art der Verschlüsselung und vom verwendeten Kommunikationsgerät bzw. Internetzugang ab. Selbst die grossen ausländischen Internetdienste und Social Media (soweit sie überhaupt eine gesetzliche Mitwirkungspflicht bei schweizerischen Überwachungen nach dem BÜPF haben) sind teilweise technisch gar nicht in der Lage, auf "End-to-End"-verschlüsselte Kommunikationsinhalte (Gesprächsverkehr) ihres Dienstes zuzugreifen bzw. unverschlüsselte Daten zu liefern. Die gesetzlich stark regulierten Schweizer Internet-Zugangsprovider (wie Swisscom, Sunrise, Salt usw.) haben nur Zugriff auf die Registrierungs- und Identifikationsdaten bereits bekannter Anschlüsse sowie auf die "IP-Histories" (IP-Adressverläufe) von bestimmten Internetaktivitäten. Auch die Beschlagnahme unverschlüsselter (bereits "abgerufener") Kommunikationsinhalte auf Empfangsgeräten (Smartphones usw.) ist nur möglich, falls die Strafbehörden direkten Zugriff auf ein solche Geräte haben. Der höchstens subsidiär in Frage kommende Einsatz von GovWare (behördliche Software zur heimlichen Kommunikationsüberwachung) bildet ebenfalls kein Allheilmittel: Diese seit 1. März 2018 im Gesetz vorgesehene Überwachungsart ist sehr aufwändig und teuer; ausserdem setzt sie günstige Zugriffskonstellationen voraus (physischer Zugriff auf das Zielgerät oder heimliches Aufladen der GovWare per Internet, z.B. mittels präparierter E-Mail oder WLAN).
– Können Schwerkriminelle also in der Schweiz ungestört und ohne Überwachung über Internet kommunizieren und Verbrechen planen? Die beunruhigende Antwort lautet: in weiten Bereichen leider ja.
Die Problematik ist eine doppelte: Nicht nur fehlt es an einer klaren gesetzlichen Grundlage zum Durchgriff auf ausländische Datenverwalter grosser IT-Konzerne, Social Media und Online-Handelsplattformen, etwa über deren schweizerische Vertriebs- und Marketingfilialen. Hinzu kommt noch die technische Schwierigkeit, dass es bei verschlüsselten mobilen Internetdiensten (und damit im zentralen Bereich) weder für die schweizerische Strafbehörde, noch den technischen Dienst ÜPF, noch für den Schweizer Internet-Zugangsprovider ohne weiteres möglich ist, ohne Zutun des ausländischen Internetdienstes (oder aufwändige technische Zusatzvorkehren) auf die notwendigen verschlüsselten Kommunikationsdaten zu greifen.
Die Internet-Zugangsprovider sind zwar verpflichtet, die "IP-Histories" ihrer Kunden herauszugeben und entsprechende Auskünfte zur Identifizierung ihrer registrierten Internetkunden zu geben (Art. 22 BÜPF, Art. 14 aBÜPF). Auf verschlüsselte Chatverläufe und registrierte Benutzerdaten von Internetdiensten wie Facebook, Whatsapp, Google, Instagram, Snapchat, Skype usw. haben sie jedoch regelmässig keinen direkten Zugriff. Das neue BÜPF sieht daher eine Duldung möglicher Überwachungen durch alle – in der Schweiz ansässigen – "abgeleiteten Internetdienste" vor sowie eine Herausgabepflicht betreffend bei ihnen vorhandene Rand- und Identifikationsdaten (Art. 27 Abs. 1 und Art. 22 Abs. 1 und 3 BÜPF). Bei Schweizer Internetkommunikations-Anbietern, die Dienstleistungen von grosser wirtschaftlicher Bedeutung oder für eine grosse Benutzerschaft anbieten, bestimmt das Gesetz sogar noch, dass der Bundesrat inhaltliche Überwachungen (mit Verpflichtung zur Aufhebung eigener Verschlüsselungen der abgeleiteten Dienste) und Daten-Aufbewahrungspflichten vorsehen könne (Art. 27 Abs. 3 i.V.m. Art. 26 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 lit. c sowie Art. 22 Abs. 4 i.V.m. Abs. 2 BÜPF).
Der Bundesrat hat allerdings auf griffige gesetzliche Massnahmen, um die wichtigsten Provider mit Sitz bzw. Datenverwaltung im Ausland nach dem sogenannten Zugriffsprinzip zur Mitwirkung zu verpflichten, bisher bewusst verzichtet. Insbesondere will er keine Bestimmung einführen, wonach solche Dienstanbieter, die in der Schweiz regelmässig mit eigenen Niederlassungen Marketing betreiben, hier auch die Rand- und Identifikationsdaten der Schweizer Kunden verwalten (oder zumindest faktischen Zugriff auf die Daten haben) müssten. Nicht einmal Töchter von ausländischen IT-Giganten, welche bereits in der Schweiz ansässig sind und hier fleissig Schweizer Kundinnen und Kunden anwerben bzw. Marketing betreiben, möchte der Bundesrat in die Pflicht nehmen. Diese sind bisher nicht gesetzlich verpflichtet, sich über ihre Konzernmutter die Zugangsberechtigung für die Daten ihrer Schweizer Kundschaft zu beschaffen.
Nach bisheriger Ansicht des Bundesrates bestehe "kein Anlass dazu, dass Anbieterinnen, bloss weil sie abgeleitete Dienste bereitstellen, den gleichen Anforderungen wie die klassischen Fernmeldedienstanbieterinnen unterliegen" sollten. Anderslautende Schweizer Regelungen könnten "mangels Zuständigkeit gar nicht durchgesetzt werden". − Diese Argumentation überzeugt nicht. Geradezu verniedlichend und naiv wirkt die Ansicht des Bundesrates, marktbeherrschende Gosskonzerne wie Facebook oder Google würden "bloss" abgeleitete Dienste bereitstellen. Wenn ein ständig zunehmender Grossteil der Kommunikation über Produkte und Dienstleistungen dieser Konzerne läuft (z.B. Whatsapp, FB- und Instagram-Messenger, Google-Mails und -Chats oder Internettelefonie), darunter leider auch sehr viel anonyme Kommunikation mit kriminellem Hintergrund, dann drängt es sich im Gegenteil geradezu auf, diese Dienstleistungen einzubeziehen und wenigstens jene Daten (insbes. Daten, welche eine Identifizierung der Nutzer ermöglichen) zu beanspruchen, welche die Provider selber sammeln und verwalten. Der Schweizer Gesetzgeber ist auch durchaus dafür "zuständig", die Regeln zu bestimmen, nach denen Filialen von ausländischen Grossanbietern in der Schweiz Geschäfte betreiben und bewerben. In neueren Stellungnahmen des Bundesrates wird denn auch immerhin eingeräumt, dass grosse IT-Konzerne wirtschaftlich und technisch betrachtet die Funktion eigentlicher Fernmeldedienstleister innehaben. Eine förmliche Einstufung von grossen ausländischen Internetdiensten als "Fernmeldedienste" (im Sinne des BÜPF) durch den Dienst ÜPF (per "Merkblatt") löst den Konflikt mit dem völkerrechtlichen Territorialitätsprinzip aber in der Praxis nicht und ist auch rechtsstaatlich fragwürdig.
Nach den Ergebnissen der beiden (unabhängig voneinander erstellten) St.Galler Forschungsarbeiten hat die Revision des BÜPF an der bisherigen Rechtslage für grosse IT-Konzerne mit Datenspeicherung im Ausland grundsätzlich nichts geändert: Zwar ergibt sich eine gesetzliche Mitwirkungspflicht, wenn der Konzern "Dienste für sich in der Schweiz befindliche Personen" erbringt oder "sich gezielt an Personen in der Schweiz adressiert". Mitwirkungspflichtig sind jedoch nur jene Internetdienste, die einen Sitz oder eine Niederlassung in der Schweiz haben, welche die faktische oder rechtliche Kontrolle über die Daten ausüben. Faktische und rechtliche Kontrolle haben die jeweiligen Datenverwalter (z.B. FB Irland) bzw. die Konzernzentrale (z.B. FB USA). Für andere Tochterfirmen ausländischer IT-Giganten, also insbesondere reine Marketing- und Vertriebsfilialen in der Schweiz, gilt weiterhin die folgende Rechtslage:
Die Internationale Konvention zur Bekämpfung der Cyber-Kriminalität (CCC) orientiert sich noch stark am Territorialitätsprinzip. Dieses ist verhaftet im Nationalstaatendenken des 19. und 20. Jahrhunderts, welches noch von kontrollierbaren Staatsgrenzen mit bunt gestrichtenen "Schlagbäumen" und davor anhaltenden Postkutschen ausgeht. Eine solche internationalstrafrechtliche Sicht ist spätestens in Zeiten der grenzübergreifenden IT-Kriminalität schon fast rührend und hoffnunglos veraltet. Aufgrund des Territorialitätsprinzipes dürfen selbst die CCC-Signatarstaaten (z.B. die Schweiz) in den jeweiligen Partnerstaaten (z.B. den USA) keine direkten Datenerhebungen (auf nicht öffentlich zugänglichen Datenbanken) vornehmen. Einzelne regulatorische "Paradiese" für IT-Grosskonzerne wie Irland haben nicht einmal die (eher zahnlose) CCC ratifiziert. Wenn die Schweizer Strafbehörden ein Verbrechen aufdecken wollen, z.B. Terrorismus, Mord oder Kinderpornographie, welches mithilfe des Internets begangen oder vorbereitet wurde, müssen sie (gestützt auf die CCC) zunächst versuchen, die Schweizer Kundinnen und Kunden des betroffenen Internetdienstes (die allenfalls in den Kreis von Verdächtigen fallen könnten) um Zustimmung zur Datenerhebung (nach Art. 32 lit. b CCC) zu bewegen. Falls die Zustimmung (aus welchen Motiven auch immer) nicht erfolgt, kann noch versucht werden, die ausländische Datenverwaltung um Zustimmung zu bitten. Aus "Geheimnisschutz"- bzw. nahe liegenden Marketinggründen sind diese an einer freiwilligen Zusammenarbeit aber (verständlicherweise) meistens wenig interessiert.
Zwar wäre eine vom betroffenen Staat bewilligte grenzüberschreitende Datenerhebung mit dem Völkerrecht ("Territorialitätsprinzip") bzw. dem internationalen Strafrecht vereinbar. Eine solche Lösung setzt aber selbst nach der CCC auch noch eine Zustimmung der direkt betroffenen Kunden oder der ausländischen Datenverwaltung des betroffenen IT-Konzerns voraus. Falls eine solche freiwillige Datenherausgabe verweigert wird, bleibt der Strafbehörde nur noch der sehr langwierige und komplizierte Rechtshilfeweg.
Auch hier ergeben sich regelmässig Probleme. Selbst wenn Rechtshilfe geleistet wird, kommt sie oft zu spät, zumal die Daten-Aufbewahrungsvorschriften im Ausland oft lasch sind und die Verfahren oft viele Monate bzw. Jahre dauern. Bei Delikten wie z.B. Rassismus kommt noch dazu, dass ausländische Gerichte (insbesondere US-amerikanische oder irische Gerichte) die internationale Zusammenarbeit leider sogar in beunruhigendem Ausmass verweigern. Das kontinentaleuropäische Rechtsdenken bemüht sich um einen Ausgleich zwischen dem hochwertigen Grundrecht der Meinungsäusserungsfreiheit einerseits und dem notwendigen Schutz der betroffenen Menschen vor rassistischer und ehrverletzender Hetze und Verleumdung. Aus dieser Sicht trägt eine Verabsolutierung des "Freedom of (Hate) Speech" im angloamerikanischen und teilweise auch im skandinavischen Rechtskreis (Schweden hat die CCC ebenfalls noch nicht ratifiziert) Züge eines befremdlichen Grundrechtsfetischismus.
Einerseits darf ein Staat nicht einfach Zwangsmassnahmen auf ausländischem Hoheitsgebiet ergreifen. Anderseits muss er auf seinem Territorium sein Strafrecht durchsetzen können, auch gegenüber Personen und Gesellschaften, die im Inland wirtschaftlich tätig sind. Eine moderne Interpretation des Territorialitätsprinzips im Zeitalter des Cyberspace sollte daher an der faktischen wirtschaftlichen Betätigung ausländischer IT-Konzerne anknüpfen und damit einen gesetzlichen Zugriff auf dessen inländische Marketing- und Vertriebsfilialen zulassen.
Wie in den beiden St.Galler Forschungsarbeiten aufgezeigt wird, neigt auch die Praxis des Bundesgerichtes einem entsprechenden internationalstrafrechtlichen Zugriffsprinzip zu. Dem schweizerischen Gesetzgeber kann es nicht verwehrt sein, in der Schweiz domizilierte Vertriebs- und Marketingfilialen von ausländischen Diensten anzuweisen, sich die für eine ausreichende Mitwirkung (namentlich Nutzer-Identifizierung) benötigten Daten von ihrer Konzernzentrale oder von den ausländischen Datenverwaltern zu beschaffen. Dies müsste im BÜPF allerdings klar so geregelt werden. Dass ein angemessenes regulatorisches Vorgehen im Interesse der Rechtsstaatlichkeit und Verbrechensaufklärung durchaus möglich ist (solange die CCC noch keine Lösungen bringt), hat zum Beispiel Belgien bewiesen.
– Was müsste der schweizerische Gesetzgeber also tun, damit die Verfolgung von schweren Verbrechen wie Terrorismus, Drogenhandel oder Kinderpornographie nicht an der "Zustimmung" von Internet-Usern und ausländischen IT-Konzernen scheitert? Etwas mehr politischer Mut wäre gefragt. Die Vertriebs- und Marketinggesellschaften von ausländischen IT-Konzernen mit Sitz in der Schweiz müssten gesetzlich verpflichtet werden, sich den Datenzugang für ihre Schweizer Kunden (und die Berechtigung dazu) bei ihren ausländischen Muttergesellschaften zu beschaffen. – Sollte das bereits zu viel verlangt sein? Wird die internationalstrafrechtliche "Postkutsche" noch lange am Schlagbaum des veralteten Nationalstaatsdenkens angehalten?
2. September 2019 / © Prof. Dr. Marc Forster
Do
08
Nov
2018
Eine kürzlich an der Universität St. Gallen (Law School) erschienene Forschungsarbeit analysiert die Implikation von Schweizer Banken und Finanzintermediären, darunter Anwälten, in die Off-Shore-Aktivitäten der panamesischen Anwaltskanzlei Mossack Fonseca (Mossfon) im Lichte der sogenannten "Panama Papers". Konkret ging es insbesondere um die Gründung von zahlreichen "Briefkastenfirmen" bzw. nicht operativen Sitzfirmen sowie um treuhänderisch (bzw. über "Strohmänner") eröffnete und verwaltete Konten, Stiftungen und Gesellschaften ohne Deklaration der jeweils wirtschaftlich Berechtigten. Für die Vermittlung von (wirtschaftlich berechtigten) verdeckten Endkunden arbeitete Mossfon mit mehr als 14'000 "Intermediären" zusammen, darunter vielen Anwälten und Vermögensverwaltern, die zum grössten Teil aus Hongkong, Grossbritannien, der Schweiz und den USA stammten (vgl. Zoran Culjak, "Panama Papers" - Strafrechtliche und strafprozessuale Fragen mit besonderem Augenmerk auf die Grenzen des schweizerischen Anwaltsgeheimnisses, Masterarbeit Universität St.Gallen 2018, S. 4-11, zit. Untersuchung Panama Papers).
Die St. Galler Untersuchung erhellt Mossfons Verwicklungen in zahlreiche internationale Finanzskandale mit diversen "Politically Exposed Persons" (PEP), etwa beim dubiosen Firmennetzwerk von Cristina und Nestor Kirchner (Argentinien/USA-Nevada), bei den verdächtigen Eisenerz-Deals von Beny Steinmetz mit dem guineischen Diktator Lansana Conté (Guinea/Brasilien/Israel), bei der Beteiligung des zurückgetretenen isländischen Premierministers Sigmundur Gunnlaugsson an einer Gesellschaft auf den British Virgin Islands, bei den Korruptionsskandalen betreffend Petrobras und weitere beteiligte Firmen und Politiker (Brasilien), beim Korruptionsskandal um den ehemaligen pakistanischen Premierminister Nawaz Sharif (dubiose Immobiliengeschäfte in Grossbritannien), oder bei den Beteiligungen eines engen Freundes des russischen Präsidenten Vladimir Putin (nämlich des Musikers Sergej Roldugin) an Offshore-Gesellschaften, über die (gemäss den "Panama Papers" und darauf gestützen Medienberichten) hunderte Mio. USD aus Russland weggeschafft worden seien. Weitere Endkunden von Mossfon waren z.B. in Schmiergeldskandale verwickelte ehemalige Siemens-Manager, der ehemalige deutsche Geheimagent Werner Mauss, Angehörige des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, Angehörige von hohen Funktionären der chinesischen KP oder der ehemalige britische Ministerpräsident David Cameron (vgl. Untersuchung Panama Papers, S. 15).
Zu den Banken, die besonders intensiv mit Mossfon kooperierten, gehörten namentlich eine luxemburgische, zwei Schweizer Privatbanken, zwei Schweizer Grossbanken, zwei britische Finanzinstitute sowie eine französische und eine isländische Bank. Auffällig häufig betroffen waren Zweigniederlassungen diverser Banken in Luxemburg und auf den British Channel Islands. Sehr intensive und qualifizierte Kontakte zu Mossfon unterhielt namentlich auch die Deutsche Bank (vgl. S. 11 f.).
Laut Untersuchung war ein Schweizer Bürger als umtriebiger Juniorpartner bei Mossfon tätig. Nach Angaben der Eidgenössischen Steuerverwaltung können sodann rund 450 Endkunden (Personen und Gesellschaften) mit Sitz in der Schweiz mit den "Panama Papers" in Verbindung gebracht werden. Darunter finden sich mehrere hohe Funktionäre der FIFA (privatrechtlicher Verein mit Sitz in Zürich), etwa der aktuelle FIFA-Präsident Gianni Infantino (vgl. Untersuchung Panama Papers, S. 15 f.). Diverse Schweizer Finanzinstitute waren nicht nur in grossem Stil als Vermittler tätig, sondern führten teilweise auch direkt Bankkonten für verdeckte Mossfon-Endkunden (vgl. S. 15-18). Auch einige Schweizer Anwälte (insbesondere aus Genf und Zürich) tauchen in den "Panama Papers" als Vermittler und Verwalter von Offshore-Vehikeln auf oder als einschlägige Berater und Rechtsgeschäftsplaner (etwa bei Gründungen von Sitzgesellschaften).
Gemäss einer Stellungnahme der Meldestelle des Bundes für Geldwäschereiverdachtsfälle (MROS) haben seit den Medienberichten über die "Panama Papers" die Geldwäscherei-Verdachtsmeldungen stark zugenommen. Die Eidgenössische Finanzmarktausicht (FINMA) hat sodann bankenrechtliche Aufsichtsmassnahmen getroffen, indem sie bei ca. 20 Schweizer Banken vertiefte Abklärungen anordnete. Gegen die Gazprombank (Schweiz) hat sie wegen schweren Verstössen gegen das GwG (besonders im PEP-Fall Roldugin) sogar aufsichtsrechtliche Zwangsmassnahmen ergriffen (vgl. Untersuchung Panama Papers, S. 16-18).
Im Bereich der Vermittlung und besonders der Verwaltung von Offshore-Konstrukten deutet sich gemäss der St. Galler Untersuchung (gestützt auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtes und die neuere Literatur) eine deutliche Tendenz ab, den Schutz des Anwaltsgeheimnisses zu verneinen (besonders bei reinen "Briefkastenfirmen" und treuhänderischer Organtätigkeit) oder zumindest deutlich zu begrenzen. Die Rechtslage muss hier allerdings ‒ mangels klarer gesetzlicher Regelungen ‒ als vage und unübersichtlich bezeichnet werden, weshalb sich eine anwaltliche Tätigkeit mit Geheimnisprivileganspruch in diesen Bereichen zunehmend als heikle Gratwanderung erweist:
Gesellschaftsgründungen und andere Dienstleistungen, die sich auf die blosse standardisierte Erledigung von Formalitäten für "Briefkastenfirmen" und Scheinverwaltungen beschränken, fallen nicht unter den Schutz des Anwaltsgeheimnisses (vgl. Untersuchung Panama Papers, S. 38 f.). Auch bei Global- und Mischmandaten mit gewissen rechtsberatenden oder rechtsgeschäftlichen Elementen (z.B. Gesellschaftsgründung) einerseits und deutlichen Elementen der Vermögensverwaltung, Gesellschafts-Organtätigkeit, Vermögens- und Steuerberatung, Finanzproduktvermittlung oder Banken-Compliance anderseits, besteht eine hochproblematische Rechtsunsicherheit, die nach gesetzgeberischen Klärungen ruft (vgl. S. 47).
Bei der besonders folgenschweren Frage, welche anwaltlichen Tätigkeiten dem Geldwäschereigesetz (GwG) unterstehen und zu entsprechenden strafbewehrten Sorgfalts- und Meldepflichten führen, erweist sich die Rechtslage als nicht viel klarer: De lege lata gelten die anwaltliche Vermittlung, Gründung und Verwaltung von Offshore-Konstrukten zwar (per se) noch nicht als finanzintermediäre Tätigkeiten. Grosse Vorsicht ist jedoch geboten, wenn das "Startkapital" für die Gründung einer entsprechenden Sitzgesellschaft oder Stiftung über ein Konto des beteiligten Anwalts transferiert wird oder wenn dieser (nach dem Gründungsakt) die Gesellschaftsanteile in Form von Effekten (z.B. Aktien) über längere Zeit selber aufbewahrt. Als Finanzintermediäre gelten grundsätzlich auch Anwälte, die als Organe einer Offshore-Sitzgesellschaft bzw. eines Trusts (ohne eigentliche "kaufmännische" operative Wirtschaftstätigkeit) deren Vermögen bloss treuhänderisch (d.h. nach den Anweisungen des wirtschaftlich Berechtigten) verwalten bzw. ihren Zahlungsverkehr treuhänderisch organisieren. Dies kann im Einzelfall auch auf Immobiliengesellschaften zutreffen (vgl. Untersuchung Panama Papers, S. 42-45).
De lege ferenda dürfte (nicht zuletzt aufgrund der GAFI-Empfehlungen im die Schweiz betreffenden vierten Länderbericht von 2016) mittelfristig jede Mitwirkung von Anwälten bei der Errichtung oder Verwaltung von Offshore-Vehikeln als GwG-relevant eingestuft werden, insbesondere auch die ("rechtsgeschäftliche" und "rechtsberatende") Gründung von Offshore-Sitzgesellschaften.
Auch hier drängen sich gesetzgeberische Klärungen auf, zumal sich alle Anwälte, die in der finanzintermediären "Grauzone" tätig sind, einem schweren Dilemma von beruflichen Rechtspflichten aussetzen: Wenn sie Verdachtsgründe für Geldwäscherei nicht an die MROS melden, droht ihnen eine Strafverfolgung nach Art. 37 i.V.m. Art. 9 GwG (oder gar wegen Beihilfe zur Geldwäscherei). Wenn sie hingegen den Verdacht melden, droht ihnen Strafe wegen einer möglichen Verletzung ihres Berufsgeheimnisses (Art. 321 StGB) (vgl. Untersuchung Panama Papers, S. 45-47).
Umso mehr erstaunt es, dass einzelne Schweizer Anwälte offenbar weiterhin in der genannten "Grauzone" der Legalität als Offshore-"Intermediäre" tätig sind: Ende Juni 2018 (nach Abschluss der St. Galler Untersuchung und mehr als zwei Jahre nach Publikation der Panama Papers) sind weitere 1,2 Millionen E-Mails, Verträge und Firmendokumente von Mossfon aufgetaucht (sog. "Panama Papers 2"). Gemäss den dokumentierten Berichten eines international vernetzten Kollektivs investigativer Journalisten (ICIJ) ergebe sich daraus, dass einige Schweizer Anwälte, Vermögensverwalter und Treuhänder (insbesondere aus dem Kanton Genf), die schon über Mossfon zahlreiche Offshore-Vehikel betreuten, unterdessen mit einer anderen "einschlägigen" panamesischen Kanzlei im bisherigen Stil weiter ihre Geschäfte tätigen. Man darf darauf gespannt sein, ob und wie Politik, Strafbehörden und Berufsverbände auf entsprechende Informationen reagieren werden.
8. November 2018 / © Prof. Dr. Marc Forster
2. Nachtrag vom 10. September 2020:
Die Politik ist unterdessen wieder eingeknickt: Zwei im Parlament vertretenen Genfer Anwälten ist es (Anfang September 2020) gelungen, den Nationalrat zum Nichteintreten auf die "Lex Panama" zu bewegen (mit 107:89 Stimmen). Damit drohen dem Schweizer Dienstleistungs- und Finanzplatz und der überwältigenden Mehrheit der seriös arbeitenden Anwältinnen und Anwälte erhebliche Reputationsschäden, bloss weil ein paar "schwarze Schafe" unter ihnen weiter ungestört hochdubiose Offshore-Vehikel betreiben möchten. Die Schweizer Politik erweist sich als vergesslich und wenig lernfähig: Sie verhält sich wie vor 15 Jahren nach Ausbruch des Fiskalstreites USA-Schweiz, der bekanntlich zur Abschaffung des Bankgeheimnisses (im Fiskalverkehr mit dem Ausland) geführt hat. Politische und wirtschaftliche Selbstdemontage auf Druck von Partikulärinteressen (mit aggressiver Lobby) scheint eine typisch schweizerische Spezialität zu sein. Anders gesagt: Bei uns bestimmen die Böcke über die Gartenpflege.
1. Nachtrag vom 1. November 2019:
Die Politik hatte zunächst reagiert: Am 26. Juni 2019 verabschiedete der Bundesrat eine Botschaft (samt Entwurf) zur Änderung des GwG (BBl 2019 5451, sog. "Lex Panama"). Danach würden künftig auch für Anwälte gesetzliche Sorgfaltspflichten gelten, wenn sie als sogenannte "Beraterinnen" und "Berater" Dienstleistungen erbringen im Zusammenhang mit der Gründung, Führung oder Verwaltung von Sitzgesellschaften und Trusts. Sie wären sogar (neu) unter die geldwäschereigesetzliche Meldepflicht gefallen, wenn sie in einer (nicht berufstypischen) Geschäftstätigkeit als "Berater" Finanztransaktionen ausführen (vgl. Art. 2 Abs. 1 lit. c, Art. 8b und 8c, Art. 9 Abs. 1ter, 1quater und Abs. 2, Art. 9b Abs. 3, Art. 10a Abs. 5, Art. 11a Abs. 1-3, Art. 15, Art. 23 Abs. 5, Art. 30 Abs. 2 lit. a, Art. 32 Abs. 3, Art. 34 Abs. 1-2 und Art. 38 E-GwG; BBl 2019 5555-5565).
Fr
16
Mär
2018
Seit einigen Wochen berichten die Medien intensiv über das Mehrfach-Tötungsdelikt in Rupperswil, dem am 21. Dezember 2015 eine
Mutter, ihre beiden (13 bzw. 19 Jahre alten) Söhne und eine (21-jährige) junge Frau (Freundin des 19-Jährigen) zum Opfer fielen. Heute hat das Bezirksgericht Lenzburg das erstinstanzliche
Strafurteil gefällt: Es sprach den Beschuldigten Thomas N. schuldig des mehrfachen Mordes, der räuberischen Erpressung, der Geiselnahme, sexueller Handlungen mit
Kindern, der sexuellen Nötigung, strafbarer Vorbereitungshandlungen zu weiteren Morden sowie weiterer Delikte. Das Bezirksgericht verurteilte ihn zu einer
lebenslänglichen Freiheitsstrafe. Zudem erhält er eine ambulante Psychotherapie und wird er ordentlich verwahrt.
Angesichts der laut Bezirksgericht und Anklageschrift erdrückenden Beweislage gegen den beschuldigten Thomas N. (DNA-Spuren, Fingerabdrücke,
Geständnis usw.) geht allzu leicht vergessen, dass Polizei und Staatsanwaltschaft in den ersten Monaten nach der Bluttat noch völlig im
Dunkeln tappten und die Überführung mittels DNA-Spurenabgleich erst möglich wurde, nachdem die Ermittler Thomas N. als Verdächtigen hatten
identifizieren können. Die erfolgreiche Identifizierung des Beschuldigten (und damit das gesamte nachfolgende Beweisfundament) war aber wiederum erst aufgrund
einer digitalen "Rasterfahndung" mittels sogenannten "Antennensuchlaufs" zustande gekommen:
Bei der Rasterfahndung per Antennensuchlauf werden Verbindungs-Randdaten des mobilen Fernmeldeverkehrs von zunächst unbestimmt vielen (möglicherweise sehr vielen) Teilnehmern erfasst und (vorerst anonymisiert) abgeglichen, um aus den Randdaten der Mobilfunkantennen an den jeweiligen Tatorten und weiteren Ermittlungsergebnissen möglichst eine Schnittmenge von konkret verdächtigen Gerätebenutzern zu ermitteln (vgl. dazu Marc Forster, Antennensuchlauf und rückwirkende Randdatenerhebung bei Dritten, Bundesgerichtspraxis und gesetzliche Lücken betreffend Art. 273 und Art. 270 lit. b StPO, in: Jositsch/Schwarzenegger/Wohlers, Festschrift für Andreas Donatsch, Zürich 2017, S. 357 ff., 359 f.).
Im Fall Rupperswil war zunächst ermittelt worden, welche mobilen Fernmeldeanschlüsse in der Nähe des Tatortes im Tatzeitraum aktiv waren. Im Januar 2016 erhielt die Aargauer Kriminalpolizei die anonymisierten digitalen Rohdaten dieses Antennensuchlaufs. Es handelte sich zunächst um Zehntausende von Verbindungs-Randdaten bzw. registrierten Fernmelde-Aktivitäten sehr vieler mobiler Geräte. Aufgrund der Fachmeinung eines "Profilers" und weiteren Indizien ging die Polizei davon aus, dass die Täterschaft vermutlich selber in Rupperswil (oder naher Umgebung) wohnte. Um einen "Schnittmengen-Raster" herauszufiltern, wurde mit grossem Aufwand abgeklärt, welche der zahlreichen mobilen Geräte, die am Tatort und im Tatzeitraum aktiv waren, auch noch an anderen Antennenstandorten in Rupperswil regelmässig, d.h. über Monate hinweg, in Betrieb waren. Das waren dann nur noch wenige Geräte. In der Tat wohnte Thomas N. nur ca. 500 Meter vom Tatort entfernt. Und glücklicherweise war die Antennendichte in Rupperswil relativ hoch, so dass über die Antennen am Tatort und am Wohnort von Thomas N. eine Schnittmenge gebildet werden konnte (vgl. Forster, Antennensuchlauf, S. 358 f.).
Es besteht Grund zur Annahme, dass dieser Antennensuchlauf im Fall von Thomas N. weitere Opfer verhindert und einige Menschenleben gerettet hat:
Gemäss der 28 Seiten umfassenden Anklageschrift der Aargauer Staatsanwaltschaft habe der Beschuldigte sich schon bei der Bluttat vom 21. Dezember 2015 Zutritt zur Wohnung der Opfer verschafft, indem er sich mit einer gefälschten Visitenkarte als "Schulpsychologe Dr. Sebastian Meier" ausgegeben und ein weiteres gefälschtes Dokument (von ihm selbst verfasster vorgeblicher Brief einer Schulbehörde aus dem Kanton Aargau) vorgelegt habe. Bereits unmittelbar nach dem schweren sexuellen Missbrauch an einem der gefesselten Opfer, dem 13-jährigen Knaben, und nach der Tötung aller vier Opfer (per Kehlschnitt mit einem Messer) habe der pädosexuell veranlagte Thomas N. analoge Verbrechen an mindestens zwei weiteren Familien geplant und akribisch vorbereitet:
So habe der Beschuldigte nach dem gleichen Muster neue Briefe angefertigt, die vorgeblich von einer Schulbehörde
aus dem Kanton Solothurn bzw. einer Schulleiterin stammten. Am 27. Dezember 2015, sechs Tage nach der Bluttat, habe er im Internet nach einer Familie im Kanton Bern
recherchiert. In einem speziell angelegten Notizbuch habe er eigentliche "Fichen" angelegt über insgesamt
elf weitere Knaben, alle im Alter von ca. 11-14 Jahren. Darin habe er Photos der Knaben gesammelt und minutiös mit weiteren Informationen wie
Namen und Wohnorte ergänzt. Am 12. und 14. Januar 2016 habe er die von ihm ausspionierte Berner Familie auf deren
Festnetz-Telefonanschluss angerufen. Gemäss Anklage habe Thomas N. geplant, an dieser Familie (nach dem Muster von "Rupperswil") analoge Verbrechen zu begehen.
Damals tappte die Polizei hinsichtlich der Täterschaft noch vollständig im Dunkeln.
Ebenfalls Verbrechen nach dem gleichen Muster habe der Beschuldigte an einer weiteren Familie aus dem Kanton
Solothurn geplant und vorbereitet. Auch diese Familie habe er im Januar 2016 telefonisch angerufen (sich dabei aber am Apparat nicht gemeldet). Am 26. Januar 2016 habe er sich in das Wohnquartier der Familie begeben,
um deren Tagesablauf auszuspionieren. Damals befand sich die Polizei (gemäss ihren eigenen Medienmitteilungen) erst im Besitz von zehntausenden digitalen Rohdaten des Antennensuchlaufs. Die Identifikation eines Verdächtigen mittels der
technisch sehr aufwändigen hängigen Rasterauswertung war noch nicht erfolgt.
Am 11. Mai 2016 (unterdessen war er als Verdächtiger identifiziert) sei der Beschuldigte erneut in das Wohnquartier der Solothurner Familie gefahren. Wie bei der Bluttat von Rupperswil habe er im selben schwarzen Rucksack, den er schon damals verwendet habe, erneut die gefälschte Visitenkarte als "Schulpsychologe" bei sich getragen sowie ein gefälschtes Schreiben der Solothurner Schulbehörden. Ebenso habe er weitere Verbrechenswerkzeuge (vorbereitete Fesseln usw.) mitgeführt. Die Blutspuren seiner Opfer von Rupperswil am Rucksack habe er mit einem schwarzen Stift übermalt. Laut Anklageschrift habe er am 11. Mai 2016 von der Ausführung der geplanten und vorbereiteten neuen Verbrechen abgesehen. Am 12. Mai 2016 sei er verhaftet worden. Zu diesem Zeitpunkt habe sein Notizbuch die Namen von elf Knaben im Alter von 11-14 Jahren enthalten (vgl. dazu, mit Hinweisen auf die Anklageschrift, auch Neue Zürcher Zeitung vom 13. März 2018 S. 13; NZZ online vom 12. März 2018: "Ein zweites 'Rupperswil' konnte nur knapp verhindert werden").
Ohne Antennensuchlauf wäre Thomas N. vielleicht bis heute nicht identifiziert und gefasst worden.
Mit erheblicher Wahrscheinlichkeit wären aber -- zumindest laut Anklageschrift und erstinstanzlichem Strafurteil -- weitere Schwerverbrechen erfolgt, die Thomas
N. bereits akribisch vorbereitet habe: Am Tag vor seiner Verhaftung sei der Beschuldigte
bereits -- im wahrsten Sinne des Wortes -- vor der Tür weiterer anvisierter Opfer gestanden. Das Bezirksgericht hat den Beschuldigten daher auch wegen
strafbaren Vorbereitungshandlungen zu weiteren Morden und anderen Verbrechen verurteilt.
Das Bundesgericht hatte am 3. November 2011 in seinem Leitentscheid BGE 137 IV 340 die Rasterfahndung per Antennensuchlauf als grundsätzlich rechtmässige Untersuchungsmethode anerkannt (zu den Kriterien der Zulässigkeit dieser qualifizierten Randdatenerhebung des digitalen Fernmeldeverkehrs vgl. Forster, Antennensuchlauf, S. 359 f.). Da der Antennensuchlauf als Untersuchungsmassnahme nicht spezifisch und ausführlich im Gesetz geregelt ist, wurde das Bundesgericht für diesen Leitentscheid (in der juristischen Lehre) teilweise scharf kritisiert.
Leider hat es der Gesetzgeber auch in der am 1. März 2018 in Kraft getretenen letzten Revision des BÜPF und der StPO versäumt, eine klare gesetzliche Grundlage für den Antennensuchlauf (als qualifizierte Randdatenerhebung des digitalen Fernmeldeverkehrs) zu schaffen. Darauf ist in der Fachliteratur bereits ausdrücklich hingewiesen worden (vgl. Forster, Antennensuchlauf, S. 360).
Auch der Vorentwurf des
Bundesrates zur hängigen Teilrevision der StPO sieht keine Regelung des Antennensuchlaufs vor. Wenigstens soll die einfache Standort- und
Verkehrsranddatenerhebung bei Dritten (insbesondere Opfern von Delikten) spezifisch geregelt werden (vgl. Erläuternder Bericht EJPD zum VE StPO vom Dezember 2017, S. 38
Ziff. 2.1.41; zu diesem Revisionsvorschlag vgl. auch Forster, Antennensuchlauf, S. 360-367).
Dies betrifft allerdings eine andere Problematik.
Fazit: Pragmatische Gerichtsentscheide sowie kluge Ermittlungsstrategien von Kriminalpolizei und Strafbehörden können Menschenleben retten. Dies zeigt der Fall Rupperswil anschaulich. Bedauerlich ist, wenn in der Strafrechtsdoktrin das Bundesgericht faktisch für das Fehlen klarer gesetzlicher Grundlagen für digitale Überwachungen verantwortlich gemacht wird und nicht der dafür zuständige Gesetzgeber.
16. März 2018 / © Prof. Dr. Marc Forster
Do
06
Apr
2017
Derzeit wird öffentlich diskutiert, ob ein Facebook-User, der ein ehrverletzendes oder rassistisches Posting eines anderen Users mittels eines «Like» (Klick auf das «Daumen rauf»-Symbol) unterstützt, sich strafbar machen kann.
Die Ansicht, eine Strafbarkeit für den Absender des «Like» falle schon deshalb ausser Betracht, weil sein Verhalten von der Meinungsäusserungsfreiheit geschützt sei, geht am Strafrecht vorbei. Rassistische oder ehrverletzende Äusserungen und ihre Teilnahme daran sind von Gesetzes wegen gerade nicht von der Meinungsäusserungsfreiheit geschützt, sondern grundsätzlich strafbar (Art. 24-25, Art. 173 ff., Art. 261bis StGB).
Auch das Argument, ein Facebook-«Like» könne «mehrdeutig» sein bzw. sei nicht zwangsläufig als moralische Unterstützung gemeint, hilft wenig: Die strafrechtliche Relevanz eines Verhaltens ist nach objektivierten Kriterien zu prüfen. Die Behauptung, ein durchschnittlicher Facebook-User wisse nicht, was der «Like»-Button (bzw. das «Daumen rauf»-Symbol) bedeutet, erscheint wirklichkeitsfremd. Im Einzelfall wird ein Beschuldigter jedenfalls überzeugend darlegen müssen, inwiefern gerade er hier einem strafrechtlich relevanten «Irrtum» unterlegen sei bzw. das strafbare Posting gar nicht habe unterstützen wollen.
Aus strafrechtsdogmatischer Hinsicht stellt sich hier eine ganz andere Frage, nämlich die nach der Abgrenzung zwischen (strafloser) blosser Billigung einer Straftat und (strafbarer) psychischer Beihilfe (Art. 25 StGB) bzw. selbständigen Beihilfetatbeständen (des BT StGB). Die diesbezüglichen Kriterien sind nach herrschender Lehre und Praxis folgende:
Der psychische Gehilfe bestärkt den Täter seelisch in seinem Tatentschluss und erleichtert diesem damit die Durchführung der Straftat. Subjektiv muss der Gehilfe wollen oder zumindest in Kauf nehmen, dass er mit seinem unterstützenden Beitrag den Täter in dessen Tatentschluss (bzw. Dauertatverhalten) bestärkt (vgl. dazu Basler Kommentar StGB-Forster, Art. 25 N. 3). Zudem muss sich der Tatbeitrag des Gehilfen objektiv kausal auf den Erfolg der Haupttat auswirken; bloss versuchte Beihilfe ist nicht strafbar (BSK, Art. 25 N. 52). Die Unterstützung muss tatsächlich zur Straftat beitragen, ihre praktischen Erfolgschancen erhöhen und sich in diesem Sinne als kausal erweisen (sog. «Förderungskausalität»; BSK, Art. 25 N. 8).
Der Haupttäter muss aus dem Tatbeitrag somit einen konkreten praktischen Nutzen psychischer oder physischer Art ziehen, ansonsten fehlt es an einer Förderung der Haupttat. Blosse Billigung der Tat wäre noch keine psychische Gehilfenschaft (BSK, Art. 25 N. 10). Ein Facebook-«Like» kann die Haupttat auf zweifache Weise befördern: Erstens ist er dazu geeignet, den Urheber des Postings (Haupttäter) in seinem Tatentschluss bzw. Dauertatverhalten (Online-Halten des Postings) zu bestärken. Zweitens können «Likes» zudem zur weiteren Verbreitung der strafbaren Ehrverletzung oder rassistischen Hetze beitragen, indem andere User ermuntert werden, das Posting zu lesen (und evtl. ihrerseits zu liken und weiterzuverbreiten).
Primär ist bei den einzelnen in Frage kommenden Straftatbeständen jeweils zu prüfen, ob (über die
akzessorische Teilnahme, Art. 24-25 StGB, hinaus) ein selbständiger (täterschaftlicher) Beihilfetatbestand unter Strafe steht und erfüllt ist:
Beim Rassismustatbestand (Art. 261bis StGB) ist etwa an die Förderung rassistischer Propagandaaktionen oder an die öffentliche
Verbreitung rassistischer Ideologien zu denken (Abs. 2 und 3), bei Ehrverletzungen
an die Weiterverbreitung von übler Nachrede (Art. 173 Ziff. 1 Abs. 2 StGB). Diese selbständigen Beihilfetatbestände gehen der akzessorischen
Beihilfe als «leges speciales» vor
(BSK, Art. 25 N.
65). Auch der Versuch ist strafbar (BSK, Art. 25 N.
53).
Daraus ergibt sich (in den Grundzügen) folgendes Ergebnis:
Zu prüfen ist zunächst, ob ein ehrverletzendes oder rassistisches Posting einen selbständigen Beihilfetatbestand des BT StGB erfüllt. Akzessorische psychische Gehilfenschaft kommt (subsidiär) in Frage, wenn derjenige, der den «Like»-Knopf anklickt, will oder in Kauf nimmt, dass der Täter dadurch in seinem Tatentschluss (bzw. Dauertatverhalten) bestärkt wird. Zudem muss der «Like» das Dauerdelikt (objektiv) gefördert haben, d.h., er muss die Wahrscheinlichkeit erhöht haben, dass das Posting des Haupttäters weiter online bleibt bzw. weitere Beachtung findet.
Prof. Dr. Marc Forster, 6. April 2017
Mi
19
Okt
2016
Nach der mehrmals bestätigten
Rechtsprechung des Bundesgerichtes haben Beschuldigte, nachdem sie ein erstes Mal getrennt zur Sache befragt worden sind, grundsätzlich einen Anspruch auf Teilnahme an der Einvernahme von Mitbeschuldigten oder von Zeugen (Grundsatz der Parteiöffentlichkeit von Beweiserhebungen, Art. 147 Abs. 1 StPO). Vorbehalten ist ein
Ausschluss von der Teilnahme wegen Rechtsmissbrauchs (Art. 108 Abs. 1 lit. a StPO), etwa wenn der Beschuldigte die Teilnahme
dazu missbrauchen will, Einfluss auf Zeugen oder Mitbeschuldigte zu nehmen (Kollusion/Verdunkelung). Kein Rechtsmissbrauch liegt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes (und nach den Gesetzesmaterialien zur StPO) vor,
wenn lediglich eine prozesstaktisch legitime Anpassung des Aussageverhaltens des Beschuldigten droht: Dass der Beschuldigte sein weiteres Aussageverhalten den Aussagen von Mitbeschuldigten oder Zeugen anpassen
könnte (nachdem er ein erstes mal getrennt befragt wurde), lässt sein Teilnahmerecht nicht dahinfallen. Die Parteien dürfen ihre Verfahrensdispositionen der Entwicklung der Beweiserhebungen
anpassen.
In seinem Aufsatz in forumpoenale
2016 (Nr. 5
S. 281 ff., 287) vertritt Ulrich
Weder die
Ansicht, die betreffende Rechtslage sei im Lichte des Haftgrundes der Kollusionsgefahr (Art. 221 Abs. 1 lit. b StPO) "widersprüchlich und geradezu absurd". In Fällen mit Mitbeschuldigten sei es
"vor allem
die Gefahr der Beeinflussung, der
Absprache und der Anpassung von
Aussagen,
mit der welcher die Kollusionsgefahr
regelmässig begründet" werde. Wenn sich der Beschuldigte wegen Kollusionsgefahr in Haft befinde, aber trotzdem an Beweiserhebungen teilnehmen dürfe, könne dem Haftgrund "nur noch ungenügend
Rechnung getragen" werden. Dies sei "zweifelsohne widersprüchlich und grotesk".
Diesen Ausführungen ist zu widersprechen. Sie fussen auf einer Fehlinterpretation des Haftgrundes der Kollusionsgefahr. Falsch ist namentlich die Behauptung, die Gefahr einer prozesstaktischen "Anpassung von Aussagen" begründe bereits
einen Haftgrund
im Sinne der StPO:
Gemäss Art. 221 Abs. 1 lit. b StPO kolludiert ein Beschuldigter wenn er "Personen beeinflusst oder auf Beweismittel einwirkt, um so die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen". Damit ist insbesondere
die Beeinflussung von Zeugen oder Mitbeschuldigten gemeint oder die Manipulation bzw. Unterdrückung von Beweisunterlagen. Demgegenüber stellt die blosse Gefahr, dass ein
Beschuldigter seine eigenen
Aussagen den ihm bekannten Beweisergebnisen prozesstaktisch anpassen könnte (etwa den Aussagen anderer Befragter) nicht im Entferntesten einen Haftgrund dar. (Es erschiene sogar fraglich, ob hier überhaupt von "Kollusion" im Sinne der StPO gesprochen
werden könnte; das Gesetz meint mit der Beeinflussung von "Personen" andere Personen als den Beschuldigten, und mit der "Einwirkung auf Beweismittel" primär bestehende Beweisgegenstände.) Anders zu entscheiden hiesse, dass
praktisch jeder
Beschuldigte ohne weiteres
inhaftiert werden könnte, da grundsätzlich immer die Gefahr einer Anpassung an Beweiserhebungen (darunter Beweisaussagen Dritter) bestünde. Aber selbst in jenen Fällen, bei denen eine Beeinflussung von
Aussagen Dritter droht, liegt nach ständiger Praxis des Bundesgerichtes (und einhelliger Lehre) nicht automatisch ein Haftgrund vor. Zu verlangen sind
vielmehr konkrete
Indizien für eine erfolgte oder drohende Einflussnahme (vgl. zu dieser ständigen Praxis des Bundesgerichtes z.B. BSK StPO-Forster, Art. 221 N. 6-7).
Bei Art. 147 Abs. 1 StPO steht denn auch gar nicht die Gefahr im Vordergrund, dass der Beschuldigte die Aussagen von Mitbeschuldigten oder Zeugen (im Sinne von Kollusion) beeinflussen könnte: Würde der Beschuldigte
dies anlässlich seiner Teilnahme an Einvernahmen versuchen, hätte der die Einvernahme leitende Staatsanwalt (oder die Staatsanwältin) zunächst die Möglichkeit (und die Verpflichtung), Kollusionsversuche des Beschuldigten schon
im Ansatz aktiv zu
unterbinden. Falls der Beschuldigte sein Teilnahmerecht dennoch für Kollusionsversuche (weiter) missbrauchen würde, könnte die Staatsanwaltschaft ihn nötigenfalls von der Einvernahme ausschliessen (Art. 108 Abs. 1 lit. a StPO). Bei Art. 147 Abs. 1 StPO besteht die
einschlägige Gefahr nicht darin, dass der Beschuldigte andere Aussagen und Beweismittel verfälscht oder beeinflusst, sondern dass er seine eigenen künftigen Aussagen an das Aussageverhalten der Mitbeschuldigten prozesstaktisch anpasst. Hier überhaupt von "Kollusion" zu reden, erscheint schon
strafprozess-dogmatisch fragwürdig. Krass falsch wäre jedenfalls die Gleichsetzung des Haftgrundes der Kollusionsgefahr mit der Problematik der prozesstaktischen Anpassung von Beweisaussagen.
Nach der Regelung der StPO führt die blosse Gefahr, dass ein Beschuldigter seine Aussagen denjenigen von Mitbeschuldigten anpassen könnte, weder zu einem Haftgrund, noch zu einem Ausschluss bei den Einvernahmen. Umgekehrt führt Untersuchungshaft wegen Kollusionsgefahr auch nicht automatisch zu einem Ausschluss des Inhaftierten von jeglichen Beweiserhebungen: Dass
ein Beschuldigter in einem ganz anderen
Zusammenhang wegen Kollusionsgefahr in Haft ist (z.B. wegen telefonischer Zeugenbeeinflussung oder Unterdrückung von Beweisurkunden), rechtfertigt es nicht, ihm das Parteirecht auf
Teilnahme an der Einvernahme von Mitbeschuldigten zu verweigern. Vorbehältlich einer rechtsmissbräuchlichen Inanspruchnahme stehen die Verteidigungsrechte gerade auch den inhaftierten Beschuldigten zu.
Im Ergebnis erscheint mir nicht das Teilnahmerecht von Mitbeschuldigten gemäss Art. 147 Abs. 1 StPO "widersprüchlich und absurd", sondern, wenn schon, eine kurzschlüssige Vermischung des
Haftgrundes der Kollusionsgefahr mit der Problematik der prozesstaktischen Anpassung von Beweisaussagen.
Prof. Dr. Marc Forster/19. Oktober 2016
Mi
06
Apr
2016
In Medienberichten zu den "Panama Papers" wird behauptet, Schweizer Anwälte und Treuhänder dürften selbst Personen, gegen die international strafrechtlich ermittelt
wird, "helfen, schmutzige Vermögen zu
verschieben und sich hinter Offshore-Vehikeln zu verstecken" (Tages-Anzeiger und Der Bund vom 6. April 2016, als "Fazit" je auf S. 3, s.a. online). Dies, weil nur Finanzintermediäre dem GwG
unterstellt seien. Dieser Ansicht ist aus strafrechtlicher Warte zu widersprechen:
Zwar stimmt es, dass nur Finanzintermediäre (wie z.B. Banken) dem GwG direkt unterstellt sind. Auch der Straftatbestand der mangelnden Sorgfalt (oder der Verletzung von Meldepflichten) bei
Finanzgeschäften (Art. 305ter StGB) ist nur auf Finanz-intermediäre anwendbar (zur Bankencompliance s. Tamara Taube, Entstehung, Bedeutung und Umfang der Sorgfalts-pflichten der
Schweizer Banken bei der Geldwäscherei-prävention im Bankenalltag, Diss. SG 2013, pdf).
Nicht einfach übersehen werden darf dabei zunächst jedoch Art. 305bis Ziff. 1 i.V.m. Art. 25 StGB: Der Gehilfenschaft zu Geldwäscherei macht sich strafbar, wer
einen kausalen Tatbeitrag zu
Handlungen liefert, die geeignet sind, die Ermittlung der Herkunft, die Auffindung oder die Einziehung
von Vermögenswerten zu vereiteln, die, wie er weiss oder annehmen muss, aus einem Verbrechen oder aus einem qualifizierten Steuervergehen herrühren. Anwälte oder Treuhänder, die entsprechende logistische Vorkehren treffen, z.B. helfen, Tarnfirmen zu gründen, Strohmänner einzusetzen, Konten zu eröffnen oder
hohe Bargeldsummen zu transferieren usw., obwohl sie konkrete Hinweise auf einen entsprechenden deliktischen Hintergrund haben, können sich grundsätzlich strafbar machen. Die Bestechung von Amtsträgern zum Beispiel ist in der Schweiz schon seit langem
ein Verbrechen
(Art. 322ter-322octies StGB).
Auch qualifizierte
Steuer-vergehen (Art. 305bis Ziff. 1 und 1bis StGB) gelten jedenfalls seit dem 1. Januar 2016 als Vortaten der Geldwäscherei.
Falsch wäre sodann die Auffassung,
Anwälte könnten sich im Bereich ihrer sogenannten akzessorischen Geschäftstätigkeit (z.B. Verwaltungsratsmandate, Vermögensverwaltung, Inkassomandate usw.) auf
ihr Berufsgeheimnis (Anwaltsgeheimnis) berufen. Es gibt Fälle, bei denen Anwälte selbst als Finanzintermediäre akzessorisch tätig sind. Diese sind gesetzlich
verpflichtet, Geldwäschereiverdachtsfälle zu melden (Art. 9 Abs. 1 GwG) und sich einer Selbstregulierungsorganisation anzuschliessen (Art. 14
Abs. 3 GwG; BGE 132 II 103 E. 2.2 S. 105 f.). Auch fallen sie unter die Strafdrohung nach Art. 305ter StGB. Dies betrifft Anwälte, welche berufsmässig fremde Vermögenswerte annehmen oder aufbewahren
oder helfen, sie anzulegen oder zu übertragen (Art. 2 Abs. 3 GwG).
Geldwäschereiverdacht (i.S.v. Art. 305bis Ziff. 1 StGB und Art. 27 Ziff.
1 lit. c und e GwUe) kann insbesondere vorliegen, wenn eine auffällige Verknüpfung geldwäschetypischer Vorkehren besteht. Dies ist etwa der Fall, wenn hohe Geldbeträge über komplexe Kontenbewegungen unter zahlreichen involvierten Personen und Firmen in verschiedenen Ländern, darunter typischerweise sogenannte "Offshore"-Gesellschaften, verschoben wurden und für diese komplizierten
Transaktionen kein wirtschaftlicher Grund
ersichtlich ist. Auch ungewöhnliche Transaktionen mit hohen Bargeldbeträgen sind verdächtig oder Finanztransaktionen im konkreten Umfeld von massiven Korruptionsfällen (vgl. dazu M. Forster, in: Basler Kommentar Internationales Strafrecht, 2015, Art. 27 GwUe N. 9; derselbe, Internationale Rechtshilfe bei Geldwäschereiverdacht, ZStrR 2006, S. 274–294).
Prof. Dr. Marc Forster / 6. April 2016
Di
17
Nov
2015
A) Falsch ist zunächst die Annahme, Aufrufe zu terroristischer Gewalt auf Facebook und ähnlichen sozialen Netzwerken seien nicht strafbar: Anders als die öffentliche Aufforderung zu Verbrechen oder Gewalt
(Art. 259 StGB) oder (bei den meisten Tatbestandsvarianten) der Rassismustatbestand (Art. 261 StGB) setzt der Straftatbestand der Unterstützung einer kriminellen Organisation (Art. 260ter Ziff. 1
Abs. 2 StGB) keine "öffentlichen" Aeusserungen voraus.
Analoges gilt für das am 1.1.2015 (dringlich) in Kraft gesetzte
Bundesgesetz über das Verbot der Gruppierungen "Al-Qaïda" und "Islamischer Staat" sowie verwandter Organisationen (SR 122). Danach wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder
Geldstrafe bestraft, wer sich auf dem Gebiet der Schweiz an einer der genannten Gruppierungen oder Organisationen beteiligt, sie personell oder materiell unterstützt, für sie oder ihre Ziele
Propagandaaktionen organisiert, für sie anwirbt oder ihre Aktivitäten auf andere Weise fördert.
B) Unzutreffend ist auch die Ansicht, die Urheber strafbarer anonymer Aeusserungen auf privaten oder öffentlichen Internetseiten könnten durch die Strafverfolgungsbehörden leicht identifiziert werden: Wenn z.B. Urheber von Facebook-Postings oder von
Aeusserungen auf öffentlich zugänglichen Webseiten mit den Inhabern der Web-Accounts identisch sind oder wenn die Urheber der Posts sich nicht anonym äussern, können die Strafverfolgungsbehörden die Verdächtigen regelmässig identifizieren. Bei
allen anonymen Aeusserungen auf Netzwerken hingegen, deren Daten (IP-Histories usw.) in den USA gespeichert werden (z.B. Facebook, Google usw.),
ist es den Schweizer (und anderen
nichtamerikanischen) Strafverfolgungsbehörden aus technischen Gründen nicht möglich, die Urheber zu eruieren. Dafür braucht es mühsame Rechtshilfegesuche an die USA, welche die Strafverfolgung sehr erschweren (vgl. dazu meinen
unten angefügten Aufsatz in der Festschrift zum Schweizerischen Juristentag 2015).
C) Naiv ist schliesslich auch der
Glaube, die Geheimdienste (oder Strafverfolgungsbehörden) hätten die Kommunikation der terroristischen Attentäter von Paris leicht überwachen können: Verschlüsselte mobile
Internetkommunikation (z.B. Internettelefonie, Whatsapp, Skype) kann derzeit nur mittels "Staatstrojanern" bzw. Spezialsoftware (GovWare) überwacht werden, die zudem auf die Kommunikationsgeräte
von verdächtigen Personen (zuerst) eingeschleust werden müssen. Dies ist bei hunderten bzw. tausenden von verdächtigen Personen im präventiven Vorfeld von
Attentaten praktisch gar nicht
möglich; zudem
wäre es mit enormen Kosten
verbunden.
Daraus erklärt sich auch, weshalb nicht einmal der französische Geheimdienst in der Lage war, die Pariser Attentate und die damit verbundene Kommunikation der Täter und Komplizen (sehr
wahrscheinlich über verschlüsseltes mobiles Internet) zu überwachen. Die Gegner der in der Schweiz hängigen Gesetzesrevision zu den Ueberwachungsmassnahmen scheinen diese Zusammenhänge entweder
noch nicht zu kennen oder nicht wahrhaben zu wollen.
Prof. Dr. Marc Forster / 17.
November 2015
Nachtrag vom 19.11.15: Gemäss den Medienmitteilungen der
Pariser Staatsanwaltschaft haben die Attentäter noch bis unmittelbar vor den Anschlägen vom 13.11.15 miteinander über Mobiltelefone kommuniziert. Aufgrund der
nachträglich ermittelten GPS-Daten bzw. der Antennennstandorte eines in der Nähe des Bataclan sichergestellten Handys konnte die Polizei die konspirative Wohnung in Saint-Denis ausfindig machen,
welche am 18.11.15 von der Polizei gestürmt wurde (mit zwei getöteten und acht verhafteten Terrorverdächtigen).
Do
15
Okt
2015
Es ist einfach nur traurig. Da hetzt ein politischer Extremist in der Schweiz aus rassistischen Motiven systematisch gegen die Armenier, indem er
den historisch belegten Genozid leugnet bzw. rechtfertigt und das Gedenken der Opfer und ihrer Nachkommen lächerlich zu machen versucht. Und der Europäische Gerichtshof findet, ein Staat wie die
Schweiz, der solches Verhalten unter Strafe stellt und angemessen mit einer Geldstrafe büsst, verletze die Menschenrechte. Das Tolerieren von rassistischer Hetze gehöre eben -- so der EGMR in
seinem heutigen Entscheid in zweiter Instanz -- zu einem "demokratischen Rechtsstaat". Dies unterscheide ihn von "Diktaturen" und "totalitären Systemen". Der EGMR behauptet, es gebe "keinen
Konsens" über den Völkermord an den Armeniern. Damit führt er die Öffentlichkeit in die Irre: Er unterschlägt, dass es bloss an einem politischen Konsens (leider) bisher fehlt.
Das ist aber juristisch völlig unerheblich. In der Schweiz werden keine Urteile aufgrund politischer Anschauungen gefällt, sondern aufgrund von wissenschaftlichen Fakten. Unter ernstzunehmenden
Historikern (dazu gehören weder Herr Perinçek noch andere dubiose Hobby- bzw. Auftrags-Historiker) sind die wesentlichen Fakten zum Armenier-Genozid nicht umstritten. Nur wenig
tröstlich ist, dass das Urteil selbst unter den Richtern der Grossen Kammer des EGMR sehr umstritten war: Es fiel mit 10 zu 7 Stimmen zugunsten des
Genozidleugners aus.
Das Zeichen, das der EGMR offenbar aus politischer Rücksichtnahme setzt, ist fatal. Rassistische Hetze gehört nicht unter den Schutz der Menschenrechte gestellt, sondern strafrechtlich verfolgt.
Dass die in den Augen der EGMR-Richtermehrheit offenbar "totalitäre" und "meinungsäusserungsfeindliche" Schweiz dies tut, erfüllt mich als Staatsbürger und Jurist mit Stolz. Erfreulicherweise
beschreitet die Schweiz diesen Weg nicht ganz alleine: Andorra, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Malta, Mazedonien, die Slowakei, Slowenien, Ungarn, Zypern und die Schweiz stellen
nicht nur das Leugnen des Holocaust unter Strafe, sondern das rassistisch motivierte öffentliche Leugnen sämtlicher Genozide. -- Könnte es sein, das kleinere Staaten in diesem
Punkt ein besonders sensibles kriminalpolitisches Gespür unter Beweis stellen?
Marc Forster, 15.10.2015
Mi
27
Mai
2015
In einem Interview vom 27.05.2015 mit dem Tagesanzeiger.ch/Newsnet zu den Verhaftungen von sieben hochrangigen FIFA-Funktionären und zur
Aktenbeschlagnahmung am FIFA-Sitz in Zürich durch die Bundesanwaltschaft (BA) äussert Prof. Mark Pieth sein Erstaunen darüber, dass sich die Schweizer Justiz von
den USA habe "einspannen" lassen. Es handle sich um eine "Kombination aus der schweizerischen und der US-Justiz". Die "Initiative" sei dabei "von den USA" ausgegangen. -- Dieser
Einschätzung ist teilweise zu widersprechen:
Die BA ist nicht erst auf Initiative der USA (und schon gar nicht aufgrund des amerikanischen Festnahmeersuchens gegen FIFA-Funktionäre) aktiv geworden. Die USA verfolgen (laut Medienmitteilung ihres Justizministeriums) primär jahrzehntelange Bestechung von FIFA-Funktionären bei der Vergabe von Medien-, Vermarktungs- und Sponsoringrechten. Das Auslieferungsersuchen (präziser: das Festnahmegesuch) an die Schweiz betrifft diese Korruptionsvorwürfe der US-Justiz. Separat dazu hatte die BA aber bereits eine eigene (Schweizer) Strafuntersuchung eingeleitet wegen mutmasslichen Straftaten im Zusammenhang mit der Vergabe der WM-Turniere 2018 an Russland und 2022 an Qatar. Die FIFA hat diesbezüglich am 18. November 2014 selber Strafanzeige bei der BA eingereicht. Nach Medienmitteilungen der BA gehe es hier primär um ungetreue Geschäftsbesorgung zum Nachteil der FIFA. Zutreffend ist, dass die US-Strafverfolgungsbehörden und die BA ihre separaten Strafuntersuchungen koordinieren und sich (im Rahmen der völkerrechtlichen Regelungen) gegenseitig Rechtshilfe gewähren (insbes. Auslieferungen, Kontensperren, Herausgabe von Geschäfts- und Bankunterlagen).
Das neue Korruptionsstrafrecht (mit der vorgeschlagenen Neuregelung der Privatkorruption als
Offizialdelikt des StGB), welches ab nächster Woche im Parlament beraten wird, dürfte für die genannten Untersuchungen in den USA und der Schweiz keine
Auswirkungen mehr haben: Für die Strafbarkeit sind die Strafnormen im Zeitpunkt der untersuchten Delikte massgeblich. Die beidseitige Strafbarkeit (als
Voraussetzung für eine allfällige Auslieferung oder Aktenherausgabe an die USA) bestimmt sich grundsätzlich nach den geltenden Strafnormen im Zeitpunkt des Rechtshilfeersuchens.
Das neue Recht wird insofern zu spät kommen.
Prof. Dr. Marc Forster, 27. Mai 2015 ©
Nachtrag zum neuen Privatkorruptionsstrafrecht:
In seinem Urteil 1C_143/2016 vom 2. Mai 2016 (BGE-Publikation) hat das Bundesgericht bestätigt, dass bei Privatbestechung das Auslieferungserfordernis der
beidseitigen Strafbarkeit gestützt auf die (damals noch anwendbaren) Bestimmungen des
UWG (Art. 4a) grundsätzlich erfüllt war. Das
Strafantrags-Erfordernis des UWG liess die beidseitige Strafbarkeit nicht dahinfallen. Knapp zwei Monate nach diesem Urteil, nämlich am 1. Juli 2016, sind die
neuen StGB-Bestimmungen über Privatkorruption in Kraft getreten (Art. 322octies und novies StGB). Diese sind nun zwar als Offizialdelikte ausgestaltet, aber
lediglich als Vergehen, sodass Geldwäscherei an Privatkorruptionsgeld weiterhin nicht strafbar ist. Wenn die Bestechungshandlungen (wie meist
üblich) nicht in der Schweiz erfolgen, besteht auch praktisch keine Strafverfolgungszuständigkeit der schweizerischen Justiz. Ein weiteres schwer verständliches
Schlupfloch findet sich auch noch in Art. 322decies Abs. 1 lit. a StGB: Wenn die FIFA (oder eine andere "gefährdete" Organisation oder Gesellschaft) die
Privatbestechung seiner Mitarbeiter und Funktionäre "vertraglich genehmigt", ist diese straflos...
Prof. Dr. Marc Forster, 5. Oktober 2016 ©
Mo
05
Jan
2015
In letzter Zeit häufen sich Stellungnahmen der Bundesan-waltschaft (BA), die auf eine juristische Fehleinschätzung von Art. 260ter StGB (Strafbarkeit
der Unterstützung bzw. Beteiligung an einer kriminellen Organisation) schliessen lassen. Schon an einer Medienkonferenz von Ende August 2014 liess der Bundesanwalt verlauten,
die «blosse Mitgliedschaft» bei einer mafiösen Organisation sei in der
Schweiz «nicht strafbar», weshalb
bei italienischen Rechtshilfeersuchen an die
Schweiz Probleme (mit dem Rechtshilfeerfordernis der beidseitigen Strafbarkeit) entstünden. Laut
Medienberichten vom 4. und 5. Januar 2015 («NZZ am Sonntag») doppelte die BA kürzlich im gleichen Sinne nach: Laufende Untersuchungs- verfahren wegen «blosser Mitgliedschaft» würden künftig von
der BA automatisch eingestellt. Ein Strafverfahren werde nur noch durchgeführt, «wenn Hinweise auf konkrete Unterstützungshandlungen für eine mafiöse Organisation» vorliegen («Tages-Anzeiger» vom 5. Januar 2015, S. 3). Laut Bundesanwalt Michael Lauber reiche «die reine Mitgliedschaft bei einer kriminellen Organisation für eine Verurteilung nicht aus».
Darin sei sich sich «die herrschende Lehre einig». Es brauche den «Nachweis, dass die Beschuldigten die Organisation konkret in ihrer
kriminellen Aktivität unterstützt haben» (http://www.nzz.ch/nzzas/nzz-am-sonntag/wir-machen-keine-abenteuer-mehr-1.18454252).
Dieser mehrfach in den Medien verbreitete Standpunkt
der BA erscheint juristisch und kriminalpolitisch sehr bedenklich und lässt auf eine grundsätzliche Fehleinschätzung der Rechtslage schliessen.
Die Beteiligung an einer mafiösen Organisation (Art.
260ter Ziff. 1 Abs. 1 StGB) ist keineswegs eine Art «geringere» Form der organisierten Kriminalität. Eher trifft das Gegenteil
zu: Ein Mitglied einer kriminellen Organisation zu sein, ist mindestens so strafwürdig, wie die (blosse) punktuelle Unterstützung (Art. 260ter
Ziff. 1 Abs. 2 StGB) durch einen
aussenstehenden Helfer. Beide Varianten werden denn auch vom Gesetz unter den gleichen
Strafrahmen gestellt. Für
überführte Mafiamitglieder dürfte das konkrete Strafmass in der Regel sogar höher ausfallen als für
(jedenfalls nicht sehr wichtige) blosse Unterstützer. Mir ist kein Strafrechtsexperte bekannt, der nur die konkrete Unterstützung der Mafia, nicht aber die «blosse» Mitgliedschaft als strafbar
ansehen würde. Von einer entsprechenden «herrschenden Lehre» (im Sinne der Ausführungen der BA) kann noch viel weniger die Rede sein.
Wie den neusten Medienberichten indirekt zu entnehmen ist, könnte die irreführende Aussage der BA eine bewusste Provokation sein,
um politische Unterstützung für eine Verschärfung der StPO
zu generieren: Die vorgeschlagenen schärferen Instrumente (Verweigerung der
Verteidigung der ersten Stunde, Verweigerung einer nachträglichen Mitteilung der Telefonüberwachung usw., s.
«Tages-Anzeiger» vom 5. Januar 2015, S. 3)
werfen rechtsstaatliche Bedenken auf und dürften auf politischen Widerstand stossen. «Absurd» (so die Einschätzung von Ex-Staatsanwalt Paolo Bernasconi) sind die
aktuellen Regelungen keineswegs, auch nicht in Fällen mit Mafiabezug und auch nicht vor dem durchaus zutreffenden Hintergrund, dass der rechtsgenügliche
(beweisrechtliche) Nachweis einer Mafia-Mitgliedschaft oft schwierig
ist. Wenig sachgerecht erscheint in dem Zusammenhang auch, dass die BA und Teile der
Medien Einstellungen von Untersuchungen (z.B. mangels ausreichenden Beweisen) offenbar als peinliche «Niederlage» missverstehen, anstatt
sie als eine mögliche gesetzliche Erledigungsvariante von sorgfältigen rechtsstaat- lichen Untersuchungen zu erkennen. Die Mentalität, in heiklen Fällen lieber gar nicht erst anzuklagen,
als einen Freispruch zu «riskieren», ist vom US-amerikanischen kompetitiven Rechtsdenken
und von sachfremdem medialem Druck auf die
BA geprägt und dem schweizerischen Strafverfahrensrecht wesensfremd.
Prof. Dr. Marc Forster, 5. Januar 2015
Mi
22
Jan
2014
Nach Medienberichten, die auf der Auswertung von «Offshore-Leaks»-Daten durch das International Consortium of Investigative
Journalists (ICIJ) mit Sitz in
Washington gründen, waren Schweizer Grossbanken in den Jahren 2005/2006 in Geschäfte mit engen Fami- lienangehörigen des damaligen chinesischen Premierministers invol- viert. Dabei handelt es
sich um sogenannte «Politically Exposed Per- sons» (PEPs), für die strenge bankenaufsichtsrechtliche und straf- rechtliche Sorgfaltsregeln gelten.
Die für die Schweiz geltende aktuelle Definition von PEP findet sich in Art. 2 lit. a der (2010 erlassenen) Geldwäschereiverordnung der
FINMA (GwV, SR 955.033.0). PEPs sind Personen
mit prominenten
öffent- lichen Funktionen im Ausland, wie etwa Staats- und Regierungs- chefs oder hohe Politiker und Amtsträger, sowie
auch Unternehmen und dritte Personen, etwa
Familienangehörige oder wirtschaftlich Be- vollmächtigte (bzw. enge Geschäftspartner), die solchen Personen er- kennbar nahe stehen. PEP-Geschäftsbeziehungen
sind für die Banken mit erhöhten Haftungs- und Reputationsrisiken verbunden. Dies besonders dann, wenn es sich um
Angehörige von Machthabern aus Staaten mit hohen Korruptionsraten (oder massiven rechtsstaat- lichen Defiziten) handelt.
Eine Verpflichtung der Banken zu entsprechenden Abklärungen und Vorsichtsmassnahmen bei der
Aufnahme und Pflege von PEP-Ge-schäftsbeziehungen besteht nicht erst seit 2010. Schon 1998 (nach Bekanntwerden der grotesken Korruptionsfälle
Mobutu und Abacha) entschied die damalige Eidgenössische Bankenkommission, die
Sorgfaltsvorschriften von Geschäftsbeziehungen mit PEPs zu vertiefen. Ende 2001 verabschiedete der Basler Ausschuss (Basel Committee on Banking Supervision of the Bank for International Settlements) Mindeststandards zur Kundenidentifizierung. Die Schweiz (vertreten durch FINMA und Nationalbank) war an der Ausarbeitung dieser Standards
massgeblich beteiligt und initiierte beispielsweise die Regel, dass Geschäftsbeziehungen mit PEPs nur mit Zustimmung des obersten
Geschäftsführungsorgans eingegangen werden dürfen. 2002 wurden die einschlägigen überarbeiteten Wolfsberg-Prinzipien (unter
Mitwirkung u.a. von UBS und CS) verabschiedet. 2003 übernahm die Schweiz die 40 Empfehlungen der FATF zur Geldwäscherei-
prävention, darunter auch die Empfehlung Nr. 6 betreffend PEPs (Erkennung von PEP-Kundenbeziehungen, Bewilligung durch die
oberste Geschäftsführung, zusätzliche Abklärungen in Bezug auf die Herkunft der Vermögenswerte sowie
fortlaufende Überwachung der Geschäftsbeziehungen zu PEPs). Künftig werden der
PEP-Begriff und die betreffenden Sorgfaltspflichten direkt im Geldwäschereigesetz (GwG, SR
955.0) definiert und geregelt sein (vgl. Botschaft des Bundesrates zur Umsetzung der 2012 revidierten Empfehlungen der FATF, BBl 2014, 605 ff., 620
ff.).
Bei den in den Medien dargelegten Geschäftsverbindungen von Grossbanken mit nahen Angehörigen des damaligen chinesischen Premierministers waren besonders strenge
Compliance-Regeln zu beachten. Dies umso mehr, als der Premierminister (zwischen 2003 und
2013) aktiv im
Amt war. Solche Geschäftsverbindungen fallen Compliance-rechtlich in die höchste Risikoklasse. Im Fall «China-Leaks» stellt sich primär die Frage, ob die Banken die detaillierten Sorgfaltsvorschriften eingehalten haben, welche der Prüfung (und periodischen Vergewisserung) dienen, dass die angelegten Vermö- genswerte und betreuten
Geschäfte legaler
Herkunft und Ausrichtung sind. Die Prüfung, ob dabei aufsichtsrechtliche Vorschriften verletzt wurden, obliegt der
FINMA.
Geschäftsbeziehungen mit PEPs gelten in jedem Fall
als Kundenkon- takte mit erhöhtem Risiko (Art. 12 Abs. 3 GwV). Abzuklären hat die Bank namentlich, ob ihre Vertragspartei an den eingebrachten Vermö- genswerten
wirtschaftlich berechtigt ist, die Herkunft der einge- brachten Vermögenswerte, der Verwendungzweck abgezogener
Vermögenswerte, die Hintergründe und die Plausibilität grösserer Zahlungseingänge, der Ursprung des
Vermögens der Vertragspartei und
der wirtschaftlich berechtigten Person, die berufliche oder geschäftliche Tätigkeit
der Vertragspartei und der wirtschaftlich
berechtigten Person, ob es sich bei der Vertragspartei oder der wirtschaftlich berechtigten Person um eine PEP handelt, und bei juristischen Personen, wer diese faktisch
beherrscht (Art. 14 Abs. 2 GwV). Das oberste
Geschäftsführungsorgan der Bank (oder mindestens eines seiner Mitglieder) entscheidet
über die Aufnahme von Geschäftsbeziehungen mit PEPs und alljährlich
über deren Weiterführung (Art. 18 Abs. 1 lit. a GwV).
Wenn die Verantwortlichen es unterlassen, die Identität des wirtschaftlich Berechtigten mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt
abzuklären, machen sie sich (nach Art. 305ter Abs.
1 StGB) strafbar. Die Sorgfaltsmassstäbe werden in Art. 3-8 des Geldwä- schereigesetzes sowie in der GwV
konkretisiert (insbes. betreffend PEPs). Falls sich aufgrund der gebotenen Abklärungen ein Verdacht auf Geldwäscherei ergibt, indem die eingebrachten Vermögenswerte z.B. aus Korruption oder ungetreuer Amtsführung stammen könnten, ist die Bank verpflichtet, eine Verdachtsmeldung an die Meldestelle des Bundes zu erstatten (Art. 9 GwG) und die betroffenen Vermögenswerte zu sperren (Art. 10 GwG). Bei Widerhandlung gegen diese Verpflichtungen droht den Verantwortlichen ein Strafverfahren wegen Geldwäscherei (Art. 305bis StGB), mangelnder Sorgfalt bei Finanzgeschäften (Art. 305ter Abs. 1 StGB), Verletzung der Meldepflicht (Art. 37 GwG) und anderen
Delikten.
© 22.01.2014 / Prof. Dr. Marc Forster
Siehe zum Fall «China-Leaks» auch Handelszeitung
online vom 22.1.2014.
Mi
18
Dez
2013
Der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat mit seinen Urteilen schon mehr als einmal Kopfschütteln und
Ratlosigkeit bei Schweizer Juristen ausgelöst. Mit seinem Entscheid in Sachen Dogu Perincek ist die
Qualität und Überzeugungskraft der EGMR-Rechtsprechung an einem bisher unerreichten Tiefpunkt angelangt. Das Urteil wird Rassisten, Geschichts-Revisionisten und politische Hetzer hoch erfreuen.
Es wird sie ermuntern, historisch belegte Völkermorde an Minderheiten und Ethnien öffentlich, systematisch und auf diffamierende Weise zu leugnen oder zu rechtfertigen. Bemerkenswert ist auch,
dass ausgerechnet jene politischen Kreise in der Schweiz das Urteil loben, welche dem Völkerrecht sonst keinen besonderen Stellenwert beimessen wollen und «fremde Richter», insbesondere
europäische, ablehnen.
Die Rechtsgrundlage:
Im Jahre 1994 bestätigte die Schweizer Stimmbevölkerung mit einem Anteil von fast 55% die
Strafnorm gegen Rassismus. Damit schuf die Schweiz die Grundlage für eine Ratifizierung des Anti-Rassendiskriminierungsabkommens der UNO (vgl. z.B.
Marc Forster,
Die Korrektur des strafrechtlichen Rechtsgüter- und Sanktionenkataloges im gesellschaftlichen Wandel, Habil. 1995, ZSR 1995, 1-178, S. 157-161). Die Gegner der
Referendumsvorlage hatten unter anderem befürchtet, negative Stammtisch-Äusserungen gegen Ausländer könnten strafrechtlich verfolgt werden. Die Meinungsäusserungsfreiheit werde damit untergraben.
Strafbar macht sich unter anderem, wer öffentlich eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion herabsetzt oder aus einem dieser Gründe Völkermord oder andere Verbrechen gegen die
Menschlichkeit leugnet, gröblich verharmlost oder zu rechtfertigen sucht (Art. 261bis Abs. 4 StGB). Dass in den Jahren 1915 und
1916 zwischen (mindestens) 300'000 und 1,5 Millionen armenische Kinder, Frauen und Männer einer systematischen ethnischen Vertreibung sowie Massentötungen durch Verantwortliche des Osmanischen
Reichs zum Opfer gefallen sind, wird praktisch von keinem ernstzunehmenden Historiker in Abrede gestellt. Am 16. Dezember 2003 anerkannte der Schweizer Nationalrat offiziell den Völkermord an den
Armeniern. Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden im Übrigen in Art. 264 und 264a StGB näher definiert.
Der Fall Perincek:
Wie Medienberichten entnommen werden kann, handelt es sich bei Dogu Perincek um einen
extremistischen türkischen Nationalisten. Er wurde im August 2013 (u.a. wegen Verschwörung und Putschplänen gegen die
demokratisch gewählte türkische Regierung) von einem türkischen Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt und befindet sich heute im Gefängnis. Offenbar als Reaktion auf den Entscheid des
Nationalrates vom 16. Dezember 2003 liess Perincek im Mai, Juli und September 2005 (in Lausanne,
Opfikon und Köniz) öffentliche Veranstaltungen durchführen, an denen er wiederholt den Genozid an den Armeniern in
Abrede stellte. Zwar räumte er ein, dass Massaker und
Deportationen stattgefunden hätten. Er rechtfertigte diese
aber als «legitime Kriegshandlungen» und mit der Behauptung, die Armenier hätten ihrerseits analoge
Massaker und Deportationen an Türken begangen. Im Jahr 2007 verurteilte die Waadtländer Justiz Perincek wegen Rassen- diskriminierung
zu einer bedingten Geldstrafe von Fr. 9'000.--, einer Busse von Fr. 3'000.-- und einer Genugtuungsleistung von Fr.
1'000.-- zugunsten eines gemeinnützigen Vereins (Association Suisse-Arménie). Das Schweizerische Bundes- gericht bestätigte die Verurteilung mit Urteil vom 12. Dezember 2007 (Urteil 6B_398/2007 =
Pra 2008 Nr. 134 S. 838 ff.). Der EGMR verurteilte die Schweiz deswegen am 17. Dezember 2013 wegen Verletzung der Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 10
EMRK).
Die Argumente des EGMR:
Der EGMR argumentiert, Perincek habe die Massaker und Deportationen nicht geleugnet, sondern zu rechtfertigen versucht. Seine Ausführungen enthielten auch historische, juristische und politische Elemente.
Der EGMR übersieht zunächst, dass das Schweizer Strafrecht auch das (haltlose und rassistisch motivierte) Rechtfertigen
von Völkermord ausdrücklich unter Strafe stellt. Sodann besteht für die Behauptung, die Armenier hätten 1915-1916 ihrerseits Hundertausende Türken deportiert und getötet,
nicht der geringste Nachweis, geschweige denn ein wissenschaftlicher Konsens unter Historikern. Mit seinen Behauptungen versuchte Perincek, den
Opfern
des Genozids auf diffamierende Weise die Schuld an den von ihnen erlittenen Verbrechen zuzuschieben. Dies ist eine für extreme Rassisten und Revisionisten
geradezu typische Argumentationsstrategie. Dass das Schweizer Strafrecht auch das (haltlose und diffamierende)
Rechtfertigen von Völkermord unter Strafe stellt, ist ausdrücklich zu begrüssen. Der Entscheid des EGMR scheint dadurch geprägt, dass in einigen Ländern, insbesondere in skandinavischen,
osteuropäischen und anglosächsischen, revisionistische und rassistische Hetzereien nicht oder nur in geringerem Ausmass strafbar sind. Dies ist aber ein
politisches
Thema und lässt die Schweizer Antirassismus-Strafnorm keineswegs als menschenrechtswidrig erscheinen.
Der EGMR findet, Perincek habe weder die Armenier herabgewürdigt, noch zu Rassenhass oder Gewalt aufgerufen oder die öffentliche Ordnung ernsthaft gefährdet. Auch hier wedelt der
Gerichtshof begriffsjuristischen Staub auf, anstatt zwischen grundrechtlichen, strafrechtlichen
und kriminal- politischen Fragestellungen zu differenzieren:
Die Einschätzung des EGMR, Perincek habe die Armenier und deren Andenken an Hunderttausende Verfolgte und Getötete nicht öffentlich herabgewürdigt, ist schon aus den oben genannten Gründen
abzulehnen. Wer die Tatsachen verdreht und Opfer zu Tätern macht,
diffamiert und verhöhnt die Opfer aufs Gröbste. Hinzu kommt, dass Perincek agitatorisch, polemisch und aggressiv aufgetreten ist. Seine öffentliche Vortragstournee in drei verschiedenen Gemeinden in der
deutschen und französischen Schweiz war offensichtlich als bewusste Provokation inszeniert. Perincek leugnete und verdrehte historische Fakten zu propagandistischen (nationalistischen) Zwecken.
Seine reisserischen Auftritte mussten auf die in der Schweiz lebenden Armenier beleidigend, diffamierend und hetzerisch wirken.
Mit dem Hinweis, er habe nicht direkt zu Rassenhass oder Gewalt aufgerufen, argumentiert der EGMR erneut am Wortlaut der Schweizer Antirassismus-Strafnorm vorbei: Eine Verurteilung wegen Leugnens
oder Rechtfertigens von Völkermord setzt nicht voraus, dass der Täter (auch noch) zu Rassenhass oder gar zu Gewalt aufhetzt. Es genügt, dass er durch seine rassistisch-nationalistisch motivierte
Diffamation der Opfer den öffentlichen Frieden ernsthaft verletzt. Wer in der Schweiz zu Gewalt gegen Menschen oder
Sachen auffordert, wird schon nach Art. 259 Abs. 2 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren (oder Geldstrafe) bestraft. Der EGMR scheint mit den Normen des StGB offenbar wenig vertraut zu
sein. Der Umstand, dass die Schweizer Rassismus-Strafnorm nicht bloss den Aufruf zu Rassenhass und Gewalt unter Strafe stellt, sondern auch das diffamierende öffentliche Leugnen und Rechtfertigen
von Völkermord, ist sehr zu begrüssen. Dass einige europäische Länder (noch) keine identische Regelung haben, lässt die Schweizer Gesetzgebung nicht als menschenrechtswidrig erscheinen.
Auch der Unterschied, den der EGMR zum (seiner Ansicht nach durchaus strafbaren) Leugnen oder Rechtfertigen des Holocaust
sehen will, überzeugt nicht. Er beruft sich darauf, dass es keinen politischen Konsens
zum Genozid an den Armeniern gebe, da ihn «nur» 20 von 190 Staaten anerkannt hätten. Eine solche Argumentation stellt die Aufgabe des Strafrichters auf den Kopf: Bei der Anwendung der
Strafbestimmungen gegen Genozid (Art. 264 StGB) und Leugnen von Genozid (Art. 261bis Abs. 4 StGB) muss der Strafrichter
beurteilen, ob nach den historisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen von einem Völkermord auszugehen ist. Die
Frage, welche Staaten und Behörden aus politischen Überlegungen die historischen Fakten offiziell anerkannt haben, kann dabei keine massgebliche Rolle spielen. In einem demokratischen Rechtsstaat muss rassistische Genozidleugnung auch dann strafbar sein können, wenn
gewisse Länder noch Mühe bekunden, Rassismus konsequent zu bekämpfen oder (sie betreffende) historische Fakten aufzuarbeiten. Und selbst politisch hat ein grosser Teil der europäischen bzw.
westlich-demokratischen Staaten den Genozid an den Armeniern offiziell anerkannt. Historisch-wissenschaftlich ist er
genauso wenig bestreitbar wie der Holocaust.
Bei seiner Auffassung, die Verurteilung Perinceks zu einer bedingten Geldstrafe und einer Busse erscheine unverhältnismässig, verkennt der EGMR wiederum das Schweizer Sanktionenrecht.
Eine Freiheitsstrafe droht Perincek nur, wenn er die Busse nicht zahlt oder rückfällig wird. Ausserdem mischt sich der EGMR appellatorisch-kleinlich in die Strafzumessung der zuständigen
Strafgerichte ein.
Schlussfolgerung - wenn der kriminalpolitische Schwanz mit dem menschenrechtlichen Hund wedelt:
Es sind keine juristischen Gründe ersichtlich, weshalb Schweizer Gerichte nicht weiterhin Art. 261bis Abs. 4 StGB anwenden und rassistische Straftäter wie Dogu Perincek konsequent bestrafen
sollten. Der demokratische Rechtsstaat hat im Gegenteil die grundrechtliche Verpflichtung,
menschenverachtenden öffentlichen Rassismus strafrechtlich zu verfolgen. Dies gilt auch für revisionistische
öffentliche Agitationen, die unter dem Deckmantel der «Meinungsäusserungsfreiheit» daherkommen und die wissenschaftlich belegten Tatsachen zu verbiegen suchen (vgl.
z.B. Forster, Habil., a.a.o., S. 161). Dass der EGMR das rassistische Leugnen von Völkermord demgegenüber unter
den Schutz der Menschenrechte stellen möchte, ist eine bedauerliche juristische Fehlleistung, die fast schon an Zynismus
grenzt. Die Analyse der Urteilsgründe lässt darauf schliessen, dass hier kriminalpolitische Überlegungen und Prägungen im Vordergrund standen und nicht echte Motive des Grundrechtsschutzes. Ein Weiterzug des Urteils an die Grosse Kammer des EGMR durch die Schweiz
drängt sich geradezu auf.
©
18.12.2013 / Prof. Dr. Marc Forster
Nachtrag: Im März 2014 hat der Bundesrat entschieden, das EGMR-Urteil an
die Grosse Kammer weiterzuziehen.
Di
02
Jul
2013
Fr
13
Jul
2012
Nachdem das Bundesgericht dazu grünes Licht gegeben hat, wurden
die Empfänger von Schmiergeldern in der Höhe
von 160 Millionen Franken an FIFA-Funktionäre durch die Staatsanwaltschaft Zug bekannt gegeben. Zwar vertritt die überwiegende Lehre (darunter Daniel Jositsch und Mark Pieth) die
Auffassung, dass die Wahrnehmung einer öffentlichen Aufgabe durch Private, selbst durch Funktionäre eines ökonomisch und politisch mächtigen privatrechtlichen Vereins wie die
FIFA, grundsätzlich nicht vom Korruptionsstrafrecht des
schweize-rischen StGB erfasst sei
(vgl. z.B. Fabian Steuri, Strafbarkeit und internationale Rechtshilfe in Korrup-tionsfällen - Unter
besonderer Berücksichtigung der Vergabe von Grossveranstaltungen durch internationale Sportverbände, Masterarbeit Universität St. Gallen, 2011, S. 37, 42). Dies ist jedoch aus kriminalpolitischen
Gründen (des Rechtsgüterschutzes und der Gleichbehandlung von strafwürdigem Verhalten) hoch problematisch und wird von diffusen wirtschafts-, standort-, sport- und fiskalpolitischen Motiven beeinflusst. Bei Olympiaden, Fussball-WM und -EM
usw. handelt es sich um politische, wirtschaftliche, soziale und sportkulturelle Grossanlässe von internationaler öffentlicher Bedeutung und Tragweite. Spitzenfunktionäre von IOC, FIFA, UEFA usw. haben enorme wirtschaftliche Macht und massiven politischen
Einfluss, vergleichbar nur mit
sehr hohen staatlichen Funktionären. Das IOC hat sogar Beobachterstatus bei der UNO. Es liesse sich durchaus die These vertreten, dass mit der Vergabe, Planung und Durchführung dieser
internationalen Grossanlässe (funktional und gesamtbetrachtend) eine staatliche Aufgabe wahrgenommen wird. Das in der Lehre eingebrachte Kriterium, für eine Anwendung des Korruptionsstrafrechts müsse zwangsläufig eine
offizielle Vergabe durch den
Staat an die privatrechtliche
Organisation erfolgen, erscheint künstlich bzw. als juristische "Hintertür". Das Kriterium lässt sich dogmatisch und mit der Teleologie des Korruptions-strafrechts jedenfalls nur schwer
begründen. Stossend sind denn auch diverse damit verbundenen Wider-sprüche, wonach die fraglichen Organisationen z.B. aus steuerrechtlicher Sicht privilegierten "öffentlichen Zwecken" dienen sollen, aus
strafrechtlicher Sicht hingegen nicht. Auch die
faktische Staatshaftung für die Veranstaltungskosten (Defizitgarantien usw.)
oder paradiplomatische
Privilegien sprechen für eine
staatliche Aufgabe. Die kriminalpolitisch unhaltbare Rechtslage ruft jedenfalls de lege ferenda nach rascher Korrektur.
Prof.
Dr. Marc Forster, 13. Juli 2012 ©
Di
16
Aug
2011
Bernard Bertossa kommentiert (in Semaine Judiciaire 2011 Bd. I S. 286 f.) den kürzlich publizierten BGE 137 IV 13: Der Haftgrund
der Wiederholungsgefahr (nach Art. 221 Abs. 1 lit. c der neuen StPO) verlangt unter ande- rem, dass der Beschuldigte "bereits
früher gleichartige Straftaten verübt" hat. Der Haftgrund der Ausführungsge- fahr (Art. 221 Abs. 2
StPO) setzt voraus, dass eine Per- son damit gedroht hat, ein schweres Verbrechen auszu- führen.
Das Bundesgericht hatte einen Fall zu beurteilen, wo dem Beschuldigten ein untersuchtes Tötungsdelikt zur Last gelegt wurde. Aufgrund des psychiatrischen Gutach- tens musste zwar befürchtet werden, dass
der Beschul- digte (weitere) schwere Delikte dieser Art verüben könn- te. Er hatte jedoch weder eine entsprechende "Drohung" geäussert, noch hatte er (über das erst zu untersuchen- de
Tötungsdelikt hinaus) bereits gleichartige Vortaten ver- übt. Aufgrund einer "systematisch-teleologischen" Ausle- gung (bzw. Gesetzeslückenfüllung) gelangte das Bundes- gericht zur Ansicht, dass
bei akut zu befürchtenden wei- teren Schwerverbrechen ausnahmsweise vom Vortaten-
erfordernis abgesehen werden könne.
Bernard
Bertossa scheint den Entscheid zu begrüssen ("on respire") und kritisiert (etwas sarkastisch) das vom Gesetzgeber eingeführte
Vortatenerfordernis bei schwe- ren Verbrechen. ("Il n'est pas certain que les victimes du troisième crime auraient apprécié!") Gleichzeitig will
Ber-
tossa die Ursache der verunglückten gesetzlichen Fas- sung ausfindig gemacht haben: - Die Zürcher... Was ihn übrigens nicht verwundere. ("Si on peine à comprendre de tels
égarements, on en connaît au moins l'origine. Sans surprise, c'est dans l'ancien code de procédure pé- nale du canton de Zurich que l'on trouve, au paragraphe 58 al. 1 ch. 3, une disposition de
même nature.")
Hier irrt Kollege Bertossa allerdings.
Vielleicht hatte er eine schon etwas ältere Ausgabe der Zürcher StPO zur Hand. Jedenfalls kannte schon die Zürcher StPO (seit 2005) bei
Schwerverbrechen den Haftgrund der soge- nannten qualifizierten
Wiederholungsgefahr (§ 58 Abs. 1 Ziff. 4), welche (im Gegensatz zur von Bertossa
zitierten einfachen Wiederholungsgefahr, § 58 Abs. 1 Ziff. 3) kei- ne
bereits verübten Vortaten voraussetzte (nachzule- sen z.B. in BGE 135 I 71 E. 2.4
S. 73). Der Eidgenössi- sche Gesetzgeber hat es versäumt, eine entsprechen- de
qualifizierte Wiederholungsgefahr als Haftgrund in der neuen StPO einzuführen. Um die stossendsten Folgen abzuwenden, sah sich das Bundesgericht zu delikaten Auslegungsmanövern gezwungen.
Soviel zur "Ehrenrettung der Zürcher". (Der Blogger ist Thurgauer.) Für den Eidgenössischen Gesetzgeber (und zwangsläufig für die Gerichte) sieht es weniger günstig aus: Leider ist
Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO noch in weiteren Teilen ziemlich verunglückt (mehr dazu in: Basler Kom- mentar StPO-Forster, Art. 221 N. 10-13, sowie im unten angefügten Aufsatz in der ZStrR/pdf,
downloadbar).
Prof. Dr. Marc Forster, 16. August 2011. ©
Zu den daraus resultierenden
politischen Vorstössen siehe aktuell (Sommer 2013) auch:
http://www.20min.ch/schweiz/news/story/Auch-gefaehrliche-Ersttaeter-sollen-kuenftig-in-U-Haft-16233974
–
Mo
22
Apr
2024
Wichtiger Haftgrund bei Schwerverbrechen, keine klare
gesetzliche Grundlage
Die 2011 in Kraft getretene Eidgenössische StPO wies bis vor Kurzem eine gravierende Lücke bei den strafprozessualen Haftgründen auf. Vor 2011 hatten diverse kantonale Strafprozessgesetze noch den Haftgrund der sogenannten «qualifizierten» Wiederholungsgefahr vorgesehen (z.B. § 58 Abs. 1 Ziffer 4 StPO/ZH): Im Gegensatz zur einfachen Wiederholungsgefahr (Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO) konnte danach bei drohenden schweren Gewaltverbrechen vom sogenannten Vortatenerfordernis abgesehen werden. Das heisst, es musste mit der Anordnung von Untersuchungshaft nicht abgewartet werden, bis neben dem «bloss» untersuchten Schwerverbrechen bereits gerichtliche Verurteilungen zu weiteren ähnlichen Delikten vorlagen. Dieser wichtige Haftgrund geriet beim Erlass der Eidgenössischen StPO (2011) in Vergessenheit. Möglicherweise hatte der Gesetzgeber damals fälschlich angenommen, dass der spezifische neue Haftgrund der Ausführungsgefahr (Art. 221 Abs. 2 StPO) auch alle bisherigen Fälle der qualifizierten Wiederholungsgefahr abdeckte.
Notstandsrechtliche Lückenfüllung durch das Bundesgericht
und Legalitätsprinzip
In seiner anschliessenden Rechtsprechung ist das Bundesgericht zum Schluss gekommen, dass es qualifizierte Haftfälle gibt, bei denen die Anordnung von Untersuchungshaft möglich sein muss, ohne dass bereits Verurteilungen zu schweren Gewaltdelikten vorliegen. In BGE 137 IV 13 hat das Bundesgericht auf eine entsprechende gravierende Gesetzeslücke hingewiesen. Das Bundesgericht hat erwogen, dass es «vernünftigerweise nicht in der Absicht der Legislative gelegen» haben könne, bei einem mutmasslich bereits verübten und erneut akut drohenden schweren Gewalt- oder Sexualverbrechen auf die Möglichkeit einer strafprozessualen Inhaftierung zu verzichten, nur weil der Beschuldigte nicht bereits früher schon wegen ähnlichen Schwerverbrechen gerichtlich verurteilt worden war (bestätigt in BGE 143 IV 9 E. 2.3.1).
In der Fachliteratur ist seit 2012 darauf hingewiesen worden, dass eine solche Abweichung vom Gesetzeswortlaut allerdings vor dem Hintergrund des Legalitätsprinzips (Art. 36 Abs. 1 BV) rechtsstaatlich hochproblematisch war und ein entsprechender neuer Haftgrund (wieder) ausdrücklich im Gesetz zu verankern sei (vgl. Marc Forster, ZStrR 2012, S. 341 f.). Im Dezember 2012 reichten daraufhin Isabelle Moret und Daniel Jositsch entsprechende parlamentarische Vorstösse ein. Im Juni 2023 hat das Parlament schliesslich eine Teilrevision der StPO verabschiedet, darunter einiger haftrechtlicher Bestimmungen. Unter anderem verankerte es neu den Haftgrund der «qualifizierten» Wiederholungsgefahr, Art. 221 Abs. 1bis StPO, im Gesetz. In der Bundesversammlung ist diesem Haftgrund kein Widerstand erwachsen. Die Bestimmung trat am 1. Januar 2024 in Kraft (vgl. zur Reformgeschichte Marc Forster, Basler Kommentar StPO, 4. Aufl. 2023, Art. 221 N. 15b).
Neuer Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr
Die gesetzliche Regelung in Art. 221 Abs. 1bis StPO ist wie folgt ausgestaltet: Lit. a setzt eine untersuchte qualifizierte Anlasstat voraus, nämlich den dringenden Verdacht, dass die beschuldigte Person durch ein Verbrechen oder ein schweres Vergehen die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer Person schwer beeinträchtigt hat. Das Vorliegen einer einschlägigen Vortat ist demgegenüber nicht erforderlich. Lit. b verlangt aber zusätzlich, als Prognoseelement, die ernsthafte und unmittelbare Gefahr, dass die beschuldigte Person ein gleichartiges, schweres Verbrechen verüben werde.
Leitentscheid des Bundesgerichtes zum neuen Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr
In seinem zur amtlichen Publikation bestimmten ersten Grundsatzurteil zu Art. 221 Abs. 1bis StPO, 7B_155/2024 vom 5. März 2024, hat das Bundesgericht einige Fragen zur Auslegung der neuen Bestimmung geklärt und insbesondere geprüft, ob sich gegenüber der bisherigen Rechtsprechung zum Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr eine Praxisänderung aufdrängen könnte:
Grad der Rückfallgefahr, «umgekehrte Proportionalität» gegenüber der Schwere der drohenden Verbrechen
Im vom Bundesgericht beurteilten Fall eines untersuchten vorsätzlichen Tötungsdeliktes hatte die Verteidigung die These vertreten, der neue Art. 221 Abs. 1bis lit. b StPO verlange eine «sehr ungünstige» Rückfallprognose. Der Umstand, dass das psychiatrische Gutachten beim Beschuldigten eine «bloss» mittelgradige Rückfallgefahr für neue schwere Gewaltverbrechen festgestellt habe, genüge nach neuem Recht nicht mehr. Dies ergebe sich aus dem gesetzlichen Erfordernis einer «ernsthaften und unmittelbaren Gefahr» neuer Schwerverbrechen. Diesbezüglich könne an der bisherigen einschlägigen Bundesgerichtspraxis nicht mehr festgehalten werden. Das Bundesgericht ist dieser Argumentation nicht gefolgt:
Es erwog Folgendes: Art. 221 Abs. 1bis lit. b StPO verlange als Prognoseelement die ernsthafte und unmittelbare Gefahr, dass die beschuldigte Person ein gleichartiges «schweres Verbrechen» verüben werde. Zwar sei in der bisherigen einschlägigen Bundesgerichtspraxis nicht wörtlich vom Erfordernis einer «ernsthaften und unmittelbaren» Gefahr (von neuen Schwerverbrechen) die Rede gewesen. Es habe in diesem Sinne aber schon altrechtlich eine restriktive Haftpraxis bestanden, indem das Bundesgericht ausdrücklich betont habe, qualifizierte Wiederholungsgefahr komme nur in Frage, wenn das Risiko von neuen Schwerverbrechen als «untragbar hoch» erscheint (BGE 143 IV 9 E. 2.3.1; 137 IV 13 E. 3 f.). Bei der konkreten Prognosestellung werde auch weiterhin dem Umstand Rechnung zu tragen sein, dass bei qualifizierter Wiederholungsgefahr Schwerverbrechen drohen. Bei einfacher und qualifizierter Wiederholungsgefahr sei von einer sogenannten «umgekehrten Proportionalität» zwischen Deliktsschwere und Eintretenswahrscheinlichkeit auszugehen (BGE 146 IV 136 E. 2.2; 143 IV 9 E. 2.8-2.10). Der kantonalen Vorinstanz sei darin zuzustimmen, dass bei ernsthaft drohenden schweren Gewaltverbrechen auch nach neuem Recht keine sehr hohe Eintretenswahrscheinlichkeit verlangt werden könne. Die richterliche Prognosebeurteilung habe sich dabei auf die konkreten Umstände des Einzelfalles zu stützen (BGE 7B_155/2024 vom 5. März 2024, E. 3.6.2).
Im beurteilten Fall stufte das Bundesgericht es als bundesrechtskonform ein, dass die Vorinstanz eine ausreichend erhebliche (ernsthafte und unmittelbare) Wahrscheinlichkeit für neue schwere Gewaltverbrechen bejahte. Das Obergericht habe dabei namentlich der im psychiatrischen Gutachten festgestellten «mittelgradigen» Rückfallgefahr Rechnung tragen dürfen, der gutachterlich diagnostizierten psychischen Auffälligkeit und Unberechenbarkeit des Beschuldigten, der besonderen (gewaltexzessiven) Brutalität des ihm zur Last gelegten Tötungsdeliktes, seiner auffälligen Vorliebe für Waffen, insbesondere Messer, Schlagstöcke und Elektroschockgeräte, der von ihm in Internet-Chats geäusserten weiteren Gewaltbereitschaft, seiner Affinität für sadistische Darstellungen von brutaler Gewalt oder auch den vom Obergericht dargelegten Anzeichen für eine massive Suchtmittelproblematik des Beschuldigten (BGE 7B_155/2024 vom 5. März 2024, E. 3.6.3).
Unmittelbare Sicherheitsgefährdung bei qualifizierter Wiederholungsgefahr
Weiter hatte die Verteidigung geltend gemacht, es fehle im beurteilten Haftfall an einer unmittelbaren Sicherheitsgefährdung durch die drohenden neuen Delikte. Bei der «Unmittelbarkeit» handle es sich um ein «neues gesetzliches Kriterium», das eine Praxisänderung erforderlich mache. Auch dieser Argumentation folgte das Bundesgericht nicht. Die in Art. 221 Abs. 1bis lit. a StPO genannten Anlasstaten, nämlich Verbrechen und schweren Vergehen, mit denen die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer Person schwer beeinträchtigt wird, würden vom Gesetzgeber bereits de lege als unmittelbar sicherheitsgefährdend eingestuft. Im Gegensatz zur einfachen Wiederholungsgefahr (Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO, neue Fassung ebenfalls in Kraft seit 1. Januar 2024) verlange der Wortlaut von Art. 221 Abs. 1bis lit. a StPO denn auch keine (zusätzliche) «unmittelbare Sicherheitsgefährdung» (BGE 7B_155/2024 vom 5. März 2024, E. 3.7).
22. April 2024 / © Prof. Dr. Marc Forster, RA
Do
02
Nov
2023
Die WHO treibt auf zwei Ebenen einen transnationalen Rechtsrahmen voran, zur Pandemiebekämpfung und zur Vorsorge gegenüber – breit und unklar definierten – "globalen Gesundheitsnotständen". Zum einen soll ein neuer WHO-Vertrag zur Pandemievorsorge abgeschlossen werden. Die Entscheidung, diesen neuen Vertrag auszuhandeln, wurde im Dezember 2021 auf der zweiten Sondersitzung der Weltgesundheitsversammlung (WHA) getroffen. Zweitens wird der bereits seit 2002 bestehende multilaterale Vertrag zur Regelung von "globalen Gesundheitsnotständen" überarbeitet. Der Beschluss, diesen Prozess einzuleiten, wurde von der WHA im Mai 2022 gefällt. Nach dem Fahrplan der WHO sollen diese neuen Rechtsgrundlagen von den Vertragsstaaten und WHO-Gremien im Mai 2024 bewilligt werden.
Diese folgenreiche Entwicklung des transnationalen Rechtsrahmens zur Bekämpfung von Pandemien und sogenannten "globalen Gesundheitsnotständen" stösst bei Expertinnen und Experten der Grundrechte und des Medizinrechts auf grosse Bedenken. Sie rufen dringend zu einer offenen Debatte auf. Zu hoffen ist, dass dieser offene faktenbasierte Diskurs nicht vom WHO-spezifischen organisierten "Pre-Bunking" unterdrückt und gestört werden wird (Zensur und Diskreditierung von unliebsamen, nach Meinung von WHO-Funktionären angeblich irreführenden Informationen in Medien und elektronischen Foren).
In der hier beigefügten Analyse der Global Health Responsibility Agency werden zusammengefasst folgende Tendenzen der WHO-Bestrebungen kritisiert ("Die Pandemiegesetzgebung der WHO: Besorgniserregende Verhandlungen von internationaler Tragweite, Oktober 2023, Autorin: Dr. Amrei Müller, © 2023 Global Health Responsibility Agency, S. 47 f.):
Erstens werden die besonderen Befugnisse der WHO, einen globalen Gesundheitsnotstand (PHEIC) auszurufen und "den Staaten medizinische und nicht-medizinische Gegenmassnahmen zu empfehlen, erheblich zunehmen".
Zweitens "werden in Zukunft über das geplante globale Bioüberwachungssystem große Mengen an biologischem Material- und Genomsequenzdaten gesammelt und ausgetauscht. Dies erhöht nicht nur die Wahrscheinlichkeit der Entdeckung neuer oder wiederauftretender Erreger mit (angeblichem) PHEIC-/Pandemiepotenzial, sondern schafft auch Anreize für hochgefährliche Gain of Function-Forschung".
Drittens "soll die präventive Forschung und Entwicklung zu Krankheitserregern mit PHEIC-/Pandemiepotenzial erheblich ausgeweitet werden, insbesondere die Forschung und Entwicklung von mRNA-basierten Impfstoffen".
Viertens "soll die rasche Notfallzulassung von PHEIC-/Pandemieprodukten im internationalen und regionalen Recht sowie in den nationalen Rechtsordnungen aller WHO-Mitgliedstaaten ermöglicht werden".
Fünftens "wird die WHO teilweise in eine Agentur umgewandelt, die die weltweite Produktion, Beschaffung und Verteilung von PHEIC-/Pandemieprodukten" leitet und koordiniert, "wobei die WHO-Mitgliedstaaten verpflichtet sein werden, ihre eigenen Produktions- und Verteilungsnetze für solche Produkte auf- und auszubauen".
Sechstens "wird ein biomedizinisches System für die Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs unter Verwendung digitaler Gesundheitspässe über weltweit interoperable Digitalplattformen aller Wahrscheinlichkeit nach Realität werden".
Siebtens "sollen die Staaten in ihre Gesundheitsinfrastruktur investieren, damit sie in der Lage sind, die von der WHO empfohlenen medizinischen und nicht-medizinischen PHEIC-Gegenmassnahmen, einschließlich Massenimpfkampagnen, durchzuführen". Dabei dürften "große Teile staatlicher Gesundheitsbudgets für die Prävention, Vorbereitung und Reaktion auf PHEIC/Pandemien ausgegeben werden" müssen, "besonders in Staaten mit geringem Einkommensniveau".
Achtens "wird das weltweite ‚Pre-Bunking‘ und ‚De-Bunking‘ – einschließlich direkter Zensur – von durch die WHO definierten Fehlinformationen oder Desinformationen über Erreger und Krankheiten, die einen PHEIC bzw. eine Pandemie verursachen, voraussichtlich erheblich zunehmen".
Die Verabschiedung und Umsetzung dieser von der WHO-Doktrin inspirierten Reformvorschläge, "wird daher wahrscheinlich
weltweit weitreichende negative Folgen für die Gesundheit und den Menschenrechtsschutz haben. Sie werden die Rechte und
Pflichten der Staaten aushöhlen, nationale Gesetze und Politiken im Gesundheitsbereich festzulegen und umzusetzen, die den
vorrangigen Gesundheitsbedürfnissen der Bevölkerung entsprechen und die Menschenrechte auf Gesundheit, Privatsphäre, Meinungsfreiheit, körperliche Unversehrtheit, Leben und Freiheit von Folter oder unmenschlicher oder
erniedrigender Behandlung respektieren und gewährleisten."
Ausserdem werden sie "die undurchsichtige Durchmischung des öffentlichen und privaten Sektors in internationalen Gesundheitsinstitutionen wie der WHO vorantreiben, indem sie philanthropischen Stiftungen, multinationalen Unternehmen und öffentlich-privaten Partnerschaften immer mehr Einfluss auf die globale Pandemiepolitik (und damit Macht) verleihen. Dies bringt nicht nur zusätzliche Interessenkonflikte für die WHO mit sich und erhöht die Möglichkeiten für Profitmacherei in PHEIC-/Pandemiesituationen durch diese privaten Akteure. Es führt auch zu einer weiteren Streuung der internationalen Verantwortlichkeiten und verhindert damit die Einrichtung wirksamer Rechenschaftsmechanismen für Schäden, die durch globale Pandemie-/PHEIC-Präventions- und Reaktionsprogramme verursacht werden. Die Reformen schaffen zudem Anreize für hochgefährliche Gain of Function-Forschung. Nicht zuletzt wird die Umsetzung dieser Reformen immense (öffentliche) Ressourcen benötigen".
Vor diesem Hintergrund ruft die Global Health Responsibility Agency dringend auf "zu einer offenen und umfassenden Debatte über die geplanten Änderungen des Vertrags zur Regelung von "globalen Gesundheitsnotständen" und zum geplanten neuen WHO-Pandemievertrag und ihre weitreichenden Auswirkungen in allen WHO-Mitgliedstaaten". Dies müsse "ein erster Schritt sein, um die besorgniserregenden Verhandlungen von internationaler Tragweite und ihre potenziell weitreichenden negativen Folgen für die menschliche Gesundheit und den Menschenrechtsschutz weltweit zu stoppen".
(Dokument hochgeladen von Prof. Dr.iur. Marc Forster/2.November 2023)
Do
07
Sep
2023
Strafbewehrte Impfobligatorien
Auf dem Höhepunkt der Corona-Epidemie haben vereinzelte Länder allgemeine oder partielle Impfobligatorien eingeführt, mit denen die Bevölkerung unter Strafdrohung zu Prophylaxe-Anstrengungen gegen die Lungenkrankheit Covid-19 bewegt werden sollte. In Europa hat Deutschland eine einrichtungsbezogene
Impfpflicht (Bundeswehr, Spitäler und Pflegeeinrichtungen) eingeführt, Österreich sogar ein generelles strafbewehrtes Impfobligatorium, Italien (das 2019/20 von
der Coronawelle besonders stark betroffen war) eine Impfpflicht für ältere Menschen ab 50 Jahren. Griechenland sah für über 60-jährige Ungeimpfte konfiskatorische
Dauerbussen von monatlich EUR 100.-- vor. In der Schweiz wurden Forderungen nach einem Corona-Impfobligatorium vor allem in den Medien erhoben. Die deutsche Bundesregierung hat sich noch im April 2022 (bereits unter der Dominanz der Omikron-Variante) vergeblich darum bemüht, ein allgemeines Impfobligatorium zu legiferieren; Österreich
hat seine allgemeine strafbewehrte Impfpflicht zunächst beschlossen und dann 2022 wieder sistiert.
Grundrechtliche Problematik
Bei aller berechtigter gesundheitspolitischer Besorgnis (teilweise begleitet von grosser medialer Aufregung) muss aus rechtsstaatlicher Warte bedacht werden, dass ein strafbewehrtes Corona-Impfobligatorium massive grundrechtliche Konsequenzen nach sich zöge. Die Menschen könnten nicht mehr frei wählen, welche Pharmaprodukte ihnen zu welchem Zweck in den Körper gespritzt werden; für die freie Ausübung ihrer diesbezüglichen elementaren Grundrechte würde ihnen sogar eine Bestrafung drohen. In Österreich z.B. waren massive kumulierbare Geldstrafen von mehreren tausend Euro vorgesehen. Ein solcher Schwersteingriff in die elementaren Grundrechte bedarf einer äusserst sorgfältigen juristischen Legitimationsprüfung und Interessenabwägung. Das muss besonders bei neuartigen Pharmaprodukten gelten, im vorliegenden Fall mRNA-Präparaten, die erst provisorisch und ohne klinische Doppelblindstudien zugelassen waren, bei denen noch wenig Erfahrungen betreffend immunologische Langzeitfolgen und unerwünschte Nebenwirkungen hatten gesammelt werden können und für deren massenweisen Einsatz die Produzenten auch noch jegliche Haftung ablehnten.
Interdisziplinäre Untersuchung an der Universität St.Gallen
Die Coronakrise hat die ganze Welt ab 2019 sehr massiv und unvorbereitet getroffen. Auch in der Schweiz hat sie die Justiz vor grosse Herausforderungen gestellt, die sie in unserem Land rasch und inhaltlich zumeist massvoll und überzeugend löste (vgl. dazu Marc Forster, Strafrecht, Justiz und Menschenrechte in Zeiten von Covid-19, SJZ 2020, S. 451 ff.). Demgegenüber hat sich die Rechtswissenschaft (im gesamten deutschsprachigen Raum) zur Problematik der Corona-Massnahmen nicht gerade mit "Lorbeeren" überhäuft. Als eine der (ziemlich überschaubaren) positiven Ausnahmen sei hier die pionierhafte Untersuchung von Silvia Behrendt/Amrei Müller genannt (auf: Jusletter vom 20. Dezember 2021 und 24. Januar 2022). Soeben ist auch ein Forschungsbeitrag der Universität St. Gallen erschienen, welcher aus rechtsmedizinisch-juristischer Perspektive die Grundrechtskonformität einer strafbewehrten Corona-Impfpflicht untersucht (Fabienne Gmünder, Masterarbeit Uni SG 2023). Interdisziplinäre Forschungsleiter waren der Rechtsmediziner Prof. Dr.med. Roland Hausmann und der Strafrechtler Prof. Dr.iur. Marc Forster.
Resultate
Die St.Galler Untersuchung unterscheidet zwischen den tatsächlichen Gegebenheiten unter der Dominanz der Delta-Variante des
SARS-CoV-2-Virus (mit ihren für den Krankheitsverlauf von Covid-19 ebenfalls besonders gefährlichen Vorläuferinnen bis ca. Herbst 2021) und der seither dominanten
Omikron-Variante. Aus juristisch-rechtsmedizinischer Sicht ist diese Differenzierung wichtig, da sich unter den Gesichtspunkten der Geeignetheit, Notwendigkeit und Zumutbarkeit
eines Impfobligatoriums diverse Parameter und Erkenntnisse verändert haben. Der Forschungsbeitrag kommt zum Schluss, dass ein
generelles Impfobligatorium selbst unter der Delta-Variante grundrechtswidrig (gewesen) wäre (MA S. 45 f., 55). Angesichts möglicher (wenn auch seltener)
schwerer Nebenwirkungen und "Impfschäden" und der deutlich selteneren schweren Krankheitsverläufe bei jungen Personen, wird eine strafbewehrte Impfpflicht für
junge Menschen als unverhältnismässig eingestuft (S. 46, 55). Unter dem Einfluss einer relativ gefährlichen Virusvariante (Delta und ähnliche)
wird hingegen ein partielles gesetzliches Impfobligatorium für professionelles Pflegepersonal, das in engem Körperkontakt mit betagten oder
gesundheitlich besonders vulnerablen Personen steht, für zumutbar und
vertretbar angesehen. Ebenso wird für gefährliche Varianten eine Impfpflicht für betagte Personen ins Auge gefasst. Allerdings räumt die Untersuchung ein, dass es
verfassungsrechtlich und kriminalpolitisch schwierig wäre, für den schweren grundrechtlichen Eingriff einer strafbewehrten Impfpflicht ein nichtdiskriminierendes
und sachlich überzeugendes Alters- und Vulnerabilitätskriterium festzulegen.
Eignung der "Impfung"
Zentral ist die juristische Prüfung der Verhältnismässigkeit eines (allgemeinen oder partiellen) Impfobligatoriums. Bei der Eignung der Massnahme ist zunächst zu untersuchen, welches gesetzgeberische Ziel mit einer mRNA-Impfung gegen Covid-19 realistischerweise erreichbar ist. Eine sterilisierende Impfung im engeren Sinne (wie etwa gegen Masern) ist im Falle des Coronavirus nicht möglich. Vielmehr schützt die Impfung (nur aber immerhin) vor schweren Verläufen und sie hemmt auch in gewissem Umfang die Übertragbarkeit des Virus. Im Fokus steht daher als realistisches Ziel die Vermeidung einer grossen Welle von schweren Erkrankungen mit der Folge einer drohenden Überlastung der Spitäler (vgl. MA S. 39). Gestützt auf die bisherigen medizinischen Forschungsresultate zur Wirksamkeit der mRNA-"Impfung" zeigt sich dabei folgendes Bild:
Der Impfstoff von Pfizer-BioNTech gegen SARS-CoV-2-Infektionen (und auch
spezifisch gegen Varianten) lässt bei vollständig geimpften Erwachsenen innerhalb von sechs Monaten nach. Tartof et al. stellten fest, dass die
Wirksamkeit gegen Nicht-Delta-Varianten einen Monat nach vollständiger Impfung bei 97% lag und nach fünf Monaten auf bis zu 67% abfiel. Für die
Delta-Variante belief sich die Wirksamkeit einen Monat nach vollständiger Impfung auf 93%, sank jedoch nach fünf Monaten auf 53%. In zahlreichen Studien wurde
nachgewiesen, dass Antikörper, die durch Impfungen hervorgerufen werden, insb. die jüngsten Virusvarianten weniger effektiv neutralisieren können. Eine US-amerikanische Studie von
Weinberger zeigt, dass die Wirksamkeit der mRNA-Impfstoffe gegen eine Infektion mit SARS-CoV-2 nach 8 Monaten von über 90% auf 70-80% abfällt; jedoch bleibt die
Wirksamkeit gegen Hospitalisierung nahezu konstant bei rund 90%. Personen, die mehr als sechs Monate zuvor zwei Dosen mRNA-Impfstoff erhalten haben, sind besser
gegen Delta als gegen Omikron geschützt, wobei die dritte Dosis die Schutzwirkung gegen Hospitalisierung auf 94% (Delta) bzw. 90% (Omikron) erhöht (vgl. MA S.
13).
Was die Nebenwirkungen des "Spikens" betrifft, hatte der Generaldirektor der
WHO noch in einer offiziellen Pressemitteilung vom 1. Dezember 2021 sämtliche Sicherheitsbedenken, die sich aus einer grossen Anzahl von Verdachtsmeldungen an die
Frühwarn-Datenbank VigiAccess über Nebenwirkungen nach der COVID-19-Impfung ergeben haben, mit Hinweis auf die hohen Impfraten rundweg zurückgewiesen. Demgegenüber hat SWISS-MEDIC in der
Zeitspanne vom 1. Januar 2021 bis zum 22. Februar 2023 Verdachtsmeldungen von unerwünschten Wirkungen der COVID-19-Impfungen in der Schweiz ausgewertet. Insgesamt wurden 16'855
Verdachtsfälle gemeldet, wobei 10'365 (61.5%) als nicht schwerwiegend und 6'490 Verdachtsfälle (38.5%) als
schwerwiegend eingestuft wurden. Verabreicht wurden in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein 16'981'243 Impfdosen. Daraus ergibt sich eine Melderate von 0.99 pro 1'000
verabreichten Dosen (MA S. 14 f.). Hier ist allerdings noch zusätzlich einer nicht unerheblichen Dunkelziffer Rechnung zu tragen. Jedenfalls erscheint es nicht ohne weiteres
garantiert, dass impfende Ärzte und Medizinalpersonal auch alle schweren Verdachtsfälle melden, zumal die damit verbundenen Haftungsfragen und
strafrechtlichen Probleme (etwa Fragen zur ausreichenden Aufklärung und zur rechtswirksamen Einwilligung) juristisch noch ungeklärt erscheinen.
Bedenklich wirkt sich aus juristischer Sicht aus, wenn vorher gesunde Menschen ohne schweres Covid-19-Erkrankungsrisiko erst nach einer behördlich empfohlenen oder gar gesetzlich obligatorischen Impfung schwerwiegend anderweitig erkranken. In den meisten skandinavischen Ländern wurde die Impfung von jungen Männern aufgrund zahlreicher Myokarditis-Verdachtsfälle ab Frühling 2021 sukzessive gestoppt. Weitere schwere (wenn auch seltene) Nebenwirkungen aus der medizinischen Praxis (wie z.B. Schlaganfälle, Gürtelrosen, allergische Schocks, Karzinom-Rezidive usw.) bilden noch Gegenstand von internationalen Untersuchungen.
Erforderlichkeit
Weiter untersucht der Forschungsbeitrag (unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit des Grundrechtseingriffes), welche medizinischen Notlage mit einem Impfobligatorium gebannt werden soll und ob dafür auch mildere Massnahmen ausreichen könnten. Die Virusvarianten bis Delta (dominant bis ca. Sommer 2021) brachten das Gesundheitssystem (2019-2020) nahe an seine Belastungsgrenzen. Seit Omikron (ca. Herbst 2021) haben sich die massgeblichen Fakten merklich verändert. Zum einen sind deutlich weniger schwere Verläufe zu verzeichnen, sodass wegen Covid-19 kein Gesundheitsnotstand in den Notfallstationen der Spitäler auftrat. Zum anderen sind auch die Behandlungsmöglichkeiten für schwere Erkrankungen unterdessen deutlich verbessert worden, zumal Erfahrungen gesammelt und medizinische Fortschritte erzielt werden konnten. Als mildere Massnahmen (im Vergleich zum Impfobligatorium) bieten sich – zumindest seit der Dominanz von Omikron – etwa ein Testobligatorium und ein Quarantäne-Obligatorium für positiv Getestete an, wie sie unter der Geltung der Covid-19-Gesetzgebung bereits vorübergehend zur Anwendung kamen (MA S. 42 f.).
Die St.Galler Untersuchung berücksichtigt auch Studien zur Impfbereitschaft der Bevölkerung. Das Vertrauen der Schweizerinnen und Schweizer in ihre Institutionen ist im internationalen Vergleich zwar generell hoch. Eine hohe Bereitschaft zur freiwilligen Corona-Impfung hängt aber, neben vertrauenswürdigen und wirksamen Impfstoffen, auch noch wesentlich davon ab, dass ausreichend und objektiv über die Vor- und Nachteile der Impfung informiert wird. Nicht nur in der Schweiz haben die verantwortlichen Behörden nur sehr spärlich und vage über potenzielle Nebenwirkungen informiert, auch als bereits bekannt war, dass Corona-Impfungen zu schweren Nebenwirkungen führen können. Laut einer dänischen Studie kann eine transparente Kommunikation, die auch negative Aspekte nennt, zwar die Akzeptanz der Impfung etwas schmälern, jedoch stärkt sie gleichzeitig das Vertrauen in die Gesundheitsbehörden und wirkt der Verbreitung von sogenannten "Verschwörungstheorien" entgegen. Fraglich erscheint, ob es überhaupt zielführend sein kann, mittels massivem indirektem Zwang (bis hin zum Ausschluss vom kulturellen und sozialen Leben) bzw. unter Androhung von Bussen oder anderen Nachteilen die Willensfreiheit der Bevölkerung bei der Frage von Impfungen beeinflussen zu wollen (MA S. 16 f., mit Hinweisen auf Hehli und Vokinger/Rohner).
Zumutbarkeit
Als entscheidend für die Frage der grundrechtlichen Zulässigkeit eines Impfobligatoriums erweist sich das Kriterium der Zumutbarkeit (sog. "Zweck-/Mittel-Relation" bzw. Verhältnismässigkeit im engeren Sinne). Zunächst ist zu prüfen, in welches Grundrecht eingegriffen wird: Die medizinische Selbstbestimmung und das Recht, selber entscheiden zu dürfen, welche Substanz man wann in den Körper gespritzt erhält, gehört zum Kernbereich der Menschenrechte. Ein Impfobligatorium greift aber nicht nur in die körperliche sondern auch in die geistige Unversehrtheit des Menschen ein; sie umfasst das Recht, Situationen eigenständig zu bewerten und in Übereinstimmung mit dieser Bewertung zu handeln (MA S. 20, u.a. mit Hinweis auf Zeder). Die Durchführung einer Impfung ist nur dann gestattet, wenn zuvor eine ausführliche Aufklärung des Impflings erfolgt ist und dieser daraufhin seine Zustimmung zur Durchführung der Impfung erteilt hat (MA S. 21). Dabei ist auch auf mögliche Nebenwirkungen einer Impfung hinzuweisen. Nach herrschender Lehre und Praxis läge ohne eine solche Einwilligung in einen invasiv-medizinischen Eingriff (sog. "informed consent") sogar – per se – eine strafbare Körperverletzung vor.
Besonders heikel wirkt sich vor diesem grundrechtlichen Hintergrund sogenannter indirekter staatlicher Zwang aus. Dazu gehörten der zeitweise komplette Ausschluss von Nichtgeimpften – selbst mit negativen Corona-Tests – vom sozialen und kulturellen Leben (etwa Bibliotheken, Theater, Fitnesszentren, Schwimmbäder, Gottesdienste, Kinos, Restaurants, Bars oder Diskotheken). In Deutschland wurde 2G sogar an einigen Hochschulen eingeführt. Dass die Studierenden an Freiburger (Ue./Schweiz) Hochschulen die Testkosten (mit monatelangen Tests als Zulassungsvoraussetzung) selber bezahlen mussten, hat das Bundesgericht als verfassungswidrig eingestuft. Die St.Galler Untersuchung äussert auch Kritik an den vom Bundesrat im Dezember 2021 eingeführten 2G-Regeln. Im Klartext bedeutete 2G, dass infizierte und kranke (aber "geimpfte") Personen ungehindert und ohne Tests Diskotheken, Bars und Gottesdienste besuchen konnten, während mit grosser Wahrscheinlichkeit gesunde (negativ auf das Coronavirus getestete) Ungeimpfte ausgeschlossen wurden. Diese kontraproduktive (wenn nicht gar gefährliche) Regelung wurde zwar im Namen einer angeblichen "Epidemiebekämpfung" erlassen; ihr erkennbarer Zweck erschöpfte sich jedoch in der zusätzlichen Verschärfung des gesellschaftlichen Drucks auf Ungeimpfte bzw. in deren sozialer Stigmatisierung.
Beim Kriterium der (partiellen) Zumutbarkeit einer strafbewehrten Impfpflicht ist zu unterscheiden, welche Bevölkerungsgruppen zu dem medizinisch-gesellschaftlichen Notstand, der durch mRNA-Impfungen realistischerweise vermieden werden soll, besonders stark beitragen. Primär sind dies betagte und gesundheitlich vulnerable Menschen. Gleichzeitig profitieren diese (statistisch gesehen) aber auch individuell mehr vom Impfschutz, da sie ohne Impfung besonders stark von schweren Krankheitsverläufen betroffen sind (MA S. 42). Kinder und junge Menschen hingegen haben im Durchschnitt deutlich weniger schwere Krankheitsverläufe. Hinzu kommt noch, dass bei jungen Menschen statistisch auffällig viele erhebliche Nebenwirkungen auftreten, weshalb (etwa ab Frühling 2021) die Corona-Durchimpfung junger Menschen in Skandinavien praktisch eingestellt wurde. Das Verhältnis zwischen Nutzen und Risiko wird für Junge auch noch dadurch verschlechtert, dass erstens (in eher seltenen Einzelfällen) sogar schwere Impfschäden auftreten können (MA S. 42) und zweitens die noch nicht ausreichend erforschten Langzeitwirkungen für Junge eine grössere Bedeutung haben als für betagte Menschen.
Fazit
So sehr eine vorsichtige und restriktive Pandemiepolitik im Zeitraum 2020-21 grundsätzliches Verständnis verdient hat, müssen
massiver indirekter Impfzwang, behördlich-mediale Desinformationen, fragwürdige 2G-Regelungen und strafbewehrte
Impfobligatorien (ab ca. Herbst 2021) aus rechtsmedizinischer und rechtswissenschafticher Warte kritisch analysiert und bewertet werden. Den
Grundrechten ist auch – und gerade – in "pandemisch-phobischen Zeiten" Nachachtung zu verschaffen. Als mühsam erkämpfte zivilisatorische Errungenschaften sind
sie zu wertvoll, um auf Worthülsen einer "Schönwetterpolitik" und wohlklingende Stichworte für Festreden reduziert zu werden (kritisch zum diesbezüglichen Grundrechtsrelativismus in einer phobisch mediatisierten Gesellschaft s. Marc Forster, Kriminalpolitik und
Kriminalpraxis vor alten und neuen Herausforderungen, in: Genillod et al. [Hrsg.], SAK-Tagung Interlaken 2021, Bd. 39, Basel 2022, S. 3 ff., 12 f.).
© Prof. Dr. Marc Forster / 7. September 2023
Do
23
Mär
2023
Am 1. Januar 2024 wird das revidierte Entsiegelungsrecht in Kraft treten (nArt. 248-248a StPO; im Parlament verabschiedet am 17. Juni 2022, vgl. BBl 2022 1560, S. 8 f.). Das Kernproblem des bisherigen Rechts bildeten die lange Verfahrensdauer bzw. das Missbrauchspotential für Verfahrensverschleppungen. Zur Beschleunigung der Entsiegelungsverfahren sollen künftig insbesondere die restriktivere Definition der siegelungsfähigen Aufzeichnungen und Gegenstände sowie Vorschriften zur Straffung des Verfahrens beitragen.
Mit der Ausdehnung der Siegelungsberechtigung und der Verfahrensteilnahme auf Drittpersonen, welche nicht Inhaberinnen der sichergestellten Aufzeichnungen und Gegenstände sind, aber eigene geschützte Geheimnisrechte (aufgrund von Art. 264 Abs. 1 StPO) anrufen können, wird die betreffende Praxis des Bundesgerichtes in der StPO verankert. Als Beispiel sei der Fall eines Arztes genannt, in dessen Praxis Patientenunterlagen sichergestellt werden.
Nach der neuen Regelung kann primär der Arzt als Inhaber der Aufzeichnungen und Träger des Berufsgeheimnisses die Siegelung beantragen (nArt. 248 Abs. 1 Satz 1 StPO). Da für die Staatsanwaltschaft (StA) aber erkennbar ist, dass hier eigene höchstpersönliche, intime Geheimnisse die mitbetroffenen Patientinnen und Patienten tangiert sind, hat die StA diesen als berechtigten Personen ebenfalls Gelegenheit zu geben, die Siegelung zu verlangen (nArt. 248 Abs. 2 StPO). Dies muss zumindest dann gelten, wenn der Arzt selber kein Siegelungs-begehren gestellt hat. Soweit die Patienten entsprechende eigene Geheimnis-rechte (Arzt- und Patientengeheimnis) geltend machen, sind sie als berechtigte Personen zu behandeln und im Entsiegelungsverfahren als Parteien beizuziehen (nArt. 248a Abs. 3 und Abs. 5 StPO). Falls erst das Entsiegelungsgericht erkennt, dass hier neben dem Arzt (als Inhaber) auch die Patienten selbstständig berechtigt sind, so sind Letztere über das Siegelungsbegehren des Arztes zu informieren (nArt. 248a Abs. 2 StPO) und als berechtigte Personen ins Verfahren beizuziehen.
Gemäss der klaren Regelung von nArt. 248 Abs. 2 StPO hat die StA auch den eigenständig berechtigten Drittpersonen, im Beispiel also den mitbetroffenen Patientinnen und Patienten, Gelegenheit zu geben, die Siegelung zu verlangen. Selbst wenn erst das Entsiegelungsgericht erkennt, dass sie (betreffend Patien-tengeheimnisse) berechtigt sind, müssen sie noch nachträglich zum Entsiegelungsverfahren beigezogen werden (nArt. 248a Abs. 2-5 StPO). Es fragt sich, ob dieser selbstständige Rechtsschutz auch für Klienten von Anwälten gelten muss. Nach der im hier vertretenen Auffassung ist dies jedenfalls dann zu bejahen, wenn der Anwalt als Inhaber kein Siegelungsbegehren gestellt hat. Die mitbetroffenen Klienten können eigene Interessen an der Wahrung des Anwaltsgeheimnisses haben (die den Anwalt nicht tangieren). Sofern der Anwalt ein Siegelungs-begehren stellt, ist er als Inhaber an den bei ihm sichergestellten Aufzeichnungen "berechtigt" und kann auch die Interessen seiner Klientschaft wahren. Da die neue Regelung diesbezüglich die bisherige Praxis des Bundesgerichtes abbildet, ist daraus keine spürbare Beschleunigung und Vereinfachung des Verfahrens zu erwarten.
Auch die dreitägige Frist für das Siegelungsbegehren des Inhabers oder der Inhaberin (nArt. 248 Abs. 1 Satz 2 StPO) trägt nur wenig zur gesetzgeberisch angestrebten Verfahrensbeschleunigung bei. Schon nach der bisherigen Rechtsprechung war das Siegelungsbegehren grundsätzlich innert wenigen Tagen zu stellen.
Von erheblicher (normativer) Bedeutung ist die vom Parlament bewusst vorgenommene Einschränkung der möglichen Siegelungsgründe und Durchsuchungshindernisse. Der Siegelung – und damit einem möglichen Durchsuchungs-hindernis im Verfahren nach nArt. 248 f. StPO – unterliegen nach der im Parla-ment verabschiedeten Fassung nur noch Aufzeichnungen oder Gegenstände, die "aufgrund von Art. 264 StPO nicht beschlagnahmt" werden dürfen. Einer Entsiegelung und Durchsuchung können somit künftig nur noch die (allgemeinen) gesetzlichen Zwangsmassnahmenhindernisse von Art. 197 StPO in Verbindung mit einem besonderen Beschlagnahmehindernis gemäss Art. 264 Abs. 1 StPO entgegen stehen. Zwar wurde diese Einschränkung der gesetzlichen Siegelungs-gründe im Gesetzgebungsverfahren ausführlich diskutiert (vgl. Botschaft 2019, S. 6750 f.; Votum BR Keller-Sutter, AB NR 2021 S. 618) und in der Literatur teilweise kritisiert. Der Gesetzgeber hat sich jedoch in Kenntnis dieser Einwände und Gegenvorschläge für die restriktive Lösung (gemäss Expertengruppe NR 2021) entschieden.
Zeugnis- und Aussageverweigerungsrechte ausserhalb der Berufs- und Amtsgeheimnisse nach Art. 264 Abs. 1 lit. a und c-d StPO bilden somit künftig keine möglichen Entsiegelungshindernisse mehr. Das gilt etwa für alle Zeugnis- und Aussageverweigerungsrechte ausserhalb von Art. 170-173 StPO, nämlich solche aufgrund persönlicher Beziehungen gemäss Art. 168 f. StPO, für den nemo tenetur-Grundsatz (Art. 113 Abs. 1 StPO), das Bankkundengeheimnis oder für allgemeine Geschäfts- und Fabrikationsgeheimnisse. Falls kein Siegelungsgrund (geschütztes Geheimnisinteresse) nach Art. 264 Abs. 1 StPO angerufen werden kann, bildet auch der akzessorische Einwand der Untersuchungsrelevanz bzw. der fehlenden Verhältnismässigkeit (Art. 197 Abs. 1 lit. c StPO) kein Entsiegelungs-hindernis. Das Entsiegelungsverfahren dient nicht der allgemeinen Prüfung der der Verhältnismässigkeit von Zwangsmassnahmen, sondern dem Geheimnis-schutz im Hinblick auf die Durchsuchung von Aufzeichnungen und Datenträgern (Art. 246 StPO). Dies gilt schon nach der ständigen bisherigen Praxis des Bundesgerichtes. Die allgemeinen Zwangsmassnahmen-voraussetzungen von Art. 197 StPO sind folglich nur bei Substanziierung von gesetzlich geschützten Geheimnissen (zusätzlich) zu prüfen. Auf ein Entsiegelungsgesuch ist hingegen (mangels gültigem Siegelungsbegehren) nicht einzutreten, falls keine gesetzlich geschützten Geheimnisrechte wenigstens kursorisch angerufen wurden. Falls sich erst nach Substanziierung und näherer Prüfung im Entsiegelungsverfahren ergibt, dass keine Geheimnisse gemäss Art. 264 Abs. 1 StPO tangiert sind, ist das Entsiegelungsgesuch gutzuheissen.
Auch hier sind die praktischen Auswirkungen der Revision eher gering, da schon nach bisheriger Rechtsprechung die primären Entsiegelungshindernisse von Art. 197 Abs. 1 i.V.m. Art. 264 Abs. 1 StPO stark im Vordergrund standen. Weder das Bankkundengeheimnis (BankG, mit Vorbehalt der strafrechtlichen Beweiserhe-bung) noch der nemo tenetur-Grundsatz (mit Einschränkung in Art. 113 Abs. 1 Satz 3 StPO) wurden in der Praxis als Entsiegelungshindernisse anerkannt. Neben den besonderen gesetzlichen Zeugnis- und Aussageverweigerungsrechten (Berufs- und Amtsgeheimnisse) nach Art. 264 Abs. 1 lit. a und c-d StPO verbleiben somit praktisch nur noch für den Persönlichkeitsschutz relevante Privat-geheimnisse, nämlich persönliche Aufzeichnungen und Korrespondenz der beschuldigten Person, als möglicher Siegelungsgrund (Art. 264 Abs. 1 lit. b StPO). Diese Privatgeheimnisse sind allerdings noch gegenüber dem jeweiligen Strafver-folgungsinteresse abzuwägen.
Gestützt auf den Entwurf 2019 und den Vorschlag der Rechtskommission des Nationalrates (2021) wird das Zwangsmassnahmengericht neu auch im erstin-stanzlichen Gerichtsverfahren für Entsiegelungen zuständig sein. Zwar erscheint es inkonsequent, dass im Berufungsverfahren (nArt. 248a Abs. 1 lit. b StPO spricht etwas erratisch von "den anderen Verfahren") die Verfahrensleitung des Berufungsgerichts zuständig bleibt. Die betreffende Kritik in Teilen der Literatur ist allerdings in die Revision nicht eingeflossen.
Grössere Auswirkungen auf die Beschleunigung und Verfahrensstraffung wird nArt. 248a StPO nach sich ziehen. Absatz 3 der Bestimmung sieht vor, dass die berechtigte Person schriftliche "Einwände gegen das Entsiegelungsgesuch" innert einer nicht erstreckbaren (gesetzlichen) Frist von 10 Tagen vorzubringen hat. Da in der bisherigen Praxis solche Fristen oft mehrmals und über mehrere Wochen und Monate hinweg richterlich erstreckt wurden, trägt diese neue Bestimmung zur Beschleunigung bei. Analoges gilt grundsätzlich auch für die gesetzliche Entscheidungsfrist von ebenfalls 10 Tagen (nach Eingang der Stellungnahme) in "spruchreifen" Fällen (Abs. 4), das heisst, wenn keine richterliche Triage der gesiegelten Aufzeichnungen nötig ist und auch sonst kein zwingender sachlicher Grund für eine mündliche Entsiegelungsverhandlung vorliegt. Bei solchen Entscheidungsfristen stellt sich allerdings regelmässig die Frage nach deren blossem Ordnungscharakter bzw. nach den Folgen einer Missachtung der Frist, insbesondere in sachlich begründeten Fällen. Analog zu den Entscheidungsfristen bei Haftverfahren wird eine sachlich begründete und massvolle Überschreitung der Frist nicht ohne weiteres zur Rückgabe der gesiegelten Aufzeichnungen an die Inhaber führen.
Die weiteren Fristvorschriften (von nArt. 248a Abs. 5 StPO) betreffend Durch-führung einer Entsiegelungsverhandlung innert 30 Tagen (nach Eingang der Stellungnahme in nicht "spruchreifen" Fällen) und den "unverzüglichen" Entsie-gelungsentscheid (nach durchgeführter Verhandlung) werden die erstinstanz-lichen Verfahren in der Regel ebenfalls deutlich beschleunigen. Auch die 30-Tages-Frist und die Vorschrift eines "unverzüglichen" Entscheides (innert Tagen bis wenigen Wochen) dürften allerdings blossen Ordnungscharakter in dem Sinne haben, dass ihre Missachtung bzw. massvolle Überschreitung in sachlich begrün-deten Fällen nicht (per se) zur Rückgabe der gesiegelten Aufzeichnungen führt.
In einem neuen Forschungsbeitrag der Universität St. Gallen wird der Reformweg des Entsiegelungsrechts analysiert, vom Vorentwurf 2017 der Expertengruppe BJ, über den darauf gestützten Entwurf des Bundesrates (2019) und die Änderungsvorschläge der Rechtskommission des Nationalrates (2021) bis zur Schlussabstimmung der Räte am 17. Juni 2022 (vgl. Andrina Singenberger, Probleme des Entsiegelungsrechts im Lichte der Revision StPO, Masterarbeit Uni SG, November 2022, S. 37 f.). Dabei werden die bisherige Rechtslage, Kritik und Revisionsvorschläge der Fachliteratur sowie die erfolgte Reform einer kritischen Würdigung unterzogen (vgl. dazu MA S. 36-60).
© Prof. Dr. Marc Forster, RA / 23. März 2023
Nachtrag:
Beschwerde ans Bundesgericht in Entsiegelungssachen auch nach neuem Recht (nArt. 248a StPO, nArt. 80 Abs. 2 BGG):
Wegen einer irrtümlichen Äusserung in einem Teil der Materialien ist in Fachkreisen die Frage aufgeworfen worden, ob nach Inkrafttraten der neuen StPO weiterhin die Beschwerde an das Bundesgericht gegen Entsiegelungs-entscheide der Zwangsmassnahmengerichte zulässig ist. Die Frage ist eindeutig zu bejahen:
Herr B. Stadelmann (Bundesamt für Justiz) äusserte sich anlässlich der Sitzung der nationalrätlichen Kommission für Rechtsfragen vom 8./9. Oktober 2020 missverständlich ("ein Verzicht auf das Prinzip der "double instance" - was bedeutet, dass ein Entsiegelungsentscheid des Zwangsmassnahmengerichts endgültig ist und nicht an das Bundesgericht weitergezogen werden kann"). Der Irrtum wurde in den Beratungen der Bundesversammlung leider teilweise kolportiert (Votum von Frau NRin C. Markwalder).
Die betreffenden Äusserungen beruhen auf einem juristischen Missverständnis. Die "double instance" nach Art. 80 Abs. 2 Satz 3 BGG
bezieht sich auf den kantonalen Instanzenzug. Schon nach jetzigem Recht sagt das Gesetz, dass es keine kantonale Beschwerdeinstanz braucht und die direkte Beschwerde ans BGer
zulässig ist, wenn das ZMG "als einzige kantonale Instanz entscheidet". Die neue Fassung (nArt. 80 Abs. 2 BGG) spricht von "letzten kantonalen Instanzen" und sieht weitherhin
vor, dass es (ausnahmsweise) keine kantonale Rechtsmittelinstanz braucht, wenn kantonale Instanzen "nach der Strafprozessordnung als einzige kantonale Instanz entscheiden". Das
trifft auf Entsiegelungsentscheide des ZMG auch nach neuem Recht weiterhin zu (nArt. 248a Abs. 4 StPO: "endgültig").
Damit hat sich für den Weiterzug von Entsiegelungsentscheiden des ZMG an das BGer nach neuem BGG nichts geändert. Auch aus den Materialien ergibt sich im Gesamtkontext deutlich, dass das
Parlament beim Entsiegelungsrecht den bisherigen Instanzenzug vom ZMG an das BGer beibehalten wollte. In früheren Entwürfen (VE 2017, Entwurf 2019) war sogar noch vorgeschlagen
worden, zusätzlich den doppelten kantonalen Instanzenzug vorzuschreiben, um das BGer indirekt etwas zu entlasten. Die Beschwerde ans BGer abzuschaffen, war hingegen nie
vorgesehen. Die Aussage, wonach ein "Verzicht auf die double Instance" bedeute, "dass ein Entscheid des ZMG endgültig" sei "und nicht an das BGer weitergezogen werden" könne, ist juristisch
falsch und verkennt das Prinzip der double instance. Dieses bezieht sich auf den kantonalen Instanzenzug. Wenn im Sinne von nArt. 80 Abs. 2 BGG und nArt. 248a StPO auf die double instance
verzichtet wird, fällt nicht die BGG-Beschwerde ans BGer dahin, sondern die StPO-Beschwerde an eine kantonale Beschwerdeinstanz. Diese Rechtslage bestand schon nach bisherigem Recht und wird auch
nach neuem Recht so bleiben. Alles andere widerspräche dem klaren Wortlaut des Gesetzes, der BGer-Praxis und den Materialien.
© Prof. Dr. Marc Forster, RA / 21. April 2023
Do
20
Okt
2022
Am 6.10.2022 ist die Referendumsfrist gegen die Revision der Eidg. Strafprozessordnung unbenutzt abgelaufen. Von der Öffentlichkeit und den Medien fast unbemerkt, hat das Parlament am 17.6.2022 den umstrittenen und äusserst knapp ausgefallenen Entscheid gefällt, das bisherige Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft gegen die Haftentlassung von hochgefährlichen oder stark fluchtgefährdeten Beschuldigten abzuschaffen (BBl 2022 1560, 7). Nur noch die beschuldigte Person wird (ab Inkrafttreten der neuen Bestimmungen) die Anordnung oder Verlängerung von Untersuchungs- und Sicherheitshaft anfechten können.
Bisherige Rechtslage und Praxis
Die Strafprozessordnung sieht in Art. 222 gegen die Anordnung, Verlängerung und Aufhebung von Untersuchungs- oder Sicherheitshaft eine Beschwerdemöglichkeit der verhafteten Person vor. Zur Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft sprach sich Art. 222 StPO bisher nicht aus. Diese ergibt sich allerdings klar aus Art. 111 Abs. 1 i.V.m. Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 BGG. Das Bundesgericht interpretierte daher Art. 222 StPO von 2011 bis heute nicht als «qualifiziertes Schweigen» des Gesetzgebers und bejahte eine Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft (BGE 147 IV 123, 124 f. E. 2.2; 138 IV 92, 94 E. 1.1; 137 IV 22, 23 E. 1.2–1.4; 137 IV 87, 89 E. 3; 137 IV 230, 232 E. 1; 137 IV 237, 240 E. 1.2; 137 IV 340, 345 E. 2.3.2. vgl. Forster, Jusletter 26.3.2018, N 2–19; Micheroli/Tag, Jusletter 16.5.2022, N 11–51). Auch nach Erlass des neuen Art. 222 StPO am 17.6.2022 hat das Bundesgericht – bis zum künftigen Inkrafttreten der Revision – an seiner bisherigen Rechtsprechung festgehalten (vgl. z.B. Bundesgerichtsurteil 1B_441/2022 vom 13.9.2022, E. 2).
Ein fragwürdiger kriminalpolitischer Zufallsentscheid
Mit der StPO-Teilrevision vom 17.6.2022 beschränkt der Gesetzgeber das Haft-Beschwerderecht nach Art. 222 StPO nun «einzig» auf die inhaftierte Person. Folglich strich er auch die sich aus Art. 111 Abs. 1 i.V.m. Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 BGG ergebende Legitimation aus dem Gesetz (BBl 2022 1560, 17). Dieser Abschaffung des Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft war ein heftiges kriminalpolitisches Tauziehen im Parlament vorausgegangen: Sowohl der Vorentwurf (2017) als auch der Entwurf (2019) des Bundesrates sahen noch eine ausdrückliche Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft vor (Botschaft, BBl 2019, 6794; vgl. Forster, Jusletter 2018, N 14; Micheroli/Tag, Jusletter 2022, N 4 f.). Die Rechtskommission des Nationalrates hat mit einer hauchdünnen Zufallsmehrheit (13:12) eine Abschaffung des Haft-Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft – sowohl nach StPO als auch nach Bundesgerichtsgesetz – vorgeschlagen. Der Nationalrat ist diesem Vorschlag (als Erstrat) am 18.3.2021 gefolgt, mit dem ebenfalls sehr engen Resultat von 98:89 Stimmen (AB 2021 N 613 f.; vgl. Micheroli/Tag, Jusletter 2022, N 6–8). Der Ständerat folgte dem Nationalrat am 14.12.2021 nicht. Die «Chambre de réflexion» wollte das Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft beibehalten (AB 2021 S 1361 f., 1370, 1372; vgl. Micheroli/Tag, Jusletter 2022, N 9). Im Rahmen der Differenzbereinigung (ab 14.1.2022) und anlässlich seiner zweiten Beratung am 2.3.2022 hielt der Nationalrat aber an seinem Entscheid fest (AB 2022 N 75; vgl. Micheroli/Tag, Jusletter 2022, N 10). Bei der Schlussabstimmung vom 17.6.2022 wurde der Vorschlag des Nationalrats von der Bundesversammlung angenommen.
Systemwidrigkeiten und Risiken
Welchen Risiken die sehr knappe Parlamentsmehrheit damit die Bürgerinnen und Bürger aussetzt, wird künftig die Praxis zeigen müssen (vgl. dazu Forster, Jusletter 26.3.2018, N 1–13; Micheroli/Tag, Jusletter 16.5.2022, N 11–51). Der in der Revision von 2022 erfolgte Ausschluss der Staatsanwaltschaft von der StPO-Haftbeschwerde ist im Übrigen mehrfach systemwidrig: Sogar in der Verwaltungs-Strafrechtspflege ist die Untersuchungsbehörde zur Haftbeschwerde ausdrücklich legitimiert (Art. 51 Abs. 6 VStrR; vgl. Basler Kommentar VStrR [2020]-Graf, Art. 51 N 98–104). Nur schwer einzusehen ist sodann, weshalb die Staatsanwaltschaft gemäss Art. 231 Abs. 2 lit. b StPO beantragen kann, Haftentlassungen – ausgerechnet – des erkennenden erstinstanzlichen Strafgerichtes korrigieren zu lassen (durch die Verfahrensleitung des Berufungsgerichtes), während Haftentlassungen der Zwangsmassnahmengerichte für die Staatsanwaltschaft (nach Art. 222 StPO) unanfechtbar sein sollen. Angesichts der ebenfalls ablehnenden Haltungen der Expertengruppe (VE), des Bundesrates, des Bundesgerichtes und des Ständerates haben faktisch eine Stimme Mehrheit in der Rechtskommission des Nationalrates bzw. 9 Stimmen Mehrheit im (anwaltlich dominierten) Nationalrat zu diesem fragwürdigen kriminalpolitischen Ergebnis geführt.
20. Oktober 2022 / © Prof. Dr. Marc Forster, RA
Fr
06
Mai
2022
Die Ausführungsgefahr ist ein hoch interessanter und kriminalpolitisch umstrittener Haftgrund. Viele Verteidiger und gewisse Hochschuldozierende
monieren, dass es sich um Präventivhaft handle, die eher ins Polizeirecht (präventive Gefahrenabwehr) gehöre als ins Strafprozessrecht (repressive Untersuchung
und Verfolgung von Straftaten). Die Praktiker der Strafjustiz weisen darauf hin, dass der Haftgrund zwar eher selten zur Anwendung gelangt, in der Praxis jedoch unverzichtbar
erscheint.
-- Wie sind die gesetzlichen Haftgründe konzipiert und inwiefern stellt Haft wegen Ausführungsgefahr (Art. 221 Abs. 2 StPO)
Präventivhaft dar?
Ein Blick auf Art. 221 StPO zeigt, dass alle anderen gesetzlichen Haftgründe von Abs. 1 neben einem sogenannten "besonderen" Haftgrund
(Flucht-, Kollusions- und Wiederholungsgefahr, lit. a-c) zusätzlich den dringenden Tatverdacht eines bereits begangenen Verbrechens oder Vergehens voraussetzen. Man spricht hier
auch vom "allgemeinen" Haftgrund des dringenden Tatverdachts, der in den Fällen von Abs. 1 immer vorliegen muss. Die Ausführungsgefahr in Abs. 2 ist demgegenüber ein
selbstständiger Haftgrund, der keinen dringenden Tatverdacht eines bereits verübten Deliktes (notwendigerweise) voraussetzt. In den Fällen von Abs. 2 kann somit Haft zulässig sein,
obwohl in strafrechtlicher Hinsicht noch "nichts passiert" ist, das bereits untersucht werden könnte. Das Gesetz drückt sich in Abs. 2 dementsprechend anders aus als in Abs. 1: Anstatt von
einer "beschuldigten Person" (Abs. 1) spricht Abs. 2 bloss von einer "Person"; wenn noch keine mutmassliche Straftat passiert ist, kann auch niemand förmlich beschuldigt sein. Ausserdem spricht
Abs. 2 von "Haft" und nicht von Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft. Gemeint ist damit Präventivhaft; wenn keine Straftat untersucht wird und keine mutmassliche Sanktion zu
sichern ist, kann auch keine Untersuchungs- oder Sicherheitshaft vorliegen.
-- Welche Fälle werden von Art. 221 Abs. 2 StPO erfasst und wieso ist dieser Haftgrund in der Kriminalpraxis unentbehrlich?
Der klassische Anwendungsfall einer Präventivhaft wegen Ausführungsgefahr sieht exemplarisch wie folgt aus: Der wegen Gewaltdelikten vorbestrafte X
sagt seinem Kumpel Y, er werde seine (Xs) Freundin umbringen, da sie ihn betrogen habe. X schildert dem Y detailliert und glaubhaft, wie er das Opfer zu töten plant. Y geht zur Polizei und meldet
dort, was X ihm gesagt hat. Eine Untersuchungshaft gestützt auf Art. 221 Abs. 1 lit. a-c StPO ist hier nicht möglich, da noch kein Delikt (kein dringender Tatverdacht) vorliegt, das untersucht
werden könnte. Das Verhalten von X, der gegenüber Y lediglich ankündigt, er werde eine dritte Person töten, ist noch keine Straftat, die verfolgt werden könnte. Wenn die Staatsanwaltschaft
Präventivhaft beantragt und der Haftrichter zum Schluss kommt, es sei ernsthaft zu befürchten, dass X seine Drohung wahrmachen könnte, wird der Haftrichter Präventivhaft anordnen. Diese dauert
dann so lange, bis ein Psychiater abgeklärt hat, ob X aus psychiatrischer Sicht gefährlich ist und töten könnte. Wenn die Prognose sehr ungünstig ist, wird Fürsorgerischer Freiheitsentzug wegen
Fremdgefährdung gegen X angeordnet werden; Untersuchungshaft ist nicht möglich, da kein Delikt vorliegt. Wenn die Prognose nicht sehr ungünstig ist, wird X aus der Präventivhaft entlassen werden,
allenfalls gegen Ersatzmassnahmen für Haft (z.B. Verbot, sich der bedrohten Person zu nähern, ambulante Psychotherapie, fürsorgerische Massnahmen usw.).
Es gibt noch einen Spezialfall der Ausführungsgefahr, den einzelne Anwälte und Anwältinnen zum Anlass nehmen zu behaupten, Präventivhaft sei
überflüssig: Im oben geschilderten "klassischen" Fall liegt keine Straftat vor, weil X eine Tötung gegenüber Y ankündigt und nicht gegenüber dem anvisierten potenziellen Opfer. Falls X seine
Freundin direkt mit dem Tod bedroht und diese (wegen der Ernsthaftigkeit der Drohung) in Schrecken oder Angst versetzt wird, läge bereits eine strafbare Drohung (Art. 180 StGB) vor. In diesem
Fall könnte also bereits eine Strafuntersuchung gegen X wegen mutmasslicher Drohung eröffnet werden. Trotzdem müsste auch hier oft auf Präventivhaft (Abs. 2) zurückgegriffen werden und nicht auf
einen besonderen Haftgrund nach Abs. 1: Untersuchungshaft nach Abs. 1 lit. a-c würde nämlich neben dem dringenden Tatverdacht von Drohung auch noch den Nachweis von Fluchtgefahr, Kollusionsgefahr
oder Wiederholungsgefahr voraussetzen. Diese besonderen Haftgründe sind nicht ohne weiteres erfüllt. Wenn aber X seine Freundin mit dem Tod bedroht und zudem ernsthaft zu befürchten ist, er werde
seine Drohung wahr machen, rechtfertigt sich Präventivhaft nach Abs. 2.
-- Kriminalpolitische Würdigung, Alternativen, Praxis zur Ausführungsgefahr, Bedeutung von psychiatrischen
Gutachten
Präventivhaft wegen Ausführungsgefahr wird relativ selten angeordnet. Der Haftgrund ist heikel, da hier eine Person "bloss" wegen schwersten
Drohungen inhaftiert wird, die noch nicht zwangsläufig strafbar sein müssen. Allerdings sieht auch das Zivilrecht (ZGB) bei schwerer Selbst- oder Drittgefährdung einen möglichen gerichtlich
verfügten Freiheitsentzug vor (bis die Gefährdung therapeutisch behoben ist und in den Grenzen des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes). Insofern stellt Art. 221 Abs. 2 StPO eine diffus-hybride
Haftart dar zwischen Strafprozess-, Polizei- und zivilem Fürsorgerecht. Nach der Einschätzung vieler erfahrener PraktikerInnen und Dozierenden braucht es aber weiterhin die Möglichkeit einer
Präventivhaft in solchen Fällen. Der Gesetzgeber will die Ausführungsgefahr in der hängigen StPO-Revision denn auch (nach den bisherigen Entwürfen) beibehalten. Teile der Anwaltschaft kämpfen
kriminalpolitisch dagegen an. Eine andere Frage ist die, ob diese Konstellation dem Zivilrichter überlassen werden könnte, der über Fürsorgerischen Freiheitsentzug nach ZGB
entscheidet. In den Fällen, wo bereits strafbare Drohungen zu untersuchen sind, wäre eine solche Überlappung von Zuständigkeiten zwischen Straf- und Zivilbehörden allerdings
heikel. Und für die Betroffenen macht es im Ergebnis wenig Unterschied, ob nun ein Straf- oder ein Zivilrichter über den Freiheitsentzug entscheidet.
Die heutigen gesetzlichen Hürden für die Anordnung von Präventivhaft und die Gerichtspraxis nach StPO sind ziemlich streng. Es muss ein schweres
Verbrechen, etwa ein Tötungsdelikt, ein schweres Sexualdelikt oder schwere Körperverletzung, ernsthaft drohen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes ist bei der Annahme von
Ausführungsgefahr besondere Zurückhaltung geboten. Das Bundesgericht verlangt eine sehr ungünstige Risikoprognose. Es verlangt hingegen nicht, dass der Drohende bereits konkrete
Anstalten getroffen haben müsste, um das angedrohte schwere Verbrechen zu verüben. Zum Beispiel muss er sich noch keine Tatwaffe zwangsläufig beschafft haben. Entscheidend ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Ausführung aufgrund einer
Gesamtbewertung der persönlichen Verhältnisse sowie der Umstände als sehr hoch erscheint. Dabei ist auch dem psychischen Zustand der drohenden Person bzw. ihrer Unberechenbarkeit oder Aggressivität und allfälligen Vorstrafen
Rechnung zu tragen. Je schwerwiegender das ernsthaft angedrohte
schwere Verbrechen ist, desto eher rechtfertigt sich grundsätzlich, im Rahmen einer sorgfältigen Risikoprüfung, die Präventivhaft.
Wenn der Haftrichter z.B. sieht, dass jemand "bloss" aus Verzweiflung,
unter Drogeneinfluss oder aus grober Fahrlässigkeit schwer gedroht hat, die Ausführung aber nach den konkreten Umständen nicht sehr wahrscheinlich erscheint, wird er auf Präventivhaft verzichten,
allenfalls Ersatzmassnahmen anordnen oder den Fall dem Zivilrichter (häusliche Gewalt, Prüfung von Fürsorgerischer Unterbringung oder anderen fürsorgerischen Massnahmen) übergeben. Wenn der
Haftrichter hingegen schwere Bedenken hat und die Ernsthaftigkeit nicht ausreichend ausschliessen kann, wird er ein psychiatrisches Vorabgutachten zur Gefährlichkeitsprognose
einholen. Dieses sollte innert einigen Wochen bis wenigen Monaten erstellt werden. Oft fallen diese Gutachten allerdings etwas vage aus, weil erstens die Beurteilung "ad hoc" (ohne längere
therapeutische Erfahrung) schwierig ist und zweitens die forensischen PsychiaterInnen die "Verantwortung" auf beide Seiten hin nicht sehr gerne übernehmen. Regelmässig muss der Haftrichter daher
eine sehr heikle Abwägung vornehmen zwischen den Risiken für das bedrohte Opfer und den Freiheitsrechten der drohenden Person.
6. Mai 2022 / © Prof. Dr. Marc Forster
Mi
19
Mai
2021
– Ist das neue Gesetz über präventive Massnahmen gegen "terroristische Gefährder" (PMT) sachlich notwendig oder rechtsstaatlich bedenklich? Könnte es auch militante Klimaschützer/innen oder rabiate Corona-Demonstrierende treffen? Welche Strafnormen treten am 1. Juli 2021 bereits in Kraft? Über was wird am 13. Juni 2021 noch abgestimmt? Wohin geht die weitere Entwicklung?
– Was kommt am 1. Juli 2021?
Gegen die vom Parlament (im September 2020) verabschiedeten strafrechtlichen und rechtshilferechtlichen Normen zur Terrorismusbekämpfung ("Vorlage 1") ist kein Referendum ergriffen worden. Die betreffenden Normen treten bereits am 1. Juli 2021 in Kraft (gemäss dem bundesrätlichen Entscheid vom 31. März 2021). Dabei handelt es sich insbesondere um die revidierte Strafnorm von Art. 260ter StGB gegen kriminelle und terroristische Organisationen und um den neuen Art. 260sexies StGB gegen die Anwerbung, Ausbildung und Reisetätigkeit (insbesondere von sogenannten "Jihadisten") im Hinblick auf terroristische Straftaten. Hinzu kommt eine neue Strafnorm in Art. 74 Abs. 4 des Nachrichtendienstgesetzes (NDG, SR 121) gegen die Beteiligung an einer (nach Art. 74 Abs. 1 NDG) verbotenen Organisation oder Gruppierung und gegen ihre personelle oder materielle Unterstützung, insbesondere durch Organisieren von Propaganda oder Anwerbung für sie und durch sonstiges Fördern ihrer Aktivitäten. Am 1. Juli 2021 in Kraft treten wird auch der neue Art. 80d-bis IRSG betreffend vorzeitige Übermittlung (noch vor Erlass einer Rechtshilfe-Schlussverfügung) von Informationen und Beweismitteln an ausländische Strafbehörden und weitere gesetzliche Anpassungen (insbes. Ergänzungen in der StPO betreffend Bundesgerichtsbarkeit für Art. 260ter und sexies StGB sowie Art. 74 Abs. 4 NDG; vgl. BBl 2020 7893 ff.).
– Über was wird im Juni 2021 noch an der Urne abgestimmt?
Gegen das vom Parlament am 25. September 2020 ebenfalls verabschiedete Bundesgesetz über präventive polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT) ist hingegen das Referendum ergriffen worden. Darüber wird am 13. Juni 2021 abgestimmt ("Vorlage 2"):
Gegen sogenannte terroristische Gefährderinnen und Gefährder (Art. 23e des revidierten BWIS, SR 120) können vom Fedpol, unter den gesetzlich geregelten Voraussetzungen (Art. 23f-q BWIS), präventive polizeiliche Massnahmen verfügt bzw. beantragt werden, nämlich eine Melde- und Gesprächsteilnahmepflicht (Art. 23k BWIS), ein Kontaktverbot mit gewissen Personen (Art. 23l BWIS), eine lokale Aus- und Eingrenzung (Art. 23m BWIS), ein Ausreiseverbot (Art. 23n BWIS), ein Hausarrest ("Eingrenzung auf eine Liegenschaft", Art. 23o-p BWIS) sowie eine (nicht geheime) elektronische Randdaten-Überwachung bzw. Lokalisierung über Mobilfunk, zur Sicherung des Vollzuges solcher Massnahmen (Art. 23q BWIS). Die Melde- oder Gesprächsteilnahmepflicht, das Kontaktverbot, die Aus- oder Eingrenzung, das Ausreiseverbot sowie die Mobilfunk-Randdaten-Überwachung (elektronische Lokalisierung) kann gegen terroristische Gefährderinnen und Gefährder ab deren vollendetem 12. Altersjahr angeordnet werden, der Hausarrest ab dem 15. Altersjahr (Art. 24f BWIS). Der Hausarrest ist vom Zwangsmassnahmengericht zu bewilligen (Art. 23p Abs. 1 BWIS); er ist auf drei Monate begrenzt und kann zwei mal (um jeweils maximal drei weitere Monate) verlängert werden (Art. 23o Abs. 5 BWIS). Die Massnahmenentscheide können mit Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht angefochten werden (Art. 24g BWIS; vgl. BBl 2020 7742 ff.).
– Was wartet zusätzlich noch in der gesetzgeberischen Pipeline?
Nicht zu vergessen ist schliesslich noch eine dritte Reformvorlage mit unmittelbaren Bezügen zur Terrorismusbekämpfung, zu der kürzlich die Botschaft des Bundesrates vom 5. März 2021 publiziert worden ist (BBl 2021 738): Im PCSC-Abkommen mit den USA und im Abkommen mit der EU zur Beteiligung an "Prüm" (inklusive Eurodac-Protokoll EU-Schweiz-Liechtenstein) geht es um die Erweiterung des justiziellen Informationsaustausches zu Zwecken der Strafverfolgung (also nicht nur polizeiliche Zusammenarbeit und Prävention) bzw. um neue Möglichkeiten der akzessorischen Rechtshilfe im Bereich der Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität. Die Abkommen sollen insbesondere die gegenseitige Abgleichung von Fingerabdrücken, DNA-Profilen und Fahrzeugregistrierungen ermöglichen (vgl. Entwürfe der beiden Bundesbeschlüsse in BBl 2021 739 und 741).
Zur strafrechtlichen "Vorlage 1" (in Kraft ab 1. Juli 2021):
Art. 260ter StGB stellt das Unterstützen der Tätigkeit von terroristischen Organisationen (und die Beteiligung an solchen) unter Strafe, Art. 260sexies StGB ähnliche Unterstützungshandlungen (wie Art. 74 Abs. 4 NDG gegen das Anwerben, Ausbilden oder Reisen) im Hinblick auf terroristische Straftaten. Angesichts dieser Normen-Überschneidungen wird die Gerichtspraxis abgrenzen müssen, welche Gruppierungen nicht terroristisch (im Sinne des StGB) aber verboten (im Sinne des NDG) sind (keine Anwendbarkeit von Art. 260ter StGB, aber Anwendbarkeit von Art. 74 Abs. 4 NDG), und welche Unterstützungshandlungen nicht im Hinblick auf konkrete terroristische Gewaltverbrechen erfolgen (keine Anwendbarkeit von Art. 260sexies StGB, aber mögliche Anwendbarkeit von Art. 74 Abs. 4 NDG gegen verbotene Gruppierungen). Gemäss NDG verboten werden können auch Gruppierungen, die nicht alle Tatbestandselemente einer terroristischen Organisation (Art. 260ter Abs. 1 lit. a Ziff. 2 StGB) erfüllen. Da die "Vorlage 1" die Strafbarkeit nach dem bisherigen befristeten "IS-/Al-Qaïda-Gesetz" (AS 2014 4565, AS 2018 3345) abdeckt, wird dieses aufgehoben, sobald der Bundesrat die dort anvisierten Gruppierungen und Organisationen für verboten erklärt hat (vgl. Anhang Ziff. I zum Bundesbeschluss vom 25.9.2020, BBl 2020 7893; Art. 74 Abs. 1 NDG). Bis dahin bleibt das IS-Gesetz längstens bis Ende 2022 in Kraft (letzte Verlängerung durch das Parlament).
Keine Privilegierung von "Mafiabossen"
Zu begrüssen ist die Korrektur, die das Parlament am bundesrätlichen Entwurf von Art. 260ter StGB vorgenommen hat: Nach dem Entwurf hätte die neue Strafobergrenze von zehn Jahren Freiheitsstrafe nur für die Unterstützung und Beteiligung an einer terroristischen Organisation gegolten (vgl. BBl 2018 6529). Für Mafiabosse (denen sonst regelmässig keine eigenen konkreten Verbrechen nachzuweisen sind) wäre hingegen eine deutlich tiefere Strafobergrenze von lediglich fünf Jahren vorgesehen gewesen (vgl. die Kritik in meinen Blog vom 6. Januar 2020). Die vom Parlament im September 2020 verabschiedete gesetzliche Fassung korrigiert diese Unstimmigkeit.
Problematik terroristischer Einzeltäter und Kleingruppen
De lege ferenda bestehen allerdings noch Lücken bei der Verfolgung von terroristischen Anschlägen und Massenmorden von Einzeltätern und Kleingruppen. Zu erinnern ist insbesondere an den Terroranschlag in Wien vom 2. November 2020 (mit vier Toten und 23 teils schwer Verletzten), an die 51 Morde von Christchurch im März 2019, die Anschlagsserie in London zwischen März und September 2017 (14 Tote und 146 Verletzte), die Lastwagen-Attentate im Juli bzw. Dezember 2016 in Nizza und Berlin (mit 86 bzw. 11 getöteten Menschen), das Bombenattentat am Boston Marathon 2013 (3 Tote, 264 Verletzte, darunter viele Schwerverletzte), die 2011 auf Utoya ermordeten 77 Kinder und Jugendlichen, die NSU-Mordserie 2000-2007 in Deutschland (neun Tote), oder an das Zuger Attentat von 2001, bei dem 14 Kantons- und Regierungsräte erschossen und zahlreiche weiteren Menschen zum Teil schwer verletzt wurden. Terroristische Einzeltäter und Kleingruppen, die den Organisationstatbestand nicht erfüllen, werden von Art. 260ter StGB nicht erfasst, Art. 260quinquies StGB stellt lediglich ihre Finanzierung unter Strafe, nicht aber deren anderweitige, bewusste und massive logistische Unterstützung (abgesehen von der kausalen Beihilfe zu einem konkreten Verbrechen). Ob Art. 260sexies StGB und Art. 74 Abs. 4 NDG, die auf Jihad-Unterstützer zugeschnitten sind, hier praxistaugliche gesetzliche Grundlagen bringen werden, erscheint eher fraglich.
Zur präventiv-polizeilichen "Vorlage 2": PMT,
Volksabstimmung vom 13. Juni 2021:
Als "terroristische Gefährder/innen" gelten nach dem PMT (Referendumsvorlage zum revidierten BWIS, SR 120, BBl 2020 7741 ff.) Personen, bei denen "aufgrund konkreter und aktueller Anhaltspunkte davon ausgegangen werden muss, dass sie oder er eine terroristische Aktivität ausüben wird" (Art. 23e Abs. 1 BWIS). Die Vorlage definiert "terroristische Aktivitäten" als "Bestrebungen zur Beeinflussung oder Veränderung der staatlichen Ordnung, die durch die Begehung oder Androhung von schweren Straftaten oder mit der Verbreitung von Furcht und Schrecken verwirklicht oder begünstigt werden sollen" (Art. 23e Abs. 2 BWIS).
Die Problematik des Terrorismusbegriffes
Die "Terrorismusdefinition" von Art. 23e BWIS erscheint im Lichte der bundesgerichtlichen (strafrechtlichen) Praxis etwas gar weit gefasst. Das Bundesgericht legt den Fokus auf die besonders schwere Gewaltverbrechen (wie z.B. Bombenattentate, Tötungsdelikte, schwere Brandanschläge, Flugzeugentführungen usw.), die sich nicht ausschliesslich gegen staatliche Polizei- und Militärkräfte richten, sondern regelmässig – und gerade – auch gegen beliebige zivile Opfer und zivile Anschlags-Ziele (z.B. öffentliche Verkehrsmittel wie Züge oder Flugzeuge). Diese Fokussierung auf zivile Opfer ist im Terrorismusstrafrecht sehr wichtig, da die Justiz sonst (bei schweren Delikten gegen Militär- und Polizeikräfte bzw. bei bürgerkriegsähnlichen Konflikten) regelmässig vor ein schweres Dilemma gestellt wird, das den Terrorismusbegriff ad absurdum zu führen droht: Bekanntlich gefallen sich autoritäre Machthaber und exzessiv gewalttätige staatliche Regimes sehr oft darin, praktisch alle Oppositionellen in ihrem Land als "Terroristinnen und Terroristen" zu bezeichnen und zu verfolgen, teilweise sogar (mit Auslieferungsersuchen) bis ins Ausland (vgl. dazu Marc Forster, in: Basler Kommentar Internationales Strafrecht, 2015, Art. 3 IRSG N. 7-11). In gewissen Staaten sind (neben Politiker/innen) namentlich Journalist/innen, die kritisch über staatliche Gewalt und Unterdrückung von Minderheiten berichten, von diesem internationalstrafrechtlichen Missbrauch und der Politisierung des Terrorismusbegriffes betroffen. Ohne eine konsequente Fokussierung auf systematische Gewalt gegen Zivilpersonen und auf das Verbreiten von Furcht und Schrecken in der Zivilbevölkerung läuft die Justiz Gefahr, dass sie einseitig Partei ergreifen muss gegen Bürgerkriegsparteien oder gegen legitime Freiheitskämpfer, die sich gegen Willkürherrschaft und schwere systematische Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Regimes wehren (derzeit zum Beispiel in Burma).
Terrorismusbegriff im PMT
Zwar erscheint die Definition der "terroristischen" Aktivitäten (in Art. 23e BWIS) unter diesem Gesichtspunkt etwas unbestimmt. Der rechtspolitische Vorwurf, die PMT-Vorlage erlaube eine extensive Ausdehnung der präventiven Massnahmen (gegen terroristische Gefährder/innen) auf legitime politische Aktivist/innen und Demonstrierende in der Schweiz, ist jedoch unbegründet: Erstens müssen "Bestrebungen zur Beeinflussung oder Veränderung der staatlichen Ordnung" vorliegen, "die durch die Begehung oder Androhung von schweren Straftaten oder mit der Verbreitung von Furcht und Schrecken verwirklicht oder begünstigt werden sollen" (Art. 23e Abs. 2 BWIS). Zweitens muss "aufgrund konkreter und aktueller Anhaltspunkte davon ausgegangen werden" können, dass Gefährder/innen eine solche "terroristische Aktivität ausüben" werden (Art. 23e Abs. 1 BWIS). Und drittens müssen – neben den besonderen (qualifizierten) Voraussetzungen von Art. 23k-q BWIS – als allgemeine gesetzliche Voraussetzung noch zusätzlich sämtliche Subsidiaritäts-Kriterien von Art. 23f Abs. 1 BWIS kumulativ erfüllt sein.
Besonders einschneidende präventive Zwangsmassnahmen – wie etwa der "Hausarrest" nach Art. 23o BWIS – setzen die Hürden noch deutlich höher, als sie bereits in den allgemeinen Grundsätzen von Art. 23e und 23f BWIS verankert sind: Ein Hausarrest setzt nämlich "konkrete und aktuelle Anhaltspunkte" dafür voraus, dass von terroristischen Gefährder/innen eine "erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter ausgeht, die nicht anders (als durch Hausarrest) abgewendet werden kann" (Art. 23o Abs. 1 lit. a BWIS). Aber es kommt hier noch eine zusätzliche Voraussetzung dazu: Selbst bei Erfülltsein dieses qualifizierten Erfordernisses ist der Hausarrest nur möglich, wenn zuvor eine mildere Zwangsmassnahme (etwa ein Kontaktverbot, eine Rayonauflage oder ein Reiseverbot) angeordnet worden ist und der Gefährder oder die Gefährderin dagegen verstossen hat (Art. 23o Abs. 1 lit. b BWIS). Der Hausarrest muss zudem richterlich bewilligt werden (Art. 23p BWIS).
– Hausarrest gegen Klimaschützer und Corona-Demonstrierende?
Juristisch unbegründet erscheinen somit Befürchtungen (von vermeintlichen oder echten "Expert/innen" des Terrorismus-Straf- und Polizeirechts), wonach politische Aktivist/innen, etwa militante Klimaschützer/innen, die z.B. Fassaden beschmieren oder vorübergehend Filialen von Banken oder anderen Unternehmen besetzen (Hausfriedensbruch, Nötigung, Sachbeschädigung), als "terroristische Gefährder/innen" eingestuft und von Hausarresten betroffen werden könnten. Dafür findet sich in Art. 23e-q BWIS keine sachliche Grundlage. Wenn der Zwangsmassnahmenrichter allerdings konkrete und aktuelle Anhaltspunkte sieht, dass von gefährlichen und extrem gewaltbereiten politischen Extremist/innen eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter ausgeht, nachdem bereits angeordnete mildere Präventivmassnahmen nichts gefruchtet haben (Art. 23o Abs. 1 BWIS), ist gegen einen präventiven Hausarrest von verhältnismässiger Dauer rechtsstaatlich kaum etwas einzuwenden. Dies umso weniger, als die Strafprozessordnung bei ernstlicher Ausführungsgefahr für ein schweres Verbrechen sogar die Anordnung von Untersuchungshaft in einem Gefängnis (und mit einem sehr restriktiven Vollzugsregime) ermöglicht, und zwar auch präventiv, nämlich gegen Gefährder/innen, die nicht zwangsläufig bereits ein Delikt begangen haben müssen (Art. 221 Abs. 2 StPO). Der einschlägigen Praxis der Strafbehörden und den Lageberichten von Polizei und Staatsschutz lässt sich entnehmen, dass in der Schweiz wohnhafte radikalisierte Jihad-Sympathisant/innen (der sogenannten "dritten Generation") leider zunehmend jünger werden. Dass bereits 15-Jährige terroristische Gefährder/innen (unter den genannten restriktiven Voraussetzungen) von Hausarrest betroffen sein können (Art. 24f Abs. 2 BWIS), trägt dieser bedauerlichen Entwicklung Rechnung.
– Grundrechtswidriger "Sündenfall" oder notwendige gesetzliche Reform in Zeiten hoher terroristischer Bedrohung?
Das PMT ist im Übrigen die logische kriminalpolitische Konsequenz aus äusserst tragischen Erfahrungen mit diversen terroristischen Schwerverbrechern (Terroranschläge von Paris, London, Nizza, Berlin, Wien usw.), deren hohe Gefährlichkeit zwar bereits vor den Terroranschlägen polizeilich erkannt worden war, gegen die aber (mangels bereits verfolgbarer schwerer Delikte) keine gesetzliche Grundlage für geeignete präventive Polizeimassnahmen bestand. Die Vorlage schliesst diese Lücke im schweizerischen Terrorismus-Polizeirecht.
19. Mai 2021 / © Prof. Dr. Marc Forster
Mo
06
Jan
2020
Anfang Dezember 2019 ist der Ständerat (nach einem Rückweisungsantrag von Ständerat Beat Rieder) auf die Terrorismusvorlage (BBl 2018 6427ff., 6525 ff.) vorläufig nicht eingetreten. Es wurde verlangt, dass die Sicherheitspolitische Kommission einen Mitbericht der Rechtskommission einholt.
Unter Hinweis auf die Vernehmlassung des Anwaltsverbandes wurde insbesondere die Vorlage zu den rechtshilferechtlichen Bestimmungen kritisiert; so erlaube der Art. 80dbis E-IRSG den Staatsanwälten (nicht nur bei Terrorismusverdacht), vorzeitig (vor Abschluss eines entsprechenden förmlichen Rechtshilfeverfahrens) Informationen und Beweismittel an ausländische Strafbehörden zu übermitteln (vgl. Tages-Anzeiger vom 10. Dezember 2019). Dieser Einwand übersieht, dass heute sogar eine unaufgeforderte Übermittlung ans Ausland (ohne jegliches Rechtshilfeersuchen) zulässig sein kann (Art. 67a IRSG).
Leider werden die statistischen Zahlen zur Entwicklung terroristischer Gewaltverbrechen von den amerikanischen und europäischen Behörden regelmässig geschönt und verzerrt dargestellt:
Das Aussenministerium der USA (State Department) hat Statistiken zur Zahl der "weltweiten" Terroranschläge und zur Zahl der getöteten Opfer zwischen 2006 und 2018 publiziert (vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/380942/umfrage/anzahl-der-terroranschlaege-weltweit/ https://de.statista.com/statistik/daten/studie/380949/umfrage/getoetete-personen-durch-terroranschlaege-weltweit/). Die betreffenden Zahlen könnten zunächst einen gewissen Rückgang terroristischer Anschläge suggerieren. Wenn westliche (und besonders amerikanische) Quellen von "weltweit" sprechen, meinen sie allerdings in der Regel die westliche "Welt". Die Zahlen der in den Jahren 2012 und 2017 angeblich Getöteten (11'098 bzw. 18'753 Menschen) erscheinen auffällig tief (und merkwürdig präzise). – Hat hier z.B. auch der Staatsterror gegen die eigene Zivilbevölkerung (etwa durch das syrische Regime, u.a. mit dem Einsatz von Fassbomben in Wohngebieten) Berücksichtigung gefunden? Und wie steht es mit den damaligen horrenden Opferzahlen allein des IS in Syrien und im Irak oder mit den unüberschaubaren Mordserien diverser Terrororganisationen (etwa in Afghanistan, im Yemen oder in verschiedenen Regionen Afrikas)? Könnte es sein, dass die amerikanischen Behörden damit angebliche Erfolge ihres (ab 2001 eingeleiteten) "War on Terrorism" dokumentieren möchten? Solche politisch gefärbten Zahlen müssten aufgrund von anderen verlässlichen Quellen (etwa des Internationalen Roten Kreuzes oder der UNO) jedenfalls kritisch hinterfragt werden. Selbst aus den Zahlen des State Department liessen sich bestenfalls grosse Schwankungen der Opferzahlen (zwischen 2006 und 2017) ablesen. Und im Jahr 2018 hat die Zahl der Terror-Todesopfer mit 32'836 Personen sogar einen neuen absoluten Höchststand erreicht (vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/380949/umfrage/getoetete-personen-durch-terroranschlaege-weltweit/).
Aber auch Europa "trickst" und beschönigt mit gewissen Statistiken zu terroristischen Gewaltverbrechen: So hat die EU (über Europol) Zahlen publiziert zu den "terroristischen Angriffen" von 2008-2018 in Europa und den diesbezüglichen Festnahmen (vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/493217/umfrage/angriffe-und-festnahmen-mit-terroristischem-hintergrund-in-der-eu/). Zwar sind die Festnahmen seit ca. 2010 markant (auf mehr als das Zweifache) gestiegen. Auffällig ist jedoch, dass Europol nur die Zahl der terroristischen "Angriffe" nennt, aber keine Opferzahlen. Daraus resultiert eine Verfälschung der Statistik: Blosse Einzelangriffe werden gleich gezählt und gewichtet wie Massenmorde (z.B. das Massaker vom 13. November 2015 im Pariser Konzertsaal "Bataclan" oder die beiden Massentötungen mit Lastwagen von 2016 in Nizza und Berlin). Der methodische Unsinn führt zum verzerrten Bild, dass – ausgerechnet – die beiden europäischen "Terrorjahre" 2015 und 2016 (mit hunderten Toten und Schwerverletzen) statistisch "friedlicher" erscheinen als z.B. die Jahre 2014 und 2017, und dass dabei das falsche Bild einer seit 2010 abnehmenden bzw. gleichbleibenden terroristischen Gewaltkriminalität suggeriert wird.
Zur Erinnerung: Allein bei den drei "Angriffen" vom 13. November 2015 in Paris gab es 130 Tote und 683 Verletzte. Am 14. Juli bzw. 19. Dezember 2016 wurden bei zwei Lastwagen-Anschlägen in Nizza und Berlin 86 bzw. 11 Menschen getötet; 400 bzw. 55 weitere Opfer wurden (grossteils schwer) verletzt. Mit anderen Worten: Zwar ist seit 2010 die Zahl der jährlichen Anschläge eher etwas gesunken; die Opferzahlen haben aber (bis 2015/2016) wieder markant zugenommen. Auch die statistischen Angaben des Nachrichtendienstes des Bundes kranken an ähnlichen Gewichtungsfehlern (indem zwischen der Anzahl und der Schwere der Anschläge in Europa nicht ausreichend differenziert wird, vgl. Lagebericht NDB "Sicherheit Schweiz 2019", S. 38).
Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Behörden primär Erfolge vermelden wollen (steigende Anzahl Verhaftungen), während die hohen Opferzahlen (auch in Europa) statistisch retouchiert werden (Zählen von "Anschlägen" anstatt von Opfern). Solche Schönfärbereien beeinflussen offenbar auch die kriminalpolitischen Entscheide des eidgenössischen Parlamentes bei der Revision des veralteten Terrorismus-Strafrechts.
Auch in der (revisionskritischen) strafrechtlichen Literatur mischen sich gelegentlich "wissenschaftliche" Argumente mit kriminalpolitischen Motiven: Schon dem bisherigen Art. 260ter StGB wurde vorgeworfen, er sei "präventiv" ausgerichtet und führe zu einer strafrechtsdogmatisch unzulässigen Vorverlagerung der Strafbarkeit, indem er Aktionen unter Strafe stelle, "bevor überhaupt ein konkretes Delikt verübt" worden sei. Dabei "suggeriere" das Strafrecht der Bevölkerung einen "Schutz vor terroristischen Attentaten" bzw. eine "Beherrschung des Problems". – Solchen Verkürzungen ist zu widersprechen: Die Mafia oder terroristische Organisationen wie der IS haben bereits zahlreiche Schwerverbrechen nachweislich begangen. Mit einer "Verschiebung der Strafbarkeit auf der Zeitachse" (wie in Teilen der Literatur behauptet wird) hat Art. 260ter StGB überhaupt nichts zu tun. Die Bestimmung bezweckt vielmehr eine Beweisverlagerung: Angehörige (namentlich Bosse) mafiöser und terroristischer Organisationen sowie deren massgebliche Unterstützer sollen auch dann strafrechtlich verfolgt werden können, wenn ihnen noch keine Beteiligung (Mittäterschaft oder Teilnahme) an einem konkreten Mafiaverbrechen oder einem terroristischen Gewaltverbrechen persönlich zugerechnet werden kann.
Wenn der Gesetzgeber hier eine Strafwürdigkeit erkennt, geht es ihm weder um "Prävention", noch begeht er ein strafrechtsdogmatisches Sakrileg. Selbst das gemeinrechtliche Individualstrafrecht kennt diverse Fälle von akzessorischer Strafbarkeit ohne Verwirklichung des anvisierten Hauptdeliktes: Versuchte Anstiftung zu einem Verbrechen ist ohne jegliche Haupttat strafbar (Art. 24 Abs. 2 StGB). Auch blosse (öffentliche) Aufrufe zu Verbrechen oder Gewaltstraftaten (Art. 259 StGB) oder blosse Vorbereitungshandlungen zu gewissen Schwerverbrechen (Art. 260bis StGB) sind strafbar, ohne dass in der Folge eine entsprechendes Verbrechen versucht oder verübt werden müsste. Falls ein Terrorist z.B. wegen eines konkreten Mordes angeklagt wird, muss auch ihm eine persönliche Beteiligung daran rechtsgenüglich nachgewiesen werden. – Wieso aber sollten Mafiosi und Terroristen nicht schon wegen ihrer nachweisbaren Zugehörigkeit z.B. zur Camorra oder zum IS in angemessener Weise bestraft werden können?
Wer gegen solche "Vorverlagerungen" der Strafbarkeit im Bereich der Schwerstkriminalität ankämpft, betreibt in der Regel keine Strafrechtsdogmatik, sondern Kriminalpolitik. Erfreulicherweise besteht für eine entsprechende Modernisierung und Verschärfung des Terrorismusstrafrechts nach schweizerischem Modell (vgl. dazu schon M. Forster, Kollektive Kriminalität, Das Strafrecht vor der Herausforderung durch das organisierte Verbrechen, Basel 1998) unterdessen ein weitgehender völkerrechtlicher Konsens (vgl. Art. 6 Abs. 1 und 8-9 des Übereinkommens des Europarates zur Verhütung des Terrorismus vom 16. Mai 2005, SEV Nr. 196, BBl 2018 6541 ff.).
Die im Entwurf des Bundesrates vorgeschlagene Änderung, bei der neuen Unterstützungsvariante die verbrecherische Zielsetzung der kriminellen Organisation nicht (nochmals) zu erwähnen (Art. 260ter Abs. 1 lit. b E-StGB), verdient Zustimmung: Zum einen wird diese Zielsetzung bereits bei der gesetzlichen Definition der (unterstützen) krimOrg ausreichend erwähnt; zum anderen hat die Bundesgerichtspraxis deutlich gemacht, dass die Unterstützung konkreter Verbrechen hier gerade nicht zu verlangen ist, weshalb der bisherige (renundante) Gesetzestext missverständlich wirkt.
Berechtigt scheint hingegen die Kritik (etwa des Anwaltsverbandes) am vorgeschlagenen Wegfall des Geheimhaltungs-Merkmals (Art. 260ter Abs. 1 E-StGB): Dass ein gesetzliches Tatbestandsmerkmal die Strafverfolgung "erschwere" (so das Hauptargument der Strafverfolger), ist vom Gesetzgeber gewollt und reicht als kriminalpolitisches Motiv einer Streichung (für sich alleine) nicht. Das bisherige Erfordernis der Geheimhaltung des Aufbaus und der personellen Zusammensetzung der krimOrg erklärt sich aus der (leider vielfach in Vergessenheit geratenen) Zielsetzung der Norm: Die Vorverlagerung der Strafbarkeit auf Beteiligung und Unterstützung ausserhalb der klassischen Regeln der Teilnahmedogmatik rechtfertigt sich nur für besonders gefährliche terroristische sowie (im engeren Sinne) mafiöse Gruppierungen, nicht aber für "gewöhnliche" Verbrecherbanden, bei denen die "Omertà" und die heimliche Unterwanderung (der legalen Wirtschaft und Politik) eine deutlich geringere Bedeutung spielen.
Sehr zu begrüssen ist wiederum die höhere Strafobergrenze (10 Jahre) für Terroristen (Art. 260ter Abs. 2 E-StGB) sowie das Mindeststrafmass (drei Jahre) für Mafiabosse bzw. Terroristen mit "bestimmendem Einfluss" (Abs. 3). Wenig einleuchtend scheint hingegen, wieso der Mafiaboss lediglich mit höchstens 5 Jahren Freiheitsstrafe bedroht werden soll, sofern ihm keine konkreten Verbrechen persönlich nachzuweisen sind (Abs. 2 ist allein auf terroristische krimOrg zugeschnitten).
Das schweizerische Terrorismus-Strafrecht weist leider weiterhin bedenkliche Lücken auf, denen der Entwurf des Bundesrates von 2018 zu wenig Rechnung trägt: Völlig zu übersehen scheint der Gesetzgeber das Problem der terroristischen Anschläge und Massenmorde von Einzeltätern und Kleingruppen. Diese werden von Art. 260ter StGB überhaupt nicht erfasst. – Zu erinnern ist hier beispielsweise an die 51 Morde von Christchurch im März 2019, die Lastwagen-Attentate im Juli bzw. Dezember 2016 in Nizza und Berlin (mit 86 bzw. 11 getöteten Menschen), das Bombenattentat am Boston Marathon 2013, die 2011 auf Utoya ermordeten 77 Kinder und Jugendlichen, die NSU-Mordserie 2000-2007 in Deutschland, oder an das Zuger Attentat von 2001, bei dem 14 Kantons- und Regierungsräte erschossen und zahlreiche weiteren Menschen zum Teil schwer verletzt wurden.
Nur wenig hilfreich und stark auslegungsbedürftig ist in diesem Zusammenhang der neu vorgeschlagene Art. 260sexies E-StGB: Wie schon der Bundesrat in seiner Botschaft bemerkt hat, könnten damit höchstens "kleinere Lücken" geschlossen werden: Zwar setzt diese Bestimmung keine terroristische Organisation voraus. Die dort unter Strafe gestellten Handlungen (Anwerben, Sich-Anleiten-Lassen/Anleiten, Reisen) müssen jedoch "im Hinblick auf die Verübung eines" (konkreten terroristischen) "Gewaltverbrechens" erfolgen. Die Tragweite der vorgeschlagenen Norm geht daher über die – bereits strafbaren – Vorbereitungshandlungen (Art. 260bis StGB) bzw. über Beihilfe zu Gewaltverbrechen (Art. 25 StGB) kaum hinaus.
Zudem ist nur schwer zu erkennen, wie die Schweiz damit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen nach Ratifikation des Übereinkommens des Europarates zur Verhütung des Terrorismus (vom 16. Mai 2005) vollständig nachkommen würde: Artikel 6 Absatz 1 dieses Übereinkommens verlangt ausdrücklich eine Strafnorm gegen Anwerbungen "für terroristische Zwecke". Eine solche Strafnorm ginge deutlich weiter als die vom Bundesrat (in Art. 260sexies Abs. 1 lit. a E-StGB) inkriminierte Anwerbung für ein konkretes terroristisches "Gewaltverbrechen" ("Begehung einer solchen Straftat oder die Teilnahme daran"). Schon die gezielte Anwerbung, sich z.B. dem IS anzuschliessen, muss nach dem Übereinkommen des Europarates unter Strafe gestellt werden (und nicht bloss die Anwerbung für konkrete Gewaltverbrechen des IS). In Art. 260sexies Abs. 1 lit. a E-StGB muss die fragliche verunglückte Wendung ("für die Begehung einer solchen Straftat oder die Teilnahme daran") daher ersetzt werden durch: "für terroristische Zwecke".
Im Übrigen drängt sich eine gezielte Ausweitung von Art. 260quinquies StGB (Terrorismusfinanzierung) auf: Gemäss der langjährigen Praxis des Bundesgerichtes stellt diese Norm die Finanzierung von terroristischen Einzeltätern und (wenig strukturierten) terroristischen Kleingruppen unter Strafe (die Finanzierung von terroristischen Organisationen im engeren Sinne fällt unter Art. 260ter StGB). – Es ist schlechterdings nicht einzusehen, weshalb die bewusste und massive logistische Unterstützung von hochkriminellen Einzelterroristen (wie Breivik usw.) oder terroristischen Kleingruppen (z.B. NSU) ausschliesslich in der Form der finanziellen Unterstützung strafbar sein sollte.
6. Januar 2020 / © Prof. Dr. Marc Forster
Mo
02
Sep
2019
Sogenannte soziale Netzwerke (von Anbietern wie Facebook, Google, Instagram, Snapchat usw.), grosse Online-Handelsplattformen (z.B. Alibaba, Ebay, Amazon usw.), abgeleitete Internettelefonie (z.B. über Whatsapp), Mailing- (z.B. Gmail von Google oder Outlook von Microsoft), Chat-/Messaging-, (Peer-to-Peer-)Videokommunikations- (z.B. über Skype oder Whatsapp) oder Cloud-Dienste werden zunehmend auch von Kriminellen genutzt. Leider gehören dazu regelmässig auch hochgefährliche Terroristen, mafiöse Organisationen und andere international tätige und gut vernetzte Verbrecher.
Zwei neue Forschungsarbeiten der Universität St. Gallen zeigen die gesetzlichen Lücken auf bei der strafprozessualen Überwachbarkeit wichtiger moderner Kommunikationskanäle (vgl. Laura Dusanek, Probleme der strafprozessualen Überwachung abgeleiteter Internetdienste wie Facebook, Skype oder Whatsapp – Lösungen im neuen BÜPF? MA SG 2019; Katja Allenspach, Revision des Überwachungsrechts: Eine Übersicht der bedeutendsten Änderungen, MA SG 2019). Bisher fehlt es dem Bundesrat bedauerlicherweise am politischen Mut zur dringend gebotenen Regulierung von Schweizer Tochter- und Vertriebsgesellschaften der grossen ausländischen IT-Konzerne:
Die Antwort auf die Frage, welche Internetdienste strafprozessual überwacht werden können (z.B. Telefonabhörung, Internet-Teilnehmerüberwachung usw.), ist komplex und ständigem technischem Wandel unterworfen. Sie hängt insbesondere vom verwendeten Dienst, von der Art der Verschlüsselung und vom verwendeten Kommunikationsgerät bzw. Internetzugang ab. Selbst die grossen ausländischen Internetdienste und Social Media (soweit sie überhaupt eine gesetzliche Mitwirkungspflicht bei schweizerischen Überwachungen nach dem BÜPF haben) sind teilweise technisch gar nicht in der Lage, auf "End-to-End"-verschlüsselte Kommunikationsinhalte (Gesprächsverkehr) ihres Dienstes zuzugreifen bzw. unverschlüsselte Daten zu liefern. Die gesetzlich stark regulierten Schweizer Internet-Zugangsprovider (wie Swisscom, Sunrise, Salt usw.) haben nur Zugriff auf die Registrierungs- und Identifikationsdaten bereits bekannter Anschlüsse sowie auf die "IP-Histories" (IP-Adressverläufe) von bestimmten Internetaktivitäten. Auch die Beschlagnahme unverschlüsselter (bereits "abgerufener") Kommunikationsinhalte auf Empfangsgeräten (Smartphones usw.) ist nur möglich, falls die Strafbehörden direkten Zugriff auf ein solche Geräte haben. Der höchstens subsidiär in Frage kommende Einsatz von GovWare (behördliche Software zur heimlichen Kommunikationsüberwachung) bildet ebenfalls kein Allheilmittel: Diese seit 1. März 2018 im Gesetz vorgesehene Überwachungsart ist sehr aufwändig und teuer; ausserdem setzt sie günstige Zugriffskonstellationen voraus (physischer Zugriff auf das Zielgerät oder heimliches Aufladen der GovWare per Internet, z.B. mittels präparierter E-Mail oder WLAN).
– Können Schwerkriminelle also in der Schweiz ungestört und ohne Überwachung über Internet kommunizieren und Verbrechen planen? Die beunruhigende Antwort lautet: in weiten Bereichen leider ja.
Die Problematik ist eine doppelte: Nicht nur fehlt es an einer klaren gesetzlichen Grundlage zum Durchgriff auf ausländische Datenverwalter grosser IT-Konzerne, Social Media und Online-Handelsplattformen, etwa über deren schweizerische Vertriebs- und Marketingfilialen. Hinzu kommt noch die technische Schwierigkeit, dass es bei verschlüsselten mobilen Internetdiensten (und damit im zentralen Bereich) weder für die schweizerische Strafbehörde, noch den technischen Dienst ÜPF, noch für den Schweizer Internet-Zugangsprovider ohne weiteres möglich ist, ohne Zutun des ausländischen Internetdienstes (oder aufwändige technische Zusatzvorkehren) auf die notwendigen verschlüsselten Kommunikationsdaten zu greifen.
Die Internet-Zugangsprovider sind zwar verpflichtet, die "IP-Histories" ihrer Kunden herauszugeben und entsprechende Auskünfte zur Identifizierung ihrer registrierten Internetkunden zu geben (Art. 22 BÜPF, Art. 14 aBÜPF). Auf verschlüsselte Chatverläufe und registrierte Benutzerdaten von Internetdiensten wie Facebook, Whatsapp, Google, Instagram, Snapchat, Skype usw. haben sie jedoch regelmässig keinen direkten Zugriff. Das neue BÜPF sieht daher eine Duldung möglicher Überwachungen durch alle – in der Schweiz ansässigen – "abgeleiteten Internetdienste" vor sowie eine Herausgabepflicht betreffend bei ihnen vorhandene Rand- und Identifikationsdaten (Art. 27 Abs. 1 und Art. 22 Abs. 1 und 3 BÜPF). Bei Schweizer Internetkommunikations-Anbietern, die Dienstleistungen von grosser wirtschaftlicher Bedeutung oder für eine grosse Benutzerschaft anbieten, bestimmt das Gesetz sogar noch, dass der Bundesrat inhaltliche Überwachungen (mit Verpflichtung zur Aufhebung eigener Verschlüsselungen der abgeleiteten Dienste) und Daten-Aufbewahrungspflichten vorsehen könne (Art. 27 Abs. 3 i.V.m. Art. 26 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 lit. c sowie Art. 22 Abs. 4 i.V.m. Abs. 2 BÜPF).
Der Bundesrat hat allerdings auf griffige gesetzliche Massnahmen, um die wichtigsten Provider mit Sitz bzw. Datenverwaltung im Ausland nach dem sogenannten Zugriffsprinzip zur Mitwirkung zu verpflichten, bisher bewusst verzichtet. Insbesondere will er keine Bestimmung einführen, wonach solche Dienstanbieter, die in der Schweiz regelmässig mit eigenen Niederlassungen Marketing betreiben, hier auch die Rand- und Identifikationsdaten der Schweizer Kunden verwalten (oder zumindest faktischen Zugriff auf die Daten haben) müssten. Nicht einmal Töchter von ausländischen IT-Giganten, welche bereits in der Schweiz ansässig sind und hier fleissig Schweizer Kundinnen und Kunden anwerben bzw. Marketing betreiben, möchte der Bundesrat in die Pflicht nehmen. Diese sind bisher nicht gesetzlich verpflichtet, sich über ihre Konzernmutter die Zugangsberechtigung für die Daten ihrer Schweizer Kundschaft zu beschaffen.
Nach bisheriger Ansicht des Bundesrates bestehe "kein Anlass dazu, dass Anbieterinnen, bloss weil sie abgeleitete Dienste bereitstellen, den gleichen Anforderungen wie die klassischen Fernmeldedienstanbieterinnen unterliegen" sollten. Anderslautende Schweizer Regelungen könnten "mangels Zuständigkeit gar nicht durchgesetzt werden". − Diese Argumentation überzeugt nicht. Geradezu verniedlichend und naiv wirkt die Ansicht des Bundesrates, marktbeherrschende Gosskonzerne wie Facebook oder Google würden "bloss" abgeleitete Dienste bereitstellen. Wenn ein ständig zunehmender Grossteil der Kommunikation über Produkte und Dienstleistungen dieser Konzerne läuft (z.B. Whatsapp, FB- und Instagram-Messenger, Google-Mails und -Chats oder Internettelefonie), darunter leider auch sehr viel anonyme Kommunikation mit kriminellem Hintergrund, dann drängt es sich im Gegenteil geradezu auf, diese Dienstleistungen einzubeziehen und wenigstens jene Daten (insbes. Daten, welche eine Identifizierung der Nutzer ermöglichen) zu beanspruchen, welche die Provider selber sammeln und verwalten. Der Schweizer Gesetzgeber ist auch durchaus dafür "zuständig", die Regeln zu bestimmen, nach denen Filialen von ausländischen Grossanbietern in der Schweiz Geschäfte betreiben und bewerben. In neueren Stellungnahmen des Bundesrates wird denn auch immerhin eingeräumt, dass grosse IT-Konzerne wirtschaftlich und technisch betrachtet die Funktion eigentlicher Fernmeldedienstleister innehaben. Eine förmliche Einstufung von grossen ausländischen Internetdiensten als "Fernmeldedienste" (im Sinne des BÜPF) durch den Dienst ÜPF (per "Merkblatt") löst den Konflikt mit dem völkerrechtlichen Territorialitätsprinzip aber in der Praxis nicht und ist auch rechtsstaatlich fragwürdig.
Nach den Ergebnissen der beiden (unabhängig voneinander erstellten) St.Galler Forschungsarbeiten hat die Revision des BÜPF an der bisherigen Rechtslage für grosse IT-Konzerne mit Datenspeicherung im Ausland grundsätzlich nichts geändert: Zwar ergibt sich eine gesetzliche Mitwirkungspflicht, wenn der Konzern "Dienste für sich in der Schweiz befindliche Personen" erbringt oder "sich gezielt an Personen in der Schweiz adressiert". Mitwirkungspflichtig sind jedoch nur jene Internetdienste, die einen Sitz oder eine Niederlassung in der Schweiz haben, welche die faktische oder rechtliche Kontrolle über die Daten ausüben. Faktische und rechtliche Kontrolle haben die jeweiligen Datenverwalter (z.B. FB Irland) bzw. die Konzernzentrale (z.B. FB USA). Für andere Tochterfirmen ausländischer IT-Giganten, also insbesondere reine Marketing- und Vertriebsfilialen in der Schweiz, gilt weiterhin die folgende Rechtslage:
Die Internationale Konvention zur Bekämpfung der Cyber-Kriminalität (CCC) orientiert sich noch stark am Territorialitätsprinzip. Dieses ist verhaftet im Nationalstaatendenken des 19. und 20. Jahrhunderts, welches noch von kontrollierbaren Staatsgrenzen mit bunt gestrichtenen "Schlagbäumen" und davor anhaltenden Postkutschen ausgeht. Eine solche internationalstrafrechtliche Sicht ist spätestens in Zeiten der grenzübergreifenden IT-Kriminalität schon fast rührend und hoffnunglos veraltet. Aufgrund des Territorialitätsprinzipes dürfen selbst die CCC-Signatarstaaten (z.B. die Schweiz) in den jeweiligen Partnerstaaten (z.B. den USA) keine direkten Datenerhebungen (auf nicht öffentlich zugänglichen Datenbanken) vornehmen. Einzelne regulatorische "Paradiese" für IT-Grosskonzerne wie Irland haben nicht einmal die (eher zahnlose) CCC ratifiziert. Wenn die Schweizer Strafbehörden ein Verbrechen aufdecken wollen, z.B. Terrorismus, Mord oder Kinderpornographie, welches mithilfe des Internets begangen oder vorbereitet wurde, müssen sie (gestützt auf die CCC) zunächst versuchen, die Schweizer Kundinnen und Kunden des betroffenen Internetdienstes (die allenfalls in den Kreis von Verdächtigen fallen könnten) um Zustimmung zur Datenerhebung (nach Art. 32 lit. b CCC) zu bewegen. Falls die Zustimmung (aus welchen Motiven auch immer) nicht erfolgt, kann noch versucht werden, die ausländische Datenverwaltung um Zustimmung zu bitten. Aus "Geheimnisschutz"- bzw. nahe liegenden Marketinggründen sind diese an einer freiwilligen Zusammenarbeit aber (verständlicherweise) meistens wenig interessiert.
Zwar wäre eine vom betroffenen Staat bewilligte grenzüberschreitende Datenerhebung mit dem Völkerrecht ("Territorialitätsprinzip") bzw. dem internationalen Strafrecht vereinbar. Eine solche Lösung setzt aber selbst nach der CCC auch noch eine Zustimmung der direkt betroffenen Kunden oder der ausländischen Datenverwaltung des betroffenen IT-Konzerns voraus. Falls eine solche freiwillige Datenherausgabe verweigert wird, bleibt der Strafbehörde nur noch der sehr langwierige und komplizierte Rechtshilfeweg.
Auch hier ergeben sich regelmässig Probleme. Selbst wenn Rechtshilfe geleistet wird, kommt sie oft zu spät, zumal die Daten-Aufbewahrungsvorschriften im Ausland oft lasch sind und die Verfahren oft viele Monate bzw. Jahre dauern. Bei Delikten wie z.B. Rassismus kommt noch dazu, dass ausländische Gerichte (insbesondere US-amerikanische oder irische Gerichte) die internationale Zusammenarbeit leider sogar in beunruhigendem Ausmass verweigern. Das kontinentaleuropäische Rechtsdenken bemüht sich um einen Ausgleich zwischen dem hochwertigen Grundrecht der Meinungsäusserungsfreiheit einerseits und dem notwendigen Schutz der betroffenen Menschen vor rassistischer und ehrverletzender Hetze und Verleumdung. Aus dieser Sicht trägt eine Verabsolutierung des "Freedom of (Hate) Speech" im angloamerikanischen und teilweise auch im skandinavischen Rechtskreis (Schweden hat die CCC ebenfalls noch nicht ratifiziert) Züge eines befremdlichen Grundrechtsfetischismus.
Einerseits darf ein Staat nicht einfach Zwangsmassnahmen auf ausländischem Hoheitsgebiet ergreifen. Anderseits muss er auf seinem Territorium sein Strafrecht durchsetzen können, auch gegenüber Personen und Gesellschaften, die im Inland wirtschaftlich tätig sind. Eine moderne Interpretation des Territorialitätsprinzips im Zeitalter des Cyberspace sollte daher an der faktischen wirtschaftlichen Betätigung ausländischer IT-Konzerne anknüpfen und damit einen gesetzlichen Zugriff auf dessen inländische Marketing- und Vertriebsfilialen zulassen.
Wie in den beiden St.Galler Forschungsarbeiten aufgezeigt wird, neigt auch die Praxis des Bundesgerichtes einem entsprechenden internationalstrafrechtlichen Zugriffsprinzip zu. Dem schweizerischen Gesetzgeber kann es nicht verwehrt sein, in der Schweiz domizilierte Vertriebs- und Marketingfilialen von ausländischen Diensten anzuweisen, sich die für eine ausreichende Mitwirkung (namentlich Nutzer-Identifizierung) benötigten Daten von ihrer Konzernzentrale oder von den ausländischen Datenverwaltern zu beschaffen. Dies müsste im BÜPF allerdings klar so geregelt werden. Dass ein angemessenes regulatorisches Vorgehen im Interesse der Rechtsstaatlichkeit und Verbrechensaufklärung durchaus möglich ist (solange die CCC noch keine Lösungen bringt), hat zum Beispiel Belgien bewiesen.
– Was müsste der schweizerische Gesetzgeber also tun, damit die Verfolgung von schweren Verbrechen wie Terrorismus, Drogenhandel oder Kinderpornographie nicht an der "Zustimmung" von Internet-Usern und ausländischen IT-Konzernen scheitert? Etwas mehr politischer Mut wäre gefragt. Die Vertriebs- und Marketinggesellschaften von ausländischen IT-Konzernen mit Sitz in der Schweiz müssten gesetzlich verpflichtet werden, sich den Datenzugang für ihre Schweizer Kunden (und die Berechtigung dazu) bei ihren ausländischen Muttergesellschaften zu beschaffen. – Sollte das bereits zu viel verlangt sein? Wird die internationalstrafrechtliche "Postkutsche" noch lange am Schlagbaum des veralteten Nationalstaatsdenkens angehalten?
2. September 2019 / © Prof. Dr. Marc Forster
Do
08
Nov
2018
Eine kürzlich an der Universität St. Gallen (Law School) erschienene Forschungsarbeit analysiert die Implikation von Schweizer Banken und Finanzintermediären, darunter Anwälten, in die Off-Shore-Aktivitäten der panamesischen Anwaltskanzlei Mossack Fonseca (Mossfon) im Lichte der sogenannten "Panama Papers". Konkret ging es insbesondere um die Gründung von zahlreichen "Briefkastenfirmen" bzw. nicht operativen Sitzfirmen sowie um treuhänderisch (bzw. über "Strohmänner") eröffnete und verwaltete Konten, Stiftungen und Gesellschaften ohne Deklaration der jeweils wirtschaftlich Berechtigten. Für die Vermittlung von (wirtschaftlich berechtigten) verdeckten Endkunden arbeitete Mossfon mit mehr als 14'000 "Intermediären" zusammen, darunter vielen Anwälten und Vermögensverwaltern, die zum grössten Teil aus Hongkong, Grossbritannien, der Schweiz und den USA stammten (vgl. Zoran Culjak, "Panama Papers" - Strafrechtliche und strafprozessuale Fragen mit besonderem Augenmerk auf die Grenzen des schweizerischen Anwaltsgeheimnisses, Masterarbeit Universität St.Gallen 2018, S. 4-11, zit. Untersuchung Panama Papers).
Die St. Galler Untersuchung erhellt Mossfons Verwicklungen in zahlreiche internationale Finanzskandale mit diversen "Politically Exposed Persons" (PEP), etwa beim dubiosen Firmennetzwerk von Cristina und Nestor Kirchner (Argentinien/USA-Nevada), bei den verdächtigen Eisenerz-Deals von Beny Steinmetz mit dem guineischen Diktator Lansana Conté (Guinea/Brasilien/Israel), bei der Beteiligung des zurückgetretenen isländischen Premierministers Sigmundur Gunnlaugsson an einer Gesellschaft auf den British Virgin Islands, bei den Korruptionsskandalen betreffend Petrobras und weitere beteiligte Firmen und Politiker (Brasilien), beim Korruptionsskandal um den ehemaligen pakistanischen Premierminister Nawaz Sharif (dubiose Immobiliengeschäfte in Grossbritannien), oder bei den Beteiligungen eines engen Freundes des russischen Präsidenten Vladimir Putin (nämlich des Musikers Sergej Roldugin) an Offshore-Gesellschaften, über die (gemäss den "Panama Papers" und darauf gestützen Medienberichten) hunderte Mio. USD aus Russland weggeschafft worden seien. Weitere Endkunden von Mossfon waren z.B. in Schmiergeldskandale verwickelte ehemalige Siemens-Manager, der ehemalige deutsche Geheimagent Werner Mauss, Angehörige des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, Angehörige von hohen Funktionären der chinesischen KP oder der ehemalige britische Ministerpräsident David Cameron (vgl. Untersuchung Panama Papers, S. 15).
Zu den Banken, die besonders intensiv mit Mossfon kooperierten, gehörten namentlich eine luxemburgische, zwei Schweizer Privatbanken, zwei Schweizer Grossbanken, zwei britische Finanzinstitute sowie eine französische und eine isländische Bank. Auffällig häufig betroffen waren Zweigniederlassungen diverser Banken in Luxemburg und auf den British Channel Islands. Sehr intensive und qualifizierte Kontakte zu Mossfon unterhielt namentlich auch die Deutsche Bank (vgl. S. 11 f.).
Laut Untersuchung war ein Schweizer Bürger als umtriebiger Juniorpartner bei Mossfon tätig. Nach Angaben der Eidgenössischen Steuerverwaltung können sodann rund 450 Endkunden (Personen und Gesellschaften) mit Sitz in der Schweiz mit den "Panama Papers" in Verbindung gebracht werden. Darunter finden sich mehrere hohe Funktionäre der FIFA (privatrechtlicher Verein mit Sitz in Zürich), etwa der aktuelle FIFA-Präsident Gianni Infantino (vgl. Untersuchung Panama Papers, S. 15 f.). Diverse Schweizer Finanzinstitute waren nicht nur in grossem Stil als Vermittler tätig, sondern führten teilweise auch direkt Bankkonten für verdeckte Mossfon-Endkunden (vgl. S. 15-18). Auch einige Schweizer Anwälte (insbesondere aus Genf und Zürich) tauchen in den "Panama Papers" als Vermittler und Verwalter von Offshore-Vehikeln auf oder als einschlägige Berater und Rechtsgeschäftsplaner (etwa bei Gründungen von Sitzgesellschaften).
Gemäss einer Stellungnahme der Meldestelle des Bundes für Geldwäschereiverdachtsfälle (MROS) haben seit den Medienberichten über die "Panama Papers" die Geldwäscherei-Verdachtsmeldungen stark zugenommen. Die Eidgenössische Finanzmarktausicht (FINMA) hat sodann bankenrechtliche Aufsichtsmassnahmen getroffen, indem sie bei ca. 20 Schweizer Banken vertiefte Abklärungen anordnete. Gegen die Gazprombank (Schweiz) hat sie wegen schweren Verstössen gegen das GwG (besonders im PEP-Fall Roldugin) sogar aufsichtsrechtliche Zwangsmassnahmen ergriffen (vgl. Untersuchung Panama Papers, S. 16-18).
Im Bereich der Vermittlung und besonders der Verwaltung von Offshore-Konstrukten deutet sich gemäss der St. Galler Untersuchung (gestützt auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtes und die neuere Literatur) eine deutliche Tendenz ab, den Schutz des Anwaltsgeheimnisses zu verneinen (besonders bei reinen "Briefkastenfirmen" und treuhänderischer Organtätigkeit) oder zumindest deutlich zu begrenzen. Die Rechtslage muss hier allerdings ‒ mangels klarer gesetzlicher Regelungen ‒ als vage und unübersichtlich bezeichnet werden, weshalb sich eine anwaltliche Tätigkeit mit Geheimnisprivileganspruch in diesen Bereichen zunehmend als heikle Gratwanderung erweist:
Gesellschaftsgründungen und andere Dienstleistungen, die sich auf die blosse standardisierte Erledigung von Formalitäten für "Briefkastenfirmen" und Scheinverwaltungen beschränken, fallen nicht unter den Schutz des Anwaltsgeheimnisses (vgl. Untersuchung Panama Papers, S. 38 f.). Auch bei Global- und Mischmandaten mit gewissen rechtsberatenden oder rechtsgeschäftlichen Elementen (z.B. Gesellschaftsgründung) einerseits und deutlichen Elementen der Vermögensverwaltung, Gesellschafts-Organtätigkeit, Vermögens- und Steuerberatung, Finanzproduktvermittlung oder Banken-Compliance anderseits, besteht eine hochproblematische Rechtsunsicherheit, die nach gesetzgeberischen Klärungen ruft (vgl. S. 47).
Bei der besonders folgenschweren Frage, welche anwaltlichen Tätigkeiten dem Geldwäschereigesetz (GwG) unterstehen und zu entsprechenden strafbewehrten Sorgfalts- und Meldepflichten führen, erweist sich die Rechtslage als nicht viel klarer: De lege lata gelten die anwaltliche Vermittlung, Gründung und Verwaltung von Offshore-Konstrukten zwar (per se) noch nicht als finanzintermediäre Tätigkeiten. Grosse Vorsicht ist jedoch geboten, wenn das "Startkapital" für die Gründung einer entsprechenden Sitzgesellschaft oder Stiftung über ein Konto des beteiligten Anwalts transferiert wird oder wenn dieser (nach dem Gründungsakt) die Gesellschaftsanteile in Form von Effekten (z.B. Aktien) über längere Zeit selber aufbewahrt. Als Finanzintermediäre gelten grundsätzlich auch Anwälte, die als Organe einer Offshore-Sitzgesellschaft bzw. eines Trusts (ohne eigentliche "kaufmännische" operative Wirtschaftstätigkeit) deren Vermögen bloss treuhänderisch (d.h. nach den Anweisungen des wirtschaftlich Berechtigten) verwalten bzw. ihren Zahlungsverkehr treuhänderisch organisieren. Dies kann im Einzelfall auch auf Immobiliengesellschaften zutreffen (vgl. Untersuchung Panama Papers, S. 42-45).
De lege ferenda dürfte (nicht zuletzt aufgrund der GAFI-Empfehlungen im die Schweiz betreffenden vierten Länderbericht von 2016) mittelfristig jede Mitwirkung von Anwälten bei der Errichtung oder Verwaltung von Offshore-Vehikeln als GwG-relevant eingestuft werden, insbesondere auch die ("rechtsgeschäftliche" und "rechtsberatende") Gründung von Offshore-Sitzgesellschaften.
Auch hier drängen sich gesetzgeberische Klärungen auf, zumal sich alle Anwälte, die in der finanzintermediären "Grauzone" tätig sind, einem schweren Dilemma von beruflichen Rechtspflichten aussetzen: Wenn sie Verdachtsgründe für Geldwäscherei nicht an die MROS melden, droht ihnen eine Strafverfolgung nach Art. 37 i.V.m. Art. 9 GwG (oder gar wegen Beihilfe zur Geldwäscherei). Wenn sie hingegen den Verdacht melden, droht ihnen Strafe wegen einer möglichen Verletzung ihres Berufsgeheimnisses (Art. 321 StGB) (vgl. Untersuchung Panama Papers, S. 45-47).
Umso mehr erstaunt es, dass einzelne Schweizer Anwälte offenbar weiterhin in der genannten "Grauzone" der Legalität als Offshore-"Intermediäre" tätig sind: Ende Juni 2018 (nach Abschluss der St. Galler Untersuchung und mehr als zwei Jahre nach Publikation der Panama Papers) sind weitere 1,2 Millionen E-Mails, Verträge und Firmendokumente von Mossfon aufgetaucht (sog. "Panama Papers 2"). Gemäss den dokumentierten Berichten eines international vernetzten Kollektivs investigativer Journalisten (ICIJ) ergebe sich daraus, dass einige Schweizer Anwälte, Vermögensverwalter und Treuhänder (insbesondere aus dem Kanton Genf), die schon über Mossfon zahlreiche Offshore-Vehikel betreuten, unterdessen mit einer anderen "einschlägigen" panamesischen Kanzlei im bisherigen Stil weiter ihre Geschäfte tätigen. Man darf darauf gespannt sein, ob und wie Politik, Strafbehörden und Berufsverbände auf entsprechende Informationen reagieren werden.
8. November 2018 / © Prof. Dr. Marc Forster
2. Nachtrag vom 10. September 2020:
Die Politik ist unterdessen wieder eingeknickt: Zwei im Parlament vertretenen Genfer Anwälten ist es (Anfang September 2020) gelungen, den Nationalrat zum Nichteintreten auf die "Lex Panama" zu bewegen (mit 107:89 Stimmen). Damit drohen dem Schweizer Dienstleistungs- und Finanzplatz und der überwältigenden Mehrheit der seriös arbeitenden Anwältinnen und Anwälte erhebliche Reputationsschäden, bloss weil ein paar "schwarze Schafe" unter ihnen weiter ungestört hochdubiose Offshore-Vehikel betreiben möchten. Die Schweizer Politik erweist sich als vergesslich und wenig lernfähig: Sie verhält sich wie vor 15 Jahren nach Ausbruch des Fiskalstreites USA-Schweiz, der bekanntlich zur Abschaffung des Bankgeheimnisses (im Fiskalverkehr mit dem Ausland) geführt hat. Politische und wirtschaftliche Selbstdemontage auf Druck von Partikulärinteressen (mit aggressiver Lobby) scheint eine typisch schweizerische Spezialität zu sein. Anders gesagt: Bei uns bestimmen die Böcke über die Gartenpflege.
1. Nachtrag vom 1. November 2019:
Die Politik hatte zunächst reagiert: Am 26. Juni 2019 verabschiedete der Bundesrat eine Botschaft (samt Entwurf) zur Änderung des GwG (BBl 2019 5451, sog. "Lex Panama"). Danach würden künftig auch für Anwälte gesetzliche Sorgfaltspflichten gelten, wenn sie als sogenannte "Beraterinnen" und "Berater" Dienstleistungen erbringen im Zusammenhang mit der Gründung, Führung oder Verwaltung von Sitzgesellschaften und Trusts. Sie wären sogar (neu) unter die geldwäschereigesetzliche Meldepflicht gefallen, wenn sie in einer (nicht berufstypischen) Geschäftstätigkeit als "Berater" Finanztransaktionen ausführen (vgl. Art. 2 Abs. 1 lit. c, Art. 8b und 8c, Art. 9 Abs. 1ter, 1quater und Abs. 2, Art. 9b Abs. 3, Art. 10a Abs. 5, Art. 11a Abs. 1-3, Art. 15, Art. 23 Abs. 5, Art. 30 Abs. 2 lit. a, Art. 32 Abs. 3, Art. 34 Abs. 1-2 und Art. 38 E-GwG; BBl 2019 5555-5565).
Fr
16
Mär
2018
Seit einigen Wochen berichten die Medien intensiv über das Mehrfach-Tötungsdelikt in Rupperswil, dem am 21. Dezember 2015 eine
Mutter, ihre beiden (13 bzw. 19 Jahre alten) Söhne und eine (21-jährige) junge Frau (Freundin des 19-Jährigen) zum Opfer fielen. Heute hat das Bezirksgericht Lenzburg das erstinstanzliche
Strafurteil gefällt: Es sprach den Beschuldigten Thomas N. schuldig des mehrfachen Mordes, der räuberischen Erpressung, der Geiselnahme, sexueller Handlungen mit
Kindern, der sexuellen Nötigung, strafbarer Vorbereitungshandlungen zu weiteren Morden sowie weiterer Delikte. Das Bezirksgericht verurteilte ihn zu einer
lebenslänglichen Freiheitsstrafe. Zudem erhält er eine ambulante Psychotherapie und wird er ordentlich verwahrt.
Angesichts der laut Bezirksgericht und Anklageschrift erdrückenden Beweislage gegen den beschuldigten Thomas N. (DNA-Spuren, Fingerabdrücke,
Geständnis usw.) geht allzu leicht vergessen, dass Polizei und Staatsanwaltschaft in den ersten Monaten nach der Bluttat noch völlig im
Dunkeln tappten und die Überführung mittels DNA-Spurenabgleich erst möglich wurde, nachdem die Ermittler Thomas N. als Verdächtigen hatten
identifizieren können. Die erfolgreiche Identifizierung des Beschuldigten (und damit das gesamte nachfolgende Beweisfundament) war aber wiederum erst aufgrund
einer digitalen "Rasterfahndung" mittels sogenannten "Antennensuchlaufs" zustande gekommen:
Bei der Rasterfahndung per Antennensuchlauf werden Verbindungs-Randdaten des mobilen Fernmeldeverkehrs von zunächst unbestimmt vielen (möglicherweise sehr vielen) Teilnehmern erfasst und (vorerst anonymisiert) abgeglichen, um aus den Randdaten der Mobilfunkantennen an den jeweiligen Tatorten und weiteren Ermittlungsergebnissen möglichst eine Schnittmenge von konkret verdächtigen Gerätebenutzern zu ermitteln (vgl. dazu Marc Forster, Antennensuchlauf und rückwirkende Randdatenerhebung bei Dritten, Bundesgerichtspraxis und gesetzliche Lücken betreffend Art. 273 und Art. 270 lit. b StPO, in: Jositsch/Schwarzenegger/Wohlers, Festschrift für Andreas Donatsch, Zürich 2017, S. 357 ff., 359 f.).
Im Fall Rupperswil war zunächst ermittelt worden, welche mobilen Fernmeldeanschlüsse in der Nähe des Tatortes im Tatzeitraum aktiv waren. Im Januar 2016 erhielt die Aargauer Kriminalpolizei die anonymisierten digitalen Rohdaten dieses Antennensuchlaufs. Es handelte sich zunächst um Zehntausende von Verbindungs-Randdaten bzw. registrierten Fernmelde-Aktivitäten sehr vieler mobiler Geräte. Aufgrund der Fachmeinung eines "Profilers" und weiteren Indizien ging die Polizei davon aus, dass die Täterschaft vermutlich selber in Rupperswil (oder naher Umgebung) wohnte. Um einen "Schnittmengen-Raster" herauszufiltern, wurde mit grossem Aufwand abgeklärt, welche der zahlreichen mobilen Geräte, die am Tatort und im Tatzeitraum aktiv waren, auch noch an anderen Antennenstandorten in Rupperswil regelmässig, d.h. über Monate hinweg, in Betrieb waren. Das waren dann nur noch wenige Geräte. In der Tat wohnte Thomas N. nur ca. 500 Meter vom Tatort entfernt. Und glücklicherweise war die Antennendichte in Rupperswil relativ hoch, so dass über die Antennen am Tatort und am Wohnort von Thomas N. eine Schnittmenge gebildet werden konnte (vgl. Forster, Antennensuchlauf, S. 358 f.).
Es besteht Grund zur Annahme, dass dieser Antennensuchlauf im Fall von Thomas N. weitere Opfer verhindert und einige Menschenleben gerettet hat:
Gemäss der 28 Seiten umfassenden Anklageschrift der Aargauer Staatsanwaltschaft habe der Beschuldigte sich schon bei der Bluttat vom 21. Dezember 2015 Zutritt zur Wohnung der Opfer verschafft, indem er sich mit einer gefälschten Visitenkarte als "Schulpsychologe Dr. Sebastian Meier" ausgegeben und ein weiteres gefälschtes Dokument (von ihm selbst verfasster vorgeblicher Brief einer Schulbehörde aus dem Kanton Aargau) vorgelegt habe. Bereits unmittelbar nach dem schweren sexuellen Missbrauch an einem der gefesselten Opfer, dem 13-jährigen Knaben, und nach der Tötung aller vier Opfer (per Kehlschnitt mit einem Messer) habe der pädosexuell veranlagte Thomas N. analoge Verbrechen an mindestens zwei weiteren Familien geplant und akribisch vorbereitet:
So habe der Beschuldigte nach dem gleichen Muster neue Briefe angefertigt, die vorgeblich von einer Schulbehörde
aus dem Kanton Solothurn bzw. einer Schulleiterin stammten. Am 27. Dezember 2015, sechs Tage nach der Bluttat, habe er im Internet nach einer Familie im Kanton Bern
recherchiert. In einem speziell angelegten Notizbuch habe er eigentliche "Fichen" angelegt über insgesamt
elf weitere Knaben, alle im Alter von ca. 11-14 Jahren. Darin habe er Photos der Knaben gesammelt und minutiös mit weiteren Informationen wie
Namen und Wohnorte ergänzt. Am 12. und 14. Januar 2016 habe er die von ihm ausspionierte Berner Familie auf deren
Festnetz-Telefonanschluss angerufen. Gemäss Anklage habe Thomas N. geplant, an dieser Familie (nach dem Muster von "Rupperswil") analoge Verbrechen zu begehen.
Damals tappte die Polizei hinsichtlich der Täterschaft noch vollständig im Dunkeln.
Ebenfalls Verbrechen nach dem gleichen Muster habe der Beschuldigte an einer weiteren Familie aus dem Kanton
Solothurn geplant und vorbereitet. Auch diese Familie habe er im Januar 2016 telefonisch angerufen (sich dabei aber am Apparat nicht gemeldet). Am 26. Januar 2016 habe er sich in das Wohnquartier der Familie begeben,
um deren Tagesablauf auszuspionieren. Damals befand sich die Polizei (gemäss ihren eigenen Medienmitteilungen) erst im Besitz von zehntausenden digitalen Rohdaten des Antennensuchlaufs. Die Identifikation eines Verdächtigen mittels der
technisch sehr aufwändigen hängigen Rasterauswertung war noch nicht erfolgt.
Am 11. Mai 2016 (unterdessen war er als Verdächtiger identifiziert) sei der Beschuldigte erneut in das Wohnquartier der Solothurner Familie gefahren. Wie bei der Bluttat von Rupperswil habe er im selben schwarzen Rucksack, den er schon damals verwendet habe, erneut die gefälschte Visitenkarte als "Schulpsychologe" bei sich getragen sowie ein gefälschtes Schreiben der Solothurner Schulbehörden. Ebenso habe er weitere Verbrechenswerkzeuge (vorbereitete Fesseln usw.) mitgeführt. Die Blutspuren seiner Opfer von Rupperswil am Rucksack habe er mit einem schwarzen Stift übermalt. Laut Anklageschrift habe er am 11. Mai 2016 von der Ausführung der geplanten und vorbereiteten neuen Verbrechen abgesehen. Am 12. Mai 2016 sei er verhaftet worden. Zu diesem Zeitpunkt habe sein Notizbuch die Namen von elf Knaben im Alter von 11-14 Jahren enthalten (vgl. dazu, mit Hinweisen auf die Anklageschrift, auch Neue Zürcher Zeitung vom 13. März 2018 S. 13; NZZ online vom 12. März 2018: "Ein zweites 'Rupperswil' konnte nur knapp verhindert werden").
Ohne Antennensuchlauf wäre Thomas N. vielleicht bis heute nicht identifiziert und gefasst worden.
Mit erheblicher Wahrscheinlichkeit wären aber -- zumindest laut Anklageschrift und erstinstanzlichem Strafurteil -- weitere Schwerverbrechen erfolgt, die Thomas
N. bereits akribisch vorbereitet habe: Am Tag vor seiner Verhaftung sei der Beschuldigte
bereits -- im wahrsten Sinne des Wortes -- vor der Tür weiterer anvisierter Opfer gestanden. Das Bezirksgericht hat den Beschuldigten daher auch wegen
strafbaren Vorbereitungshandlungen zu weiteren Morden und anderen Verbrechen verurteilt.
Das Bundesgericht hatte am 3. November 2011 in seinem Leitentscheid BGE 137 IV 340 die Rasterfahndung per Antennensuchlauf als grundsätzlich rechtmässige Untersuchungsmethode anerkannt (zu den Kriterien der Zulässigkeit dieser qualifizierten Randdatenerhebung des digitalen Fernmeldeverkehrs vgl. Forster, Antennensuchlauf, S. 359 f.). Da der Antennensuchlauf als Untersuchungsmassnahme nicht spezifisch und ausführlich im Gesetz geregelt ist, wurde das Bundesgericht für diesen Leitentscheid (in der juristischen Lehre) teilweise scharf kritisiert.
Leider hat es der Gesetzgeber auch in der am 1. März 2018 in Kraft getretenen letzten Revision des BÜPF und der StPO versäumt, eine klare gesetzliche Grundlage für den Antennensuchlauf (als qualifizierte Randdatenerhebung des digitalen Fernmeldeverkehrs) zu schaffen. Darauf ist in der Fachliteratur bereits ausdrücklich hingewiesen worden (vgl. Forster, Antennensuchlauf, S. 360).
Auch der Vorentwurf des
Bundesrates zur hängigen Teilrevision der StPO sieht keine Regelung des Antennensuchlaufs vor. Wenigstens soll die einfache Standort- und
Verkehrsranddatenerhebung bei Dritten (insbesondere Opfern von Delikten) spezifisch geregelt werden (vgl. Erläuternder Bericht EJPD zum VE StPO vom Dezember 2017, S. 38
Ziff. 2.1.41; zu diesem Revisionsvorschlag vgl. auch Forster, Antennensuchlauf, S. 360-367).
Dies betrifft allerdings eine andere Problematik.
Fazit: Pragmatische Gerichtsentscheide sowie kluge Ermittlungsstrategien von Kriminalpolizei und Strafbehörden können Menschenleben retten. Dies zeigt der Fall Rupperswil anschaulich. Bedauerlich ist, wenn in der Strafrechtsdoktrin das Bundesgericht faktisch für das Fehlen klarer gesetzlicher Grundlagen für digitale Überwachungen verantwortlich gemacht wird und nicht der dafür zuständige Gesetzgeber.
16. März 2018 / © Prof. Dr. Marc Forster
Do
06
Apr
2017
Derzeit wird öffentlich diskutiert, ob ein Facebook-User, der ein ehrverletzendes oder rassistisches Posting eines anderen Users mittels eines «Like» (Klick auf das «Daumen rauf»-Symbol) unterstützt, sich strafbar machen kann.
Die Ansicht, eine Strafbarkeit für den Absender des «Like» falle schon deshalb ausser Betracht, weil sein Verhalten von der Meinungsäusserungsfreiheit geschützt sei, geht am Strafrecht vorbei. Rassistische oder ehrverletzende Äusserungen und ihre Teilnahme daran sind von Gesetzes wegen gerade nicht von der Meinungsäusserungsfreiheit geschützt, sondern grundsätzlich strafbar (Art. 24-25, Art. 173 ff., Art. 261bis StGB).
Auch das Argument, ein Facebook-«Like» könne «mehrdeutig» sein bzw. sei nicht zwangsläufig als moralische Unterstützung gemeint, hilft wenig: Die strafrechtliche Relevanz eines Verhaltens ist nach objektivierten Kriterien zu prüfen. Die Behauptung, ein durchschnittlicher Facebook-User wisse nicht, was der «Like»-Button (bzw. das «Daumen rauf»-Symbol) bedeutet, erscheint wirklichkeitsfremd. Im Einzelfall wird ein Beschuldigter jedenfalls überzeugend darlegen müssen, inwiefern gerade er hier einem strafrechtlich relevanten «Irrtum» unterlegen sei bzw. das strafbare Posting gar nicht habe unterstützen wollen.
Aus strafrechtsdogmatischer Hinsicht stellt sich hier eine ganz andere Frage, nämlich die nach der Abgrenzung zwischen (strafloser) blosser Billigung einer Straftat und (strafbarer) psychischer Beihilfe (Art. 25 StGB) bzw. selbständigen Beihilfetatbeständen (des BT StGB). Die diesbezüglichen Kriterien sind nach herrschender Lehre und Praxis folgende:
Der psychische Gehilfe bestärkt den Täter seelisch in seinem Tatentschluss und erleichtert diesem damit die Durchführung der Straftat. Subjektiv muss der Gehilfe wollen oder zumindest in Kauf nehmen, dass er mit seinem unterstützenden Beitrag den Täter in dessen Tatentschluss (bzw. Dauertatverhalten) bestärkt (vgl. dazu Basler Kommentar StGB-Forster, Art. 25 N. 3). Zudem muss sich der Tatbeitrag des Gehilfen objektiv kausal auf den Erfolg der Haupttat auswirken; bloss versuchte Beihilfe ist nicht strafbar (BSK, Art. 25 N. 52). Die Unterstützung muss tatsächlich zur Straftat beitragen, ihre praktischen Erfolgschancen erhöhen und sich in diesem Sinne als kausal erweisen (sog. «Förderungskausalität»; BSK, Art. 25 N. 8).
Der Haupttäter muss aus dem Tatbeitrag somit einen konkreten praktischen Nutzen psychischer oder physischer Art ziehen, ansonsten fehlt es an einer Förderung der Haupttat. Blosse Billigung der Tat wäre noch keine psychische Gehilfenschaft (BSK, Art. 25 N. 10). Ein Facebook-«Like» kann die Haupttat auf zweifache Weise befördern: Erstens ist er dazu geeignet, den Urheber des Postings (Haupttäter) in seinem Tatentschluss bzw. Dauertatverhalten (Online-Halten des Postings) zu bestärken. Zweitens können «Likes» zudem zur weiteren Verbreitung der strafbaren Ehrverletzung oder rassistischen Hetze beitragen, indem andere User ermuntert werden, das Posting zu lesen (und evtl. ihrerseits zu liken und weiterzuverbreiten).
Primär ist bei den einzelnen in Frage kommenden Straftatbeständen jeweils zu prüfen, ob (über die
akzessorische Teilnahme, Art. 24-25 StGB, hinaus) ein selbständiger (täterschaftlicher) Beihilfetatbestand unter Strafe steht und erfüllt ist:
Beim Rassismustatbestand (Art. 261bis StGB) ist etwa an die Förderung rassistischer Propagandaaktionen oder an die öffentliche
Verbreitung rassistischer Ideologien zu denken (Abs. 2 und 3), bei Ehrverletzungen
an die Weiterverbreitung von übler Nachrede (Art. 173 Ziff. 1 Abs. 2 StGB). Diese selbständigen Beihilfetatbestände gehen der akzessorischen
Beihilfe als «leges speciales» vor
(BSK, Art. 25 N.
65). Auch der Versuch ist strafbar (BSK, Art. 25 N.
53).
Daraus ergibt sich (in den Grundzügen) folgendes Ergebnis:
Zu prüfen ist zunächst, ob ein ehrverletzendes oder rassistisches Posting einen selbständigen Beihilfetatbestand des BT StGB erfüllt. Akzessorische psychische Gehilfenschaft kommt (subsidiär) in Frage, wenn derjenige, der den «Like»-Knopf anklickt, will oder in Kauf nimmt, dass der Täter dadurch in seinem Tatentschluss (bzw. Dauertatverhalten) bestärkt wird. Zudem muss der «Like» das Dauerdelikt (objektiv) gefördert haben, d.h., er muss die Wahrscheinlichkeit erhöht haben, dass das Posting des Haupttäters weiter online bleibt bzw. weitere Beachtung findet.
Prof. Dr. Marc Forster, 6. April 2017
Mi
19
Okt
2016
Nach der mehrmals bestätigten
Rechtsprechung des Bundesgerichtes haben Beschuldigte, nachdem sie ein erstes Mal getrennt zur Sache befragt worden sind, grundsätzlich einen Anspruch auf Teilnahme an der Einvernahme von Mitbeschuldigten oder von Zeugen (Grundsatz der Parteiöffentlichkeit von Beweiserhebungen, Art. 147 Abs. 1 StPO). Vorbehalten ist ein
Ausschluss von der Teilnahme wegen Rechtsmissbrauchs (Art. 108 Abs. 1 lit. a StPO), etwa wenn der Beschuldigte die Teilnahme
dazu missbrauchen will, Einfluss auf Zeugen oder Mitbeschuldigte zu nehmen (Kollusion/Verdunkelung). Kein Rechtsmissbrauch liegt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes (und nach den Gesetzesmaterialien zur StPO) vor,
wenn lediglich eine prozesstaktisch legitime Anpassung des Aussageverhaltens des Beschuldigten droht: Dass der Beschuldigte sein weiteres Aussageverhalten den Aussagen von Mitbeschuldigten oder Zeugen anpassen
könnte (nachdem er ein erstes mal getrennt befragt wurde), lässt sein Teilnahmerecht nicht dahinfallen. Die Parteien dürfen ihre Verfahrensdispositionen der Entwicklung der Beweiserhebungen
anpassen.
In seinem Aufsatz in forumpoenale
2016 (Nr. 5
S. 281 ff., 287) vertritt Ulrich
Weder die
Ansicht, die betreffende Rechtslage sei im Lichte des Haftgrundes der Kollusionsgefahr (Art. 221 Abs. 1 lit. b StPO) "widersprüchlich und geradezu absurd". In Fällen mit Mitbeschuldigten sei es
"vor allem
die Gefahr der Beeinflussung, der
Absprache und der Anpassung von
Aussagen,
mit der welcher die Kollusionsgefahr
regelmässig begründet" werde. Wenn sich der Beschuldigte wegen Kollusionsgefahr in Haft befinde, aber trotzdem an Beweiserhebungen teilnehmen dürfe, könne dem Haftgrund "nur noch ungenügend
Rechnung getragen" werden. Dies sei "zweifelsohne widersprüchlich und grotesk".
Diesen Ausführungen ist zu widersprechen. Sie fussen auf einer Fehlinterpretation des Haftgrundes der Kollusionsgefahr. Falsch ist namentlich die Behauptung, die Gefahr einer prozesstaktischen "Anpassung von Aussagen" begründe bereits
einen Haftgrund
im Sinne der StPO:
Gemäss Art. 221 Abs. 1 lit. b StPO kolludiert ein Beschuldigter wenn er "Personen beeinflusst oder auf Beweismittel einwirkt, um so die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen". Damit ist insbesondere
die Beeinflussung von Zeugen oder Mitbeschuldigten gemeint oder die Manipulation bzw. Unterdrückung von Beweisunterlagen. Demgegenüber stellt die blosse Gefahr, dass ein
Beschuldigter seine eigenen
Aussagen den ihm bekannten Beweisergebnisen prozesstaktisch anpassen könnte (etwa den Aussagen anderer Befragter) nicht im Entferntesten einen Haftgrund dar. (Es erschiene sogar fraglich, ob hier überhaupt von "Kollusion" im Sinne der StPO gesprochen
werden könnte; das Gesetz meint mit der Beeinflussung von "Personen" andere Personen als den Beschuldigten, und mit der "Einwirkung auf Beweismittel" primär bestehende Beweisgegenstände.) Anders zu entscheiden hiesse, dass
praktisch jeder
Beschuldigte ohne weiteres
inhaftiert werden könnte, da grundsätzlich immer die Gefahr einer Anpassung an Beweiserhebungen (darunter Beweisaussagen Dritter) bestünde. Aber selbst in jenen Fällen, bei denen eine Beeinflussung von
Aussagen Dritter droht, liegt nach ständiger Praxis des Bundesgerichtes (und einhelliger Lehre) nicht automatisch ein Haftgrund vor. Zu verlangen sind
vielmehr konkrete
Indizien für eine erfolgte oder drohende Einflussnahme (vgl. zu dieser ständigen Praxis des Bundesgerichtes z.B. BSK StPO-Forster, Art. 221 N. 6-7).
Bei Art. 147 Abs. 1 StPO steht denn auch gar nicht die Gefahr im Vordergrund, dass der Beschuldigte die Aussagen von Mitbeschuldigten oder Zeugen (im Sinne von Kollusion) beeinflussen könnte: Würde der Beschuldigte
dies anlässlich seiner Teilnahme an Einvernahmen versuchen, hätte der die Einvernahme leitende Staatsanwalt (oder die Staatsanwältin) zunächst die Möglichkeit (und die Verpflichtung), Kollusionsversuche des Beschuldigten schon
im Ansatz aktiv zu
unterbinden. Falls der Beschuldigte sein Teilnahmerecht dennoch für Kollusionsversuche (weiter) missbrauchen würde, könnte die Staatsanwaltschaft ihn nötigenfalls von der Einvernahme ausschliessen (Art. 108 Abs. 1 lit. a StPO). Bei Art. 147 Abs. 1 StPO besteht die
einschlägige Gefahr nicht darin, dass der Beschuldigte andere Aussagen und Beweismittel verfälscht oder beeinflusst, sondern dass er seine eigenen künftigen Aussagen an das Aussageverhalten der Mitbeschuldigten prozesstaktisch anpasst. Hier überhaupt von "Kollusion" zu reden, erscheint schon
strafprozess-dogmatisch fragwürdig. Krass falsch wäre jedenfalls die Gleichsetzung des Haftgrundes der Kollusionsgefahr mit der Problematik der prozesstaktischen Anpassung von Beweisaussagen.
Nach der Regelung der StPO führt die blosse Gefahr, dass ein Beschuldigter seine Aussagen denjenigen von Mitbeschuldigten anpassen könnte, weder zu einem Haftgrund, noch zu einem Ausschluss bei den Einvernahmen. Umgekehrt führt Untersuchungshaft wegen Kollusionsgefahr auch nicht automatisch zu einem Ausschluss des Inhaftierten von jeglichen Beweiserhebungen: Dass
ein Beschuldigter in einem ganz anderen
Zusammenhang wegen Kollusionsgefahr in Haft ist (z.B. wegen telefonischer Zeugenbeeinflussung oder Unterdrückung von Beweisurkunden), rechtfertigt es nicht, ihm das Parteirecht auf
Teilnahme an der Einvernahme von Mitbeschuldigten zu verweigern. Vorbehältlich einer rechtsmissbräuchlichen Inanspruchnahme stehen die Verteidigungsrechte gerade auch den inhaftierten Beschuldigten zu.
Im Ergebnis erscheint mir nicht das Teilnahmerecht von Mitbeschuldigten gemäss Art. 147 Abs. 1 StPO "widersprüchlich und absurd", sondern, wenn schon, eine kurzschlüssige Vermischung des
Haftgrundes der Kollusionsgefahr mit der Problematik der prozesstaktischen Anpassung von Beweisaussagen.
Prof. Dr. Marc Forster/19. Oktober 2016
Mi
06
Apr
2016
In Medienberichten zu den "Panama Papers" wird behauptet, Schweizer Anwälte und Treuhänder dürften selbst Personen, gegen die international strafrechtlich ermittelt
wird, "helfen, schmutzige Vermögen zu
verschieben und sich hinter Offshore-Vehikeln zu verstecken" (Tages-Anzeiger und Der Bund vom 6. April 2016, als "Fazit" je auf S. 3, s.a. online). Dies, weil nur Finanzintermediäre dem GwG
unterstellt seien. Dieser Ansicht ist aus strafrechtlicher Warte zu widersprechen:
Zwar stimmt es, dass nur Finanzintermediäre (wie z.B. Banken) dem GwG direkt unterstellt sind. Auch der Straftatbestand der mangelnden Sorgfalt (oder der Verletzung von Meldepflichten) bei
Finanzgeschäften (Art. 305ter StGB) ist nur auf Finanz-intermediäre anwendbar (zur Bankencompliance s. Tamara Taube, Entstehung, Bedeutung und Umfang der Sorgfalts-pflichten der
Schweizer Banken bei der Geldwäscherei-prävention im Bankenalltag, Diss. SG 2013, pdf).
Nicht einfach übersehen werden darf dabei zunächst jedoch Art. 305bis Ziff. 1 i.V.m. Art. 25 StGB: Der Gehilfenschaft zu Geldwäscherei macht sich strafbar, wer
einen kausalen Tatbeitrag zu
Handlungen liefert, die geeignet sind, die Ermittlung der Herkunft, die Auffindung oder die Einziehung
von Vermögenswerten zu vereiteln, die, wie er weiss oder annehmen muss, aus einem Verbrechen oder aus einem qualifizierten Steuervergehen herrühren. Anwälte oder Treuhänder, die entsprechende logistische Vorkehren treffen, z.B. helfen, Tarnfirmen zu gründen, Strohmänner einzusetzen, Konten zu eröffnen oder
hohe Bargeldsummen zu transferieren usw., obwohl sie konkrete Hinweise auf einen entsprechenden deliktischen Hintergrund haben, können sich grundsätzlich strafbar machen. Die Bestechung von Amtsträgern zum Beispiel ist in der Schweiz schon seit langem
ein Verbrechen
(Art. 322ter-322octies StGB).
Auch qualifizierte
Steuer-vergehen (Art. 305bis Ziff. 1 und 1bis StGB) gelten jedenfalls seit dem 1. Januar 2016 als Vortaten der Geldwäscherei.
Falsch wäre sodann die Auffassung,
Anwälte könnten sich im Bereich ihrer sogenannten akzessorischen Geschäftstätigkeit (z.B. Verwaltungsratsmandate, Vermögensverwaltung, Inkassomandate usw.) auf
ihr Berufsgeheimnis (Anwaltsgeheimnis) berufen. Es gibt Fälle, bei denen Anwälte selbst als Finanzintermediäre akzessorisch tätig sind. Diese sind gesetzlich
verpflichtet, Geldwäschereiverdachtsfälle zu melden (Art. 9 Abs. 1 GwG) und sich einer Selbstregulierungsorganisation anzuschliessen (Art. 14
Abs. 3 GwG; BGE 132 II 103 E. 2.2 S. 105 f.). Auch fallen sie unter die Strafdrohung nach Art. 305ter StGB. Dies betrifft Anwälte, welche berufsmässig fremde Vermögenswerte annehmen oder aufbewahren
oder helfen, sie anzulegen oder zu übertragen (Art. 2 Abs. 3 GwG).
Geldwäschereiverdacht (i.S.v. Art. 305bis Ziff. 1 StGB und Art. 27 Ziff.
1 lit. c und e GwUe) kann insbesondere vorliegen, wenn eine auffällige Verknüpfung geldwäschetypischer Vorkehren besteht. Dies ist etwa der Fall, wenn hohe Geldbeträge über komplexe Kontenbewegungen unter zahlreichen involvierten Personen und Firmen in verschiedenen Ländern, darunter typischerweise sogenannte "Offshore"-Gesellschaften, verschoben wurden und für diese komplizierten
Transaktionen kein wirtschaftlicher Grund
ersichtlich ist. Auch ungewöhnliche Transaktionen mit hohen Bargeldbeträgen sind verdächtig oder Finanztransaktionen im konkreten Umfeld von massiven Korruptionsfällen (vgl. dazu M. Forster, in: Basler Kommentar Internationales Strafrecht, 2015, Art. 27 GwUe N. 9; derselbe, Internationale Rechtshilfe bei Geldwäschereiverdacht, ZStrR 2006, S. 274–294).
Prof. Dr. Marc Forster / 6. April 2016
Di
17
Nov
2015
A) Falsch ist zunächst die Annahme, Aufrufe zu terroristischer Gewalt auf Facebook und ähnlichen sozialen Netzwerken seien nicht strafbar: Anders als die öffentliche Aufforderung zu Verbrechen oder Gewalt
(Art. 259 StGB) oder (bei den meisten Tatbestandsvarianten) der Rassismustatbestand (Art. 261 StGB) setzt der Straftatbestand der Unterstützung einer kriminellen Organisation (Art. 260ter Ziff. 1
Abs. 2 StGB) keine "öffentlichen" Aeusserungen voraus.
Analoges gilt für das am 1.1.2015 (dringlich) in Kraft gesetzte
Bundesgesetz über das Verbot der Gruppierungen "Al-Qaïda" und "Islamischer Staat" sowie verwandter Organisationen (SR 122). Danach wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder
Geldstrafe bestraft, wer sich auf dem Gebiet der Schweiz an einer der genannten Gruppierungen oder Organisationen beteiligt, sie personell oder materiell unterstützt, für sie oder ihre Ziele
Propagandaaktionen organisiert, für sie anwirbt oder ihre Aktivitäten auf andere Weise fördert.
B) Unzutreffend ist auch die Ansicht, die Urheber strafbarer anonymer Aeusserungen auf privaten oder öffentlichen Internetseiten könnten durch die Strafverfolgungsbehörden leicht identifiziert werden: Wenn z.B. Urheber von Facebook-Postings oder von
Aeusserungen auf öffentlich zugänglichen Webseiten mit den Inhabern der Web-Accounts identisch sind oder wenn die Urheber der Posts sich nicht anonym äussern, können die Strafverfolgungsbehörden die Verdächtigen regelmässig identifizieren. Bei
allen anonymen Aeusserungen auf Netzwerken hingegen, deren Daten (IP-Histories usw.) in den USA gespeichert werden (z.B. Facebook, Google usw.),
ist es den Schweizer (und anderen
nichtamerikanischen) Strafverfolgungsbehörden aus technischen Gründen nicht möglich, die Urheber zu eruieren. Dafür braucht es mühsame Rechtshilfegesuche an die USA, welche die Strafverfolgung sehr erschweren (vgl. dazu meinen
unten angefügten Aufsatz in der Festschrift zum Schweizerischen Juristentag 2015).
C) Naiv ist schliesslich auch der
Glaube, die Geheimdienste (oder Strafverfolgungsbehörden) hätten die Kommunikation der terroristischen Attentäter von Paris leicht überwachen können: Verschlüsselte mobile
Internetkommunikation (z.B. Internettelefonie, Whatsapp, Skype) kann derzeit nur mittels "Staatstrojanern" bzw. Spezialsoftware (GovWare) überwacht werden, die zudem auf die Kommunikationsgeräte
von verdächtigen Personen (zuerst) eingeschleust werden müssen. Dies ist bei hunderten bzw. tausenden von verdächtigen Personen im präventiven Vorfeld von
Attentaten praktisch gar nicht
möglich; zudem
wäre es mit enormen Kosten
verbunden.
Daraus erklärt sich auch, weshalb nicht einmal der französische Geheimdienst in der Lage war, die Pariser Attentate und die damit verbundene Kommunikation der Täter und Komplizen (sehr
wahrscheinlich über verschlüsseltes mobiles Internet) zu überwachen. Die Gegner der in der Schweiz hängigen Gesetzesrevision zu den Ueberwachungsmassnahmen scheinen diese Zusammenhänge entweder
noch nicht zu kennen oder nicht wahrhaben zu wollen.
Prof. Dr. Marc Forster / 17.
November 2015
Nachtrag vom 19.11.15: Gemäss den Medienmitteilungen der
Pariser Staatsanwaltschaft haben die Attentäter noch bis unmittelbar vor den Anschlägen vom 13.11.15 miteinander über Mobiltelefone kommuniziert. Aufgrund der
nachträglich ermittelten GPS-Daten bzw. der Antennennstandorte eines in der Nähe des Bataclan sichergestellten Handys konnte die Polizei die konspirative Wohnung in Saint-Denis ausfindig machen,
welche am 18.11.15 von der Polizei gestürmt wurde (mit zwei getöteten und acht verhafteten Terrorverdächtigen).
Do
15
Okt
2015
Es ist einfach nur traurig. Da hetzt ein politischer Extremist in der Schweiz aus rassistischen Motiven systematisch gegen die Armenier, indem er
den historisch belegten Genozid leugnet bzw. rechtfertigt und das Gedenken der Opfer und ihrer Nachkommen lächerlich zu machen versucht. Und der Europäische Gerichtshof findet, ein Staat wie die
Schweiz, der solches Verhalten unter Strafe stellt und angemessen mit einer Geldstrafe büsst, verletze die Menschenrechte. Das Tolerieren von rassistischer Hetze gehöre eben -- so der EGMR in
seinem heutigen Entscheid in zweiter Instanz -- zu einem "demokratischen Rechtsstaat". Dies unterscheide ihn von "Diktaturen" und "totalitären Systemen". Der EGMR behauptet, es gebe "keinen
Konsens" über den Völkermord an den Armeniern. Damit führt er die Öffentlichkeit in die Irre: Er unterschlägt, dass es bloss an einem politischen Konsens (leider) bisher fehlt.
Das ist aber juristisch völlig unerheblich. In der Schweiz werden keine Urteile aufgrund politischer Anschauungen gefällt, sondern aufgrund von wissenschaftlichen Fakten. Unter ernstzunehmenden
Historikern (dazu gehören weder Herr Perinçek noch andere dubiose Hobby- bzw. Auftrags-Historiker) sind die wesentlichen Fakten zum Armenier-Genozid nicht umstritten. Nur wenig
tröstlich ist, dass das Urteil selbst unter den Richtern der Grossen Kammer des EGMR sehr umstritten war: Es fiel mit 10 zu 7 Stimmen zugunsten des
Genozidleugners aus.
Das Zeichen, das der EGMR offenbar aus politischer Rücksichtnahme setzt, ist fatal. Rassistische Hetze gehört nicht unter den Schutz der Menschenrechte gestellt, sondern strafrechtlich verfolgt.
Dass die in den Augen der EGMR-Richtermehrheit offenbar "totalitäre" und "meinungsäusserungsfeindliche" Schweiz dies tut, erfüllt mich als Staatsbürger und Jurist mit Stolz. Erfreulicherweise
beschreitet die Schweiz diesen Weg nicht ganz alleine: Andorra, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Malta, Mazedonien, die Slowakei, Slowenien, Ungarn, Zypern und die Schweiz stellen
nicht nur das Leugnen des Holocaust unter Strafe, sondern das rassistisch motivierte öffentliche Leugnen sämtlicher Genozide. -- Könnte es sein, das kleinere Staaten in diesem
Punkt ein besonders sensibles kriminalpolitisches Gespür unter Beweis stellen?
Marc Forster, 15.10.2015
Mi
27
Mai
2015
In einem Interview vom 27.05.2015 mit dem Tagesanzeiger.ch/Newsnet zu den Verhaftungen von sieben hochrangigen FIFA-Funktionären und zur
Aktenbeschlagnahmung am FIFA-Sitz in Zürich durch die Bundesanwaltschaft (BA) äussert Prof. Mark Pieth sein Erstaunen darüber, dass sich die Schweizer Justiz von
den USA habe "einspannen" lassen. Es handle sich um eine "Kombination aus der schweizerischen und der US-Justiz". Die "Initiative" sei dabei "von den USA" ausgegangen. -- Dieser
Einschätzung ist teilweise zu widersprechen:
Die BA ist nicht erst auf Initiative der USA (und schon gar nicht aufgrund des amerikanischen Festnahmeersuchens gegen FIFA-Funktionäre) aktiv geworden. Die USA verfolgen (laut Medienmitteilung ihres Justizministeriums) primär jahrzehntelange Bestechung von FIFA-Funktionären bei der Vergabe von Medien-, Vermarktungs- und Sponsoringrechten. Das Auslieferungsersuchen (präziser: das Festnahmegesuch) an die Schweiz betrifft diese Korruptionsvorwürfe der US-Justiz. Separat dazu hatte die BA aber bereits eine eigene (Schweizer) Strafuntersuchung eingeleitet wegen mutmasslichen Straftaten im Zusammenhang mit der Vergabe der WM-Turniere 2018 an Russland und 2022 an Qatar. Die FIFA hat diesbezüglich am 18. November 2014 selber Strafanzeige bei der BA eingereicht. Nach Medienmitteilungen der BA gehe es hier primär um ungetreue Geschäftsbesorgung zum Nachteil der FIFA. Zutreffend ist, dass die US-Strafverfolgungsbehörden und die BA ihre separaten Strafuntersuchungen koordinieren und sich (im Rahmen der völkerrechtlichen Regelungen) gegenseitig Rechtshilfe gewähren (insbes. Auslieferungen, Kontensperren, Herausgabe von Geschäfts- und Bankunterlagen).
Das neue Korruptionsstrafrecht (mit der vorgeschlagenen Neuregelung der Privatkorruption als
Offizialdelikt des StGB), welches ab nächster Woche im Parlament beraten wird, dürfte für die genannten Untersuchungen in den USA und der Schweiz keine
Auswirkungen mehr haben: Für die Strafbarkeit sind die Strafnormen im Zeitpunkt der untersuchten Delikte massgeblich. Die beidseitige Strafbarkeit (als
Voraussetzung für eine allfällige Auslieferung oder Aktenherausgabe an die USA) bestimmt sich grundsätzlich nach den geltenden Strafnormen im Zeitpunkt des Rechtshilfeersuchens.
Das neue Recht wird insofern zu spät kommen.
Prof. Dr. Marc Forster, 27. Mai 2015 ©
Nachtrag zum neuen Privatkorruptionsstrafrecht:
In seinem Urteil 1C_143/2016 vom 2. Mai 2016 (BGE-Publikation) hat das Bundesgericht bestätigt, dass bei Privatbestechung das Auslieferungserfordernis der
beidseitigen Strafbarkeit gestützt auf die (damals noch anwendbaren) Bestimmungen des
UWG (Art. 4a) grundsätzlich erfüllt war. Das
Strafantrags-Erfordernis des UWG liess die beidseitige Strafbarkeit nicht dahinfallen. Knapp zwei Monate nach diesem Urteil, nämlich am 1. Juli 2016, sind die
neuen StGB-Bestimmungen über Privatkorruption in Kraft getreten (Art. 322octies und novies StGB). Diese sind nun zwar als Offizialdelikte ausgestaltet, aber
lediglich als Vergehen, sodass Geldwäscherei an Privatkorruptionsgeld weiterhin nicht strafbar ist. Wenn die Bestechungshandlungen (wie meist
üblich) nicht in der Schweiz erfolgen, besteht auch praktisch keine Strafverfolgungszuständigkeit der schweizerischen Justiz. Ein weiteres schwer verständliches
Schlupfloch findet sich auch noch in Art. 322decies Abs. 1 lit. a StGB: Wenn die FIFA (oder eine andere "gefährdete" Organisation oder Gesellschaft) die
Privatbestechung seiner Mitarbeiter und Funktionäre "vertraglich genehmigt", ist diese straflos...
Prof. Dr. Marc Forster, 5. Oktober 2016 ©
Mo
05
Jan
2015
In letzter Zeit häufen sich Stellungnahmen der Bundesan-waltschaft (BA), die auf eine juristische Fehleinschätzung von Art. 260ter StGB (Strafbarkeit
der Unterstützung bzw. Beteiligung an einer kriminellen Organisation) schliessen lassen. Schon an einer Medienkonferenz von Ende August 2014 liess der Bundesanwalt verlauten,
die «blosse Mitgliedschaft» bei einer mafiösen Organisation sei in der
Schweiz «nicht strafbar», weshalb
bei italienischen Rechtshilfeersuchen an die
Schweiz Probleme (mit dem Rechtshilfeerfordernis der beidseitigen Strafbarkeit) entstünden. Laut
Medienberichten vom 4. und 5. Januar 2015 («NZZ am Sonntag») doppelte die BA kürzlich im gleichen Sinne nach: Laufende Untersuchungs- verfahren wegen «blosser Mitgliedschaft» würden künftig von
der BA automatisch eingestellt. Ein Strafverfahren werde nur noch durchgeführt, «wenn Hinweise auf konkrete Unterstützungshandlungen für eine mafiöse Organisation» vorliegen («Tages-Anzeiger» vom 5. Januar 2015, S. 3). Laut Bundesanwalt Michael Lauber reiche «die reine Mitgliedschaft bei einer kriminellen Organisation für eine Verurteilung nicht aus».
Darin sei sich sich «die herrschende Lehre einig». Es brauche den «Nachweis, dass die Beschuldigten die Organisation konkret in ihrer
kriminellen Aktivität unterstützt haben» (http://www.nzz.ch/nzzas/nzz-am-sonntag/wir-machen-keine-abenteuer-mehr-1.18454252).
Dieser mehrfach in den Medien verbreitete Standpunkt
der BA erscheint juristisch und kriminalpolitisch sehr bedenklich und lässt auf eine grundsätzliche Fehleinschätzung der Rechtslage schliessen.
Die Beteiligung an einer mafiösen Organisation (Art.
260ter Ziff. 1 Abs. 1 StGB) ist keineswegs eine Art «geringere» Form der organisierten Kriminalität. Eher trifft das Gegenteil
zu: Ein Mitglied einer kriminellen Organisation zu sein, ist mindestens so strafwürdig, wie die (blosse) punktuelle Unterstützung (Art. 260ter
Ziff. 1 Abs. 2 StGB) durch einen
aussenstehenden Helfer. Beide Varianten werden denn auch vom Gesetz unter den gleichen
Strafrahmen gestellt. Für
überführte Mafiamitglieder dürfte das konkrete Strafmass in der Regel sogar höher ausfallen als für
(jedenfalls nicht sehr wichtige) blosse Unterstützer. Mir ist kein Strafrechtsexperte bekannt, der nur die konkrete Unterstützung der Mafia, nicht aber die «blosse» Mitgliedschaft als strafbar
ansehen würde. Von einer entsprechenden «herrschenden Lehre» (im Sinne der Ausführungen der BA) kann noch viel weniger die Rede sein.
Wie den neusten Medienberichten indirekt zu entnehmen ist, könnte die irreführende Aussage der BA eine bewusste Provokation sein,
um politische Unterstützung für eine Verschärfung der StPO
zu generieren: Die vorgeschlagenen schärferen Instrumente (Verweigerung der
Verteidigung der ersten Stunde, Verweigerung einer nachträglichen Mitteilung der Telefonüberwachung usw., s.
«Tages-Anzeiger» vom 5. Januar 2015, S. 3)
werfen rechtsstaatliche Bedenken auf und dürften auf politischen Widerstand stossen. «Absurd» (so die Einschätzung von Ex-Staatsanwalt Paolo Bernasconi) sind die
aktuellen Regelungen keineswegs, auch nicht in Fällen mit Mafiabezug und auch nicht vor dem durchaus zutreffenden Hintergrund, dass der rechtsgenügliche
(beweisrechtliche) Nachweis einer Mafia-Mitgliedschaft oft schwierig
ist. Wenig sachgerecht erscheint in dem Zusammenhang auch, dass die BA und Teile der
Medien Einstellungen von Untersuchungen (z.B. mangels ausreichenden Beweisen) offenbar als peinliche «Niederlage» missverstehen, anstatt
sie als eine mögliche gesetzliche Erledigungsvariante von sorgfältigen rechtsstaat- lichen Untersuchungen zu erkennen. Die Mentalität, in heiklen Fällen lieber gar nicht erst anzuklagen,
als einen Freispruch zu «riskieren», ist vom US-amerikanischen kompetitiven Rechtsdenken
und von sachfremdem medialem Druck auf die
BA geprägt und dem schweizerischen Strafverfahrensrecht wesensfremd.
Prof. Dr. Marc Forster, 5. Januar 2015
Mi
22
Jan
2014
Nach Medienberichten, die auf der Auswertung von «Offshore-Leaks»-Daten durch das International Consortium of Investigative
Journalists (ICIJ) mit Sitz in
Washington gründen, waren Schweizer Grossbanken in den Jahren 2005/2006 in Geschäfte mit engen Fami- lienangehörigen des damaligen chinesischen Premierministers invol- viert. Dabei handelt es
sich um sogenannte «Politically Exposed Per- sons» (PEPs), für die strenge bankenaufsichtsrechtliche und straf- rechtliche Sorgfaltsregeln gelten.
Die für die Schweiz geltende aktuelle Definition von PEP findet sich in Art. 2 lit. a der (2010 erlassenen) Geldwäschereiverordnung der
FINMA (GwV, SR 955.033.0). PEPs sind Personen
mit prominenten
öffent- lichen Funktionen im Ausland, wie etwa Staats- und Regierungs- chefs oder hohe Politiker und Amtsträger, sowie
auch Unternehmen und dritte Personen, etwa
Familienangehörige oder wirtschaftlich Be- vollmächtigte (bzw. enge Geschäftspartner), die solchen Personen er- kennbar nahe stehen. PEP-Geschäftsbeziehungen
sind für die Banken mit erhöhten Haftungs- und Reputationsrisiken verbunden. Dies besonders dann, wenn es sich um
Angehörige von Machthabern aus Staaten mit hohen Korruptionsraten (oder massiven rechtsstaat- lichen Defiziten) handelt.
Eine Verpflichtung der Banken zu entsprechenden Abklärungen und Vorsichtsmassnahmen bei der
Aufnahme und Pflege von PEP-Ge-schäftsbeziehungen besteht nicht erst seit 2010. Schon 1998 (nach Bekanntwerden der grotesken Korruptionsfälle
Mobutu und Abacha) entschied die damalige Eidgenössische Bankenkommission, die
Sorgfaltsvorschriften von Geschäftsbeziehungen mit PEPs zu vertiefen. Ende 2001 verabschiedete der Basler Ausschuss (Basel Committee on Banking Supervision of the Bank for International Settlements) Mindeststandards zur Kundenidentifizierung. Die Schweiz (vertreten durch FINMA und Nationalbank) war an der Ausarbeitung dieser Standards
massgeblich beteiligt und initiierte beispielsweise die Regel, dass Geschäftsbeziehungen mit PEPs nur mit Zustimmung des obersten
Geschäftsführungsorgans eingegangen werden dürfen. 2002 wurden die einschlägigen überarbeiteten Wolfsberg-Prinzipien (unter
Mitwirkung u.a. von UBS und CS) verabschiedet. 2003 übernahm die Schweiz die 40 Empfehlungen der FATF zur Geldwäscherei-
prävention, darunter auch die Empfehlung Nr. 6 betreffend PEPs (Erkennung von PEP-Kundenbeziehungen, Bewilligung durch die
oberste Geschäftsführung, zusätzliche Abklärungen in Bezug auf die Herkunft der Vermögenswerte sowie
fortlaufende Überwachung der Geschäftsbeziehungen zu PEPs). Künftig werden der
PEP-Begriff und die betreffenden Sorgfaltspflichten direkt im Geldwäschereigesetz (GwG, SR
955.0) definiert und geregelt sein (vgl. Botschaft des Bundesrates zur Umsetzung der 2012 revidierten Empfehlungen der FATF, BBl 2014, 605 ff., 620
ff.).
Bei den in den Medien dargelegten Geschäftsverbindungen von Grossbanken mit nahen Angehörigen des damaligen chinesischen Premierministers waren besonders strenge
Compliance-Regeln zu beachten. Dies umso mehr, als der Premierminister (zwischen 2003 und
2013) aktiv im
Amt war. Solche Geschäftsverbindungen fallen Compliance-rechtlich in die höchste Risikoklasse. Im Fall «China-Leaks» stellt sich primär die Frage, ob die Banken die detaillierten Sorgfaltsvorschriften eingehalten haben, welche der Prüfung (und periodischen Vergewisserung) dienen, dass die angelegten Vermö- genswerte und betreuten
Geschäfte legaler
Herkunft und Ausrichtung sind. Die Prüfung, ob dabei aufsichtsrechtliche Vorschriften verletzt wurden, obliegt der
FINMA.
Geschäftsbeziehungen mit PEPs gelten in jedem Fall
als Kundenkon- takte mit erhöhtem Risiko (Art. 12 Abs. 3 GwV). Abzuklären hat die Bank namentlich, ob ihre Vertragspartei an den eingebrachten Vermö- genswerten
wirtschaftlich berechtigt ist, die Herkunft der einge- brachten Vermögenswerte, der Verwendungzweck abgezogener
Vermögenswerte, die Hintergründe und die Plausibilität grösserer Zahlungseingänge, der Ursprung des
Vermögens der Vertragspartei und
der wirtschaftlich berechtigten Person, die berufliche oder geschäftliche Tätigkeit
der Vertragspartei und der wirtschaftlich
berechtigten Person, ob es sich bei der Vertragspartei oder der wirtschaftlich berechtigten Person um eine PEP handelt, und bei juristischen Personen, wer diese faktisch
beherrscht (Art. 14 Abs. 2 GwV). Das oberste
Geschäftsführungsorgan der Bank (oder mindestens eines seiner Mitglieder) entscheidet
über die Aufnahme von Geschäftsbeziehungen mit PEPs und alljährlich
über deren Weiterführung (Art. 18 Abs. 1 lit. a GwV).
Wenn die Verantwortlichen es unterlassen, die Identität des wirtschaftlich Berechtigten mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt
abzuklären, machen sie sich (nach Art. 305ter Abs.
1 StGB) strafbar. Die Sorgfaltsmassstäbe werden in Art. 3-8 des Geldwä- schereigesetzes sowie in der GwV
konkretisiert (insbes. betreffend PEPs). Falls sich aufgrund der gebotenen Abklärungen ein Verdacht auf Geldwäscherei ergibt, indem die eingebrachten Vermögenswerte z.B. aus Korruption oder ungetreuer Amtsführung stammen könnten, ist die Bank verpflichtet, eine Verdachtsmeldung an die Meldestelle des Bundes zu erstatten (Art. 9 GwG) und die betroffenen Vermögenswerte zu sperren (Art. 10 GwG). Bei Widerhandlung gegen diese Verpflichtungen droht den Verantwortlichen ein Strafverfahren wegen Geldwäscherei (Art. 305bis StGB), mangelnder Sorgfalt bei Finanzgeschäften (Art. 305ter Abs. 1 StGB), Verletzung der Meldepflicht (Art. 37 GwG) und anderen
Delikten.
© 22.01.2014 / Prof. Dr. Marc Forster
Siehe zum Fall «China-Leaks» auch Handelszeitung
online vom 22.1.2014.
Mi
18
Dez
2013
Der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat mit seinen Urteilen schon mehr als einmal Kopfschütteln und
Ratlosigkeit bei Schweizer Juristen ausgelöst. Mit seinem Entscheid in Sachen Dogu Perincek ist die
Qualität und Überzeugungskraft der EGMR-Rechtsprechung an einem bisher unerreichten Tiefpunkt angelangt. Das Urteil wird Rassisten, Geschichts-Revisionisten und politische Hetzer hoch erfreuen.
Es wird sie ermuntern, historisch belegte Völkermorde an Minderheiten und Ethnien öffentlich, systematisch und auf diffamierende Weise zu leugnen oder zu rechtfertigen. Bemerkenswert ist auch,
dass ausgerechnet jene politischen Kreise in der Schweiz das Urteil loben, welche dem Völkerrecht sonst keinen besonderen Stellenwert beimessen wollen und «fremde Richter», insbesondere
europäische, ablehnen.
Die Rechtsgrundlage:
Im Jahre 1994 bestätigte die Schweizer Stimmbevölkerung mit einem Anteil von fast 55% die
Strafnorm gegen Rassismus. Damit schuf die Schweiz die Grundlage für eine Ratifizierung des Anti-Rassendiskriminierungsabkommens der UNO (vgl. z.B.
Marc Forster,
Die Korrektur des strafrechtlichen Rechtsgüter- und Sanktionenkataloges im gesellschaftlichen Wandel, Habil. 1995, ZSR 1995, 1-178, S. 157-161). Die Gegner der
Referendumsvorlage hatten unter anderem befürchtet, negative Stammtisch-Äusserungen gegen Ausländer könnten strafrechtlich verfolgt werden. Die Meinungsäusserungsfreiheit werde damit untergraben.
Strafbar macht sich unter anderem, wer öffentlich eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion herabsetzt oder aus einem dieser Gründe Völkermord oder andere Verbrechen gegen die
Menschlichkeit leugnet, gröblich verharmlost oder zu rechtfertigen sucht (Art. 261bis Abs. 4 StGB). Dass in den Jahren 1915 und
1916 zwischen (mindestens) 300'000 und 1,5 Millionen armenische Kinder, Frauen und Männer einer systematischen ethnischen Vertreibung sowie Massentötungen durch Verantwortliche des Osmanischen
Reichs zum Opfer gefallen sind, wird praktisch von keinem ernstzunehmenden Historiker in Abrede gestellt. Am 16. Dezember 2003 anerkannte der Schweizer Nationalrat offiziell den Völkermord an den
Armeniern. Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden im Übrigen in Art. 264 und 264a StGB näher definiert.
Der Fall Perincek:
Wie Medienberichten entnommen werden kann, handelt es sich bei Dogu Perincek um einen
extremistischen türkischen Nationalisten. Er wurde im August 2013 (u.a. wegen Verschwörung und Putschplänen gegen die
demokratisch gewählte türkische Regierung) von einem türkischen Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt und befindet sich heute im Gefängnis. Offenbar als Reaktion auf den Entscheid des
Nationalrates vom 16. Dezember 2003 liess Perincek im Mai, Juli und September 2005 (in Lausanne,
Opfikon und Köniz) öffentliche Veranstaltungen durchführen, an denen er wiederholt den Genozid an den Armeniern in
Abrede stellte. Zwar räumte er ein, dass Massaker und
Deportationen stattgefunden hätten. Er rechtfertigte diese
aber als «legitime Kriegshandlungen» und mit der Behauptung, die Armenier hätten ihrerseits analoge
Massaker und Deportationen an Türken begangen. Im Jahr 2007 verurteilte die Waadtländer Justiz Perincek wegen Rassen- diskriminierung
zu einer bedingten Geldstrafe von Fr. 9'000.--, einer Busse von Fr. 3'000.-- und einer Genugtuungsleistung von Fr.
1'000.-- zugunsten eines gemeinnützigen Vereins (Association Suisse-Arménie). Das Schweizerische Bundes- gericht bestätigte die Verurteilung mit Urteil vom 12. Dezember 2007 (Urteil 6B_398/2007 =
Pra 2008 Nr. 134 S. 838 ff.). Der EGMR verurteilte die Schweiz deswegen am 17. Dezember 2013 wegen Verletzung der Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 10
EMRK).
Die Argumente des EGMR:
Der EGMR argumentiert, Perincek habe die Massaker und Deportationen nicht geleugnet, sondern zu rechtfertigen versucht. Seine Ausführungen enthielten auch historische, juristische und politische Elemente.
Der EGMR übersieht zunächst, dass das Schweizer Strafrecht auch das (haltlose und rassistisch motivierte) Rechtfertigen
von Völkermord ausdrücklich unter Strafe stellt. Sodann besteht für die Behauptung, die Armenier hätten 1915-1916 ihrerseits Hundertausende Türken deportiert und getötet,
nicht der geringste Nachweis, geschweige denn ein wissenschaftlicher Konsens unter Historikern. Mit seinen Behauptungen versuchte Perincek, den
Opfern
des Genozids auf diffamierende Weise die Schuld an den von ihnen erlittenen Verbrechen zuzuschieben. Dies ist eine für extreme Rassisten und Revisionisten
geradezu typische Argumentationsstrategie. Dass das Schweizer Strafrecht auch das (haltlose und diffamierende)
Rechtfertigen von Völkermord unter Strafe stellt, ist ausdrücklich zu begrüssen. Der Entscheid des EGMR scheint dadurch geprägt, dass in einigen Ländern, insbesondere in skandinavischen,
osteuropäischen und anglosächsischen, revisionistische und rassistische Hetzereien nicht oder nur in geringerem Ausmass strafbar sind. Dies ist aber ein
politisches
Thema und lässt die Schweizer Antirassismus-Strafnorm keineswegs als menschenrechtswidrig erscheinen.
Der EGMR findet, Perincek habe weder die Armenier herabgewürdigt, noch zu Rassenhass oder Gewalt aufgerufen oder die öffentliche Ordnung ernsthaft gefährdet. Auch hier wedelt der
Gerichtshof begriffsjuristischen Staub auf, anstatt zwischen grundrechtlichen, strafrechtlichen
und kriminal- politischen Fragestellungen zu differenzieren:
Die Einschätzung des EGMR, Perincek habe die Armenier und deren Andenken an Hunderttausende Verfolgte und Getötete nicht öffentlich herabgewürdigt, ist schon aus den oben genannten Gründen
abzulehnen. Wer die Tatsachen verdreht und Opfer zu Tätern macht,
diffamiert und verhöhnt die Opfer aufs Gröbste. Hinzu kommt, dass Perincek agitatorisch, polemisch und aggressiv aufgetreten ist. Seine öffentliche Vortragstournee in drei verschiedenen Gemeinden in der
deutschen und französischen Schweiz war offensichtlich als bewusste Provokation inszeniert. Perincek leugnete und verdrehte historische Fakten zu propagandistischen (nationalistischen) Zwecken.
Seine reisserischen Auftritte mussten auf die in der Schweiz lebenden Armenier beleidigend, diffamierend und hetzerisch wirken.
Mit dem Hinweis, er habe nicht direkt zu Rassenhass oder Gewalt aufgerufen, argumentiert der EGMR erneut am Wortlaut der Schweizer Antirassismus-Strafnorm vorbei: Eine Verurteilung wegen Leugnens
oder Rechtfertigens von Völkermord setzt nicht voraus, dass der Täter (auch noch) zu Rassenhass oder gar zu Gewalt aufhetzt. Es genügt, dass er durch seine rassistisch-nationalistisch motivierte
Diffamation der Opfer den öffentlichen Frieden ernsthaft verletzt. Wer in der Schweiz zu Gewalt gegen Menschen oder
Sachen auffordert, wird schon nach Art. 259 Abs. 2 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren (oder Geldstrafe) bestraft. Der EGMR scheint mit den Normen des StGB offenbar wenig vertraut zu
sein. Der Umstand, dass die Schweizer Rassismus-Strafnorm nicht bloss den Aufruf zu Rassenhass und Gewalt unter Strafe stellt, sondern auch das diffamierende öffentliche Leugnen und Rechtfertigen
von Völkermord, ist sehr zu begrüssen. Dass einige europäische Länder (noch) keine identische Regelung haben, lässt die Schweizer Gesetzgebung nicht als menschenrechtswidrig erscheinen.
Auch der Unterschied, den der EGMR zum (seiner Ansicht nach durchaus strafbaren) Leugnen oder Rechtfertigen des Holocaust
sehen will, überzeugt nicht. Er beruft sich darauf, dass es keinen politischen Konsens
zum Genozid an den Armeniern gebe, da ihn «nur» 20 von 190 Staaten anerkannt hätten. Eine solche Argumentation stellt die Aufgabe des Strafrichters auf den Kopf: Bei der Anwendung der
Strafbestimmungen gegen Genozid (Art. 264 StGB) und Leugnen von Genozid (Art. 261bis Abs. 4 StGB) muss der Strafrichter
beurteilen, ob nach den historisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen von einem Völkermord auszugehen ist. Die
Frage, welche Staaten und Behörden aus politischen Überlegungen die historischen Fakten offiziell anerkannt haben, kann dabei keine massgebliche Rolle spielen. In einem demokratischen Rechtsstaat muss rassistische Genozidleugnung auch dann strafbar sein können, wenn
gewisse Länder noch Mühe bekunden, Rassismus konsequent zu bekämpfen oder (sie betreffende) historische Fakten aufzuarbeiten. Und selbst politisch hat ein grosser Teil der europäischen bzw.
westlich-demokratischen Staaten den Genozid an den Armeniern offiziell anerkannt. Historisch-wissenschaftlich ist er
genauso wenig bestreitbar wie der Holocaust.
Bei seiner Auffassung, die Verurteilung Perinceks zu einer bedingten Geldstrafe und einer Busse erscheine unverhältnismässig, verkennt der EGMR wiederum das Schweizer Sanktionenrecht.
Eine Freiheitsstrafe droht Perincek nur, wenn er die Busse nicht zahlt oder rückfällig wird. Ausserdem mischt sich der EGMR appellatorisch-kleinlich in die Strafzumessung der zuständigen
Strafgerichte ein.
Schlussfolgerung - wenn der kriminalpolitische Schwanz mit dem menschenrechtlichen Hund wedelt:
Es sind keine juristischen Gründe ersichtlich, weshalb Schweizer Gerichte nicht weiterhin Art. 261bis Abs. 4 StGB anwenden und rassistische Straftäter wie Dogu Perincek konsequent bestrafen
sollten. Der demokratische Rechtsstaat hat im Gegenteil die grundrechtliche Verpflichtung,
menschenverachtenden öffentlichen Rassismus strafrechtlich zu verfolgen. Dies gilt auch für revisionistische
öffentliche Agitationen, die unter dem Deckmantel der «Meinungsäusserungsfreiheit» daherkommen und die wissenschaftlich belegten Tatsachen zu verbiegen suchen (vgl.
z.B. Forster, Habil., a.a.o., S. 161). Dass der EGMR das rassistische Leugnen von Völkermord demgegenüber unter
den Schutz der Menschenrechte stellen möchte, ist eine bedauerliche juristische Fehlleistung, die fast schon an Zynismus
grenzt. Die Analyse der Urteilsgründe lässt darauf schliessen, dass hier kriminalpolitische Überlegungen und Prägungen im Vordergrund standen und nicht echte Motive des Grundrechtsschutzes. Ein Weiterzug des Urteils an die Grosse Kammer des EGMR durch die Schweiz
drängt sich geradezu auf.
©
18.12.2013 / Prof. Dr. Marc Forster
Nachtrag: Im März 2014 hat der Bundesrat entschieden, das EGMR-Urteil an
die Grosse Kammer weiterzuziehen.
Di
02
Jul
2013
Fr
13
Jul
2012
Nachdem das Bundesgericht dazu grünes Licht gegeben hat, wurden
die Empfänger von Schmiergeldern in der Höhe
von 160 Millionen Franken an FIFA-Funktionäre durch die Staatsanwaltschaft Zug bekannt gegeben. Zwar vertritt die überwiegende Lehre (darunter Daniel Jositsch und Mark Pieth) die
Auffassung, dass die Wahrnehmung einer öffentlichen Aufgabe durch Private, selbst durch Funktionäre eines ökonomisch und politisch mächtigen privatrechtlichen Vereins wie die
FIFA, grundsätzlich nicht vom Korruptionsstrafrecht des
schweize-rischen StGB erfasst sei
(vgl. z.B. Fabian Steuri, Strafbarkeit und internationale Rechtshilfe in Korrup-tionsfällen - Unter
besonderer Berücksichtigung der Vergabe von Grossveranstaltungen durch internationale Sportverbände, Masterarbeit Universität St. Gallen, 2011, S. 37, 42). Dies ist jedoch aus kriminalpolitischen
Gründen (des Rechtsgüterschutzes und der Gleichbehandlung von strafwürdigem Verhalten) hoch problematisch und wird von diffusen wirtschafts-, standort-, sport- und fiskalpolitischen Motiven beeinflusst. Bei Olympiaden, Fussball-WM und -EM
usw. handelt es sich um politische, wirtschaftliche, soziale und sportkulturelle Grossanlässe von internationaler öffentlicher Bedeutung und Tragweite. Spitzenfunktionäre von IOC, FIFA, UEFA usw. haben enorme wirtschaftliche Macht und massiven politischen
Einfluss, vergleichbar nur mit
sehr hohen staatlichen Funktionären. Das IOC hat sogar Beobachterstatus bei der UNO. Es liesse sich durchaus die These vertreten, dass mit der Vergabe, Planung und Durchführung dieser
internationalen Grossanlässe (funktional und gesamtbetrachtend) eine staatliche Aufgabe wahrgenommen wird. Das in der Lehre eingebrachte Kriterium, für eine Anwendung des Korruptionsstrafrechts müsse zwangsläufig eine
offizielle Vergabe durch den
Staat an die privatrechtliche
Organisation erfolgen, erscheint künstlich bzw. als juristische "Hintertür". Das Kriterium lässt sich dogmatisch und mit der Teleologie des Korruptions-strafrechts jedenfalls nur schwer
begründen. Stossend sind denn auch diverse damit verbundenen Wider-sprüche, wonach die fraglichen Organisationen z.B. aus steuerrechtlicher Sicht privilegierten "öffentlichen Zwecken" dienen sollen, aus
strafrechtlicher Sicht hingegen nicht. Auch die
faktische Staatshaftung für die Veranstaltungskosten (Defizitgarantien usw.)
oder paradiplomatische
Privilegien sprechen für eine
staatliche Aufgabe. Die kriminalpolitisch unhaltbare Rechtslage ruft jedenfalls de lege ferenda nach rascher Korrektur.
Prof.
Dr. Marc Forster, 13. Juli 2012 ©
Di
16
Aug
2011
Bernard Bertossa kommentiert (in Semaine Judiciaire 2011 Bd. I S. 286 f.) den kürzlich publizierten BGE 137 IV 13: Der Haftgrund
der Wiederholungsgefahr (nach Art. 221 Abs. 1 lit. c der neuen StPO) verlangt unter ande- rem, dass der Beschuldigte "bereits
früher gleichartige Straftaten verübt" hat. Der Haftgrund der Ausführungsge- fahr (Art. 221 Abs. 2
StPO) setzt voraus, dass eine Per- son damit gedroht hat, ein schweres Verbrechen auszu- führen.
Das Bundesgericht hatte einen Fall zu beurteilen, wo dem Beschuldigten ein untersuchtes Tötungsdelikt zur Last gelegt wurde. Aufgrund des psychiatrischen Gutach- tens musste zwar befürchtet werden, dass
der Beschul- digte (weitere) schwere Delikte dieser Art verüben könn- te. Er hatte jedoch weder eine entsprechende "Drohung" geäussert, noch hatte er (über das erst zu untersuchen- de
Tötungsdelikt hinaus) bereits gleichartige Vortaten ver- übt. Aufgrund einer "systematisch-teleologischen" Ausle- gung (bzw. Gesetzeslückenfüllung) gelangte das Bundes- gericht zur Ansicht, dass
bei akut zu befürchtenden wei- teren Schwerverbrechen ausnahmsweise vom Vortaten-
erfordernis abgesehen werden könne.
Bernard
Bertossa scheint den Entscheid zu begrüssen ("on respire") und kritisiert (etwas sarkastisch) das vom Gesetzgeber eingeführte
Vortatenerfordernis bei schwe- ren Verbrechen. ("Il n'est pas certain que les victimes du troisième crime auraient apprécié!") Gleichzeitig will
Ber-
tossa die Ursache der verunglückten gesetzlichen Fas- sung ausfindig gemacht haben: - Die Zürcher... Was ihn übrigens nicht verwundere. ("Si on peine à comprendre de tels
égarements, on en connaît au moins l'origine. Sans surprise, c'est dans l'ancien code de procédure pé- nale du canton de Zurich que l'on trouve, au paragraphe 58 al. 1 ch. 3, une disposition de
même nature.")
Hier irrt Kollege Bertossa allerdings.
Vielleicht hatte er eine schon etwas ältere Ausgabe der Zürcher StPO zur Hand. Jedenfalls kannte schon die Zürcher StPO (seit 2005) bei
Schwerverbrechen den Haftgrund der soge- nannten qualifizierten
Wiederholungsgefahr (§ 58 Abs. 1 Ziff. 4), welche (im Gegensatz zur von Bertossa
zitierten einfachen Wiederholungsgefahr, § 58 Abs. 1 Ziff. 3) kei- ne
bereits verübten Vortaten voraussetzte (nachzule- sen z.B. in BGE 135 I 71 E. 2.4
S. 73). Der Eidgenössi- sche Gesetzgeber hat es versäumt, eine entsprechen- de
qualifizierte Wiederholungsgefahr als Haftgrund in der neuen StPO einzuführen. Um die stossendsten Folgen abzuwenden, sah sich das Bundesgericht zu delikaten Auslegungsmanövern gezwungen.
Soviel zur "Ehrenrettung der Zürcher". (Der Blogger ist Thurgauer.) Für den Eidgenössischen Gesetzgeber (und zwangsläufig für die Gerichte) sieht es weniger günstig aus: Leider ist
Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO noch in weiteren Teilen ziemlich verunglückt (mehr dazu in: Basler Kom- mentar StPO-Forster, Art. 221 N. 10-13, sowie im unten angefügten Aufsatz in der ZStrR/pdf,
downloadbar).
Prof. Dr. Marc Forster, 16. August 2011. ©
Zu den daraus resultierenden
politischen Vorstössen siehe aktuell (Sommer 2013) auch:
http://www.20min.ch/schweiz/news/story/Auch-gefaehrliche-Ersttaeter-sollen-kuenftig-in-U-Haft-16233974
–
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Mo
22
Apr
2024
Wichtiger Haftgrund bei Schwerverbrechen, keine klare
gesetzliche Grundlage
Die 2011 in Kraft getretene Eidgenössische StPO wies bis vor Kurzem eine gravierende Lücke bei den strafprozessualen Haftgründen auf. Vor 2011 hatten diverse kantonale Strafprozessgesetze noch den Haftgrund der sogenannten «qualifizierten» Wiederholungsgefahr vorgesehen (z.B. § 58 Abs. 1 Ziffer 4 StPO/ZH): Im Gegensatz zur einfachen Wiederholungsgefahr (Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO) konnte danach bei drohenden schweren Gewaltverbrechen vom sogenannten Vortatenerfordernis abgesehen werden. Das heisst, es musste mit der Anordnung von Untersuchungshaft nicht abgewartet werden, bis neben dem «bloss» untersuchten Schwerverbrechen bereits gerichtliche Verurteilungen zu weiteren ähnlichen Delikten vorlagen. Dieser wichtige Haftgrund geriet beim Erlass der Eidgenössischen StPO (2011) in Vergessenheit. Möglicherweise hatte der Gesetzgeber damals fälschlich angenommen, dass der spezifische neue Haftgrund der Ausführungsgefahr (Art. 221 Abs. 2 StPO) auch alle bisherigen Fälle der qualifizierten Wiederholungsgefahr abdeckte.
Notstandsrechtliche Lückenfüllung durch das Bundesgericht
und Legalitätsprinzip
In seiner anschliessenden Rechtsprechung ist das Bundesgericht zum Schluss gekommen, dass es qualifizierte Haftfälle gibt, bei denen die Anordnung von Untersuchungshaft möglich sein muss, ohne dass bereits Verurteilungen zu schweren Gewaltdelikten vorliegen. In BGE 137 IV 13 hat das Bundesgericht auf eine entsprechende gravierende Gesetzeslücke hingewiesen. Das Bundesgericht hat erwogen, dass es «vernünftigerweise nicht in der Absicht der Legislative gelegen» haben könne, bei einem mutmasslich bereits verübten und erneut akut drohenden schweren Gewalt- oder Sexualverbrechen auf die Möglichkeit einer strafprozessualen Inhaftierung zu verzichten, nur weil der Beschuldigte nicht bereits früher schon wegen ähnlichen Schwerverbrechen gerichtlich verurteilt worden war (bestätigt in BGE 143 IV 9 E. 2.3.1).
In der Fachliteratur ist seit 2012 darauf hingewiesen worden, dass eine solche Abweichung vom Gesetzeswortlaut allerdings vor dem Hintergrund des Legalitätsprinzips (Art. 36 Abs. 1 BV) rechtsstaatlich hochproblematisch war und ein entsprechender neuer Haftgrund (wieder) ausdrücklich im Gesetz zu verankern sei (vgl. Marc Forster, ZStrR 2012, S. 341 f.). Im Dezember 2012 reichten daraufhin Isabelle Moret und Daniel Jositsch entsprechende parlamentarische Vorstösse ein. Im Juni 2023 hat das Parlament schliesslich eine Teilrevision der StPO verabschiedet, darunter einiger haftrechtlicher Bestimmungen. Unter anderem verankerte es neu den Haftgrund der «qualifizierten» Wiederholungsgefahr, Art. 221 Abs. 1bis StPO, im Gesetz. In der Bundesversammlung ist diesem Haftgrund kein Widerstand erwachsen. Die Bestimmung trat am 1. Januar 2024 in Kraft (vgl. zur Reformgeschichte Marc Forster, Basler Kommentar StPO, 4. Aufl. 2023, Art. 221 N. 15b).
Neuer Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr
Die gesetzliche Regelung in Art. 221 Abs. 1bis StPO ist wie folgt ausgestaltet: Lit. a setzt eine untersuchte qualifizierte Anlasstat voraus, nämlich den dringenden Verdacht, dass die beschuldigte Person durch ein Verbrechen oder ein schweres Vergehen die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer Person schwer beeinträchtigt hat. Das Vorliegen einer einschlägigen Vortat ist demgegenüber nicht erforderlich. Lit. b verlangt aber zusätzlich, als Prognoseelement, die ernsthafte und unmittelbare Gefahr, dass die beschuldigte Person ein gleichartiges, schweres Verbrechen verüben werde.
Leitentscheid des Bundesgerichtes zum neuen Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr
In seinem zur amtlichen Publikation bestimmten ersten Grundsatzurteil zu Art. 221 Abs. 1bis StPO, 7B_155/2024 vom 5. März 2024, hat das Bundesgericht einige Fragen zur Auslegung der neuen Bestimmung geklärt und insbesondere geprüft, ob sich gegenüber der bisherigen Rechtsprechung zum Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr eine Praxisänderung aufdrängen könnte:
Grad der Rückfallgefahr, «umgekehrte Proportionalität» gegenüber der Schwere der drohenden Verbrechen
Im vom Bundesgericht beurteilten Fall eines untersuchten vorsätzlichen Tötungsdeliktes hatte die Verteidigung die These vertreten, der neue Art. 221 Abs. 1bis lit. b StPO verlange eine «sehr ungünstige» Rückfallprognose. Der Umstand, dass das psychiatrische Gutachten beim Beschuldigten eine «bloss» mittelgradige Rückfallgefahr für neue schwere Gewaltverbrechen festgestellt habe, genüge nach neuem Recht nicht mehr. Dies ergebe sich aus dem gesetzlichen Erfordernis einer «ernsthaften und unmittelbaren Gefahr» neuer Schwerverbrechen. Diesbezüglich könne an der bisherigen einschlägigen Bundesgerichtspraxis nicht mehr festgehalten werden. Das Bundesgericht ist dieser Argumentation nicht gefolgt:
Es erwog Folgendes: Art. 221 Abs. 1bis lit. b StPO verlange als Prognoseelement die ernsthafte und unmittelbare Gefahr, dass die beschuldigte Person ein gleichartiges «schweres Verbrechen» verüben werde. Zwar sei in der bisherigen einschlägigen Bundesgerichtspraxis nicht wörtlich vom Erfordernis einer «ernsthaften und unmittelbaren» Gefahr (von neuen Schwerverbrechen) die Rede gewesen. Es habe in diesem Sinne aber schon altrechtlich eine restriktive Haftpraxis bestanden, indem das Bundesgericht ausdrücklich betont habe, qualifizierte Wiederholungsgefahr komme nur in Frage, wenn das Risiko von neuen Schwerverbrechen als «untragbar hoch» erscheint (BGE 143 IV 9 E. 2.3.1; 137 IV 13 E. 3 f.). Bei der konkreten Prognosestellung werde auch weiterhin dem Umstand Rechnung zu tragen sein, dass bei qualifizierter Wiederholungsgefahr Schwerverbrechen drohen. Bei einfacher und qualifizierter Wiederholungsgefahr sei von einer sogenannten «umgekehrten Proportionalität» zwischen Deliktsschwere und Eintretenswahrscheinlichkeit auszugehen (BGE 146 IV 136 E. 2.2; 143 IV 9 E. 2.8-2.10). Der kantonalen Vorinstanz sei darin zuzustimmen, dass bei ernsthaft drohenden schweren Gewaltverbrechen auch nach neuem Recht keine sehr hohe Eintretenswahrscheinlichkeit verlangt werden könne. Die richterliche Prognosebeurteilung habe sich dabei auf die konkreten Umstände des Einzelfalles zu stützen (BGE 7B_155/2024 vom 5. März 2024, E. 3.6.2).
Im beurteilten Fall stufte das Bundesgericht es als bundesrechtskonform ein, dass die Vorinstanz eine ausreichend erhebliche (ernsthafte und unmittelbare) Wahrscheinlichkeit für neue schwere Gewaltverbrechen bejahte. Das Obergericht habe dabei namentlich der im psychiatrischen Gutachten festgestellten «mittelgradigen» Rückfallgefahr Rechnung tragen dürfen, der gutachterlich diagnostizierten psychischen Auffälligkeit und Unberechenbarkeit des Beschuldigten, der besonderen (gewaltexzessiven) Brutalität des ihm zur Last gelegten Tötungsdeliktes, seiner auffälligen Vorliebe für Waffen, insbesondere Messer, Schlagstöcke und Elektroschockgeräte, der von ihm in Internet-Chats geäusserten weiteren Gewaltbereitschaft, seiner Affinität für sadistische Darstellungen von brutaler Gewalt oder auch den vom Obergericht dargelegten Anzeichen für eine massive Suchtmittelproblematik des Beschuldigten (BGE 7B_155/2024 vom 5. März 2024, E. 3.6.3).
Unmittelbare Sicherheitsgefährdung bei qualifizierter Wiederholungsgefahr
Weiter hatte die Verteidigung geltend gemacht, es fehle im beurteilten Haftfall an einer unmittelbaren Sicherheitsgefährdung durch die drohenden neuen Delikte. Bei der «Unmittelbarkeit» handle es sich um ein «neues gesetzliches Kriterium», das eine Praxisänderung erforderlich mache. Auch dieser Argumentation folgte das Bundesgericht nicht. Die in Art. 221 Abs. 1bis lit. a StPO genannten Anlasstaten, nämlich Verbrechen und schweren Vergehen, mit denen die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer Person schwer beeinträchtigt wird, würden vom Gesetzgeber bereits de lege als unmittelbar sicherheitsgefährdend eingestuft. Im Gegensatz zur einfachen Wiederholungsgefahr (Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO, neue Fassung ebenfalls in Kraft seit 1. Januar 2024) verlange der Wortlaut von Art. 221 Abs. 1bis lit. a StPO denn auch keine (zusätzliche) «unmittelbare Sicherheitsgefährdung» (BGE 7B_155/2024 vom 5. März 2024, E. 3.7).
22. April 2024 / © Prof. Dr. Marc Forster, RA
Do
02
Nov
2023
Die WHO treibt auf zwei Ebenen einen transnationalen Rechtsrahmen voran, zur Pandemiebekämpfung und zur Vorsorge gegenüber – breit und unklar definierten – "globalen Gesundheitsnotständen". Zum einen soll ein neuer WHO-Vertrag zur Pandemievorsorge abgeschlossen werden. Die Entscheidung, diesen neuen Vertrag auszuhandeln, wurde im Dezember 2021 auf der zweiten Sondersitzung der Weltgesundheitsversammlung (WHA) getroffen. Zweitens wird der bereits seit 2002 bestehende multilaterale Vertrag zur Regelung von "globalen Gesundheitsnotständen" überarbeitet. Der Beschluss, diesen Prozess einzuleiten, wurde von der WHA im Mai 2022 gefällt. Nach dem Fahrplan der WHO sollen diese neuen Rechtsgrundlagen von den Vertragsstaaten und WHO-Gremien im Mai 2024 bewilligt werden.
Diese folgenreiche Entwicklung des transnationalen Rechtsrahmens zur Bekämpfung von Pandemien und sogenannten "globalen Gesundheitsnotständen" stösst bei Expertinnen und Experten der Grundrechte und des Medizinrechts auf grosse Bedenken. Sie rufen dringend zu einer offenen Debatte auf. Zu hoffen ist, dass dieser offene faktenbasierte Diskurs nicht vom WHO-spezifischen organisierten "Pre-Bunking" unterdrückt und gestört werden wird (Zensur und Diskreditierung von unliebsamen, nach Meinung von WHO-Funktionären angeblich irreführenden Informationen in Medien und elektronischen Foren).
In der hier beigefügten Analyse der Global Health Responsibility Agency werden zusammengefasst folgende Tendenzen der WHO-Bestrebungen kritisiert ("Die Pandemiegesetzgebung der WHO: Besorgniserregende Verhandlungen von internationaler Tragweite, Oktober 2023, Autorin: Dr. Amrei Müller, © 2023 Global Health Responsibility Agency, S. 47 f.):
Erstens werden die besonderen Befugnisse der WHO, einen globalen Gesundheitsnotstand (PHEIC) auszurufen und "den Staaten medizinische und nicht-medizinische Gegenmassnahmen zu empfehlen, erheblich zunehmen".
Zweitens "werden in Zukunft über das geplante globale Bioüberwachungssystem große Mengen an biologischem Material- und Genomsequenzdaten gesammelt und ausgetauscht. Dies erhöht nicht nur die Wahrscheinlichkeit der Entdeckung neuer oder wiederauftretender Erreger mit (angeblichem) PHEIC-/Pandemiepotenzial, sondern schafft auch Anreize für hochgefährliche Gain of Function-Forschung".
Drittens "soll die präventive Forschung und Entwicklung zu Krankheitserregern mit PHEIC-/Pandemiepotenzial erheblich ausgeweitet werden, insbesondere die Forschung und Entwicklung von mRNA-basierten Impfstoffen".
Viertens "soll die rasche Notfallzulassung von PHEIC-/Pandemieprodukten im internationalen und regionalen Recht sowie in den nationalen Rechtsordnungen aller WHO-Mitgliedstaaten ermöglicht werden".
Fünftens "wird die WHO teilweise in eine Agentur umgewandelt, die die weltweite Produktion, Beschaffung und Verteilung von PHEIC-/Pandemieprodukten" leitet und koordiniert, "wobei die WHO-Mitgliedstaaten verpflichtet sein werden, ihre eigenen Produktions- und Verteilungsnetze für solche Produkte auf- und auszubauen".
Sechstens "wird ein biomedizinisches System für die Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs unter Verwendung digitaler Gesundheitspässe über weltweit interoperable Digitalplattformen aller Wahrscheinlichkeit nach Realität werden".
Siebtens "sollen die Staaten in ihre Gesundheitsinfrastruktur investieren, damit sie in der Lage sind, die von der WHO empfohlenen medizinischen und nicht-medizinischen PHEIC-Gegenmassnahmen, einschließlich Massenimpfkampagnen, durchzuführen". Dabei dürften "große Teile staatlicher Gesundheitsbudgets für die Prävention, Vorbereitung und Reaktion auf PHEIC/Pandemien ausgegeben werden" müssen, "besonders in Staaten mit geringem Einkommensniveau".
Achtens "wird das weltweite ‚Pre-Bunking‘ und ‚De-Bunking‘ – einschließlich direkter Zensur – von durch die WHO definierten Fehlinformationen oder Desinformationen über Erreger und Krankheiten, die einen PHEIC bzw. eine Pandemie verursachen, voraussichtlich erheblich zunehmen".
Die Verabschiedung und Umsetzung dieser von der WHO-Doktrin inspirierten Reformvorschläge, "wird daher wahrscheinlich
weltweit weitreichende negative Folgen für die Gesundheit und den Menschenrechtsschutz haben. Sie werden die Rechte und
Pflichten der Staaten aushöhlen, nationale Gesetze und Politiken im Gesundheitsbereich festzulegen und umzusetzen, die den
vorrangigen Gesundheitsbedürfnissen der Bevölkerung entsprechen und die Menschenrechte auf Gesundheit, Privatsphäre, Meinungsfreiheit, körperliche Unversehrtheit, Leben und Freiheit von Folter oder unmenschlicher oder
erniedrigender Behandlung respektieren und gewährleisten."
Ausserdem werden sie "die undurchsichtige Durchmischung des öffentlichen und privaten Sektors in internationalen Gesundheitsinstitutionen wie der WHO vorantreiben, indem sie philanthropischen Stiftungen, multinationalen Unternehmen und öffentlich-privaten Partnerschaften immer mehr Einfluss auf die globale Pandemiepolitik (und damit Macht) verleihen. Dies bringt nicht nur zusätzliche Interessenkonflikte für die WHO mit sich und erhöht die Möglichkeiten für Profitmacherei in PHEIC-/Pandemiesituationen durch diese privaten Akteure. Es führt auch zu einer weiteren Streuung der internationalen Verantwortlichkeiten und verhindert damit die Einrichtung wirksamer Rechenschaftsmechanismen für Schäden, die durch globale Pandemie-/PHEIC-Präventions- und Reaktionsprogramme verursacht werden. Die Reformen schaffen zudem Anreize für hochgefährliche Gain of Function-Forschung. Nicht zuletzt wird die Umsetzung dieser Reformen immense (öffentliche) Ressourcen benötigen".
Vor diesem Hintergrund ruft die Global Health Responsibility Agency dringend auf "zu einer offenen und umfassenden Debatte über die geplanten Änderungen des Vertrags zur Regelung von "globalen Gesundheitsnotständen" und zum geplanten neuen WHO-Pandemievertrag und ihre weitreichenden Auswirkungen in allen WHO-Mitgliedstaaten". Dies müsse "ein erster Schritt sein, um die besorgniserregenden Verhandlungen von internationaler Tragweite und ihre potenziell weitreichenden negativen Folgen für die menschliche Gesundheit und den Menschenrechtsschutz weltweit zu stoppen".
(Dokument hochgeladen von Prof. Dr.iur. Marc Forster/2.November 2023)
Do
07
Sep
2023
Strafbewehrte Impfobligatorien
Auf dem Höhepunkt der Corona-Epidemie haben vereinzelte Länder allgemeine oder partielle Impfobligatorien eingeführt, mit denen die Bevölkerung unter Strafdrohung zu Prophylaxe-Anstrengungen gegen die Lungenkrankheit Covid-19 bewegt werden sollte. In Europa hat Deutschland eine einrichtungsbezogene
Impfpflicht (Bundeswehr, Spitäler und Pflegeeinrichtungen) eingeführt, Österreich sogar ein generelles strafbewehrtes Impfobligatorium, Italien (das 2019/20 von
der Coronawelle besonders stark betroffen war) eine Impfpflicht für ältere Menschen ab 50 Jahren. Griechenland sah für über 60-jährige Ungeimpfte konfiskatorische
Dauerbussen von monatlich EUR 100.-- vor. In der Schweiz wurden Forderungen nach einem Corona-Impfobligatorium vor allem in den Medien erhoben. Die deutsche Bundesregierung hat sich noch im April 2022 (bereits unter der Dominanz der Omikron-Variante) vergeblich darum bemüht, ein allgemeines Impfobligatorium zu legiferieren; Österreich
hat seine allgemeine strafbewehrte Impfpflicht zunächst beschlossen und dann 2022 wieder sistiert.
Grundrechtliche Problematik
Bei aller berechtigter gesundheitspolitischer Besorgnis (teilweise begleitet von grosser medialer Aufregung) muss aus rechtsstaatlicher Warte bedacht werden, dass ein strafbewehrtes Corona-Impfobligatorium massive grundrechtliche Konsequenzen nach sich zöge. Die Menschen könnten nicht mehr frei wählen, welche Pharmaprodukte ihnen zu welchem Zweck in den Körper gespritzt werden; für die freie Ausübung ihrer diesbezüglichen elementaren Grundrechte würde ihnen sogar eine Bestrafung drohen. In Österreich z.B. waren massive kumulierbare Geldstrafen von mehreren tausend Euro vorgesehen. Ein solcher Schwersteingriff in die elementaren Grundrechte bedarf einer äusserst sorgfältigen juristischen Legitimationsprüfung und Interessenabwägung. Das muss besonders bei neuartigen Pharmaprodukten gelten, im vorliegenden Fall mRNA-Präparaten, die erst provisorisch und ohne klinische Doppelblindstudien zugelassen waren, bei denen noch wenig Erfahrungen betreffend immunologische Langzeitfolgen und unerwünschte Nebenwirkungen hatten gesammelt werden können und für deren massenweisen Einsatz die Produzenten auch noch jegliche Haftung ablehnten.
Interdisziplinäre Untersuchung an der Universität St.Gallen
Die Coronakrise hat die ganze Welt ab 2019 sehr massiv und unvorbereitet getroffen. Auch in der Schweiz hat sie die Justiz vor grosse Herausforderungen gestellt, die sie in unserem Land rasch und inhaltlich zumeist massvoll und überzeugend löste (vgl. dazu Marc Forster, Strafrecht, Justiz und Menschenrechte in Zeiten von Covid-19, SJZ 2020, S. 451 ff.). Demgegenüber hat sich die Rechtswissenschaft (im gesamten deutschsprachigen Raum) zur Problematik der Corona-Massnahmen nicht gerade mit "Lorbeeren" überhäuft. Als eine der (ziemlich überschaubaren) positiven Ausnahmen sei hier die pionierhafte Untersuchung von Silvia Behrendt/Amrei Müller genannt (auf: Jusletter vom 20. Dezember 2021 und 24. Januar 2022). Soeben ist auch ein Forschungsbeitrag der Universität St. Gallen erschienen, welcher aus rechtsmedizinisch-juristischer Perspektive die Grundrechtskonformität einer strafbewehrten Corona-Impfpflicht untersucht (Fabienne Gmünder, Masterarbeit Uni SG 2023). Interdisziplinäre Forschungsleiter waren der Rechtsmediziner Prof. Dr.med. Roland Hausmann und der Strafrechtler Prof. Dr.iur. Marc Forster.
Resultate
Die St.Galler Untersuchung unterscheidet zwischen den tatsächlichen Gegebenheiten unter der Dominanz der Delta-Variante des
SARS-CoV-2-Virus (mit ihren für den Krankheitsverlauf von Covid-19 ebenfalls besonders gefährlichen Vorläuferinnen bis ca. Herbst 2021) und der seither dominanten
Omikron-Variante. Aus juristisch-rechtsmedizinischer Sicht ist diese Differenzierung wichtig, da sich unter den Gesichtspunkten der Geeignetheit, Notwendigkeit und Zumutbarkeit
eines Impfobligatoriums diverse Parameter und Erkenntnisse verändert haben. Der Forschungsbeitrag kommt zum Schluss, dass ein
generelles Impfobligatorium selbst unter der Delta-Variante grundrechtswidrig (gewesen) wäre (MA S. 45 f., 55). Angesichts möglicher (wenn auch seltener)
schwerer Nebenwirkungen und "Impfschäden" und der deutlich selteneren schweren Krankheitsverläufe bei jungen Personen, wird eine strafbewehrte Impfpflicht für
junge Menschen als unverhältnismässig eingestuft (S. 46, 55). Unter dem Einfluss einer relativ gefährlichen Virusvariante (Delta und ähnliche)
wird hingegen ein partielles gesetzliches Impfobligatorium für professionelles Pflegepersonal, das in engem Körperkontakt mit betagten oder
gesundheitlich besonders vulnerablen Personen steht, für zumutbar und
vertretbar angesehen. Ebenso wird für gefährliche Varianten eine Impfpflicht für betagte Personen ins Auge gefasst. Allerdings räumt die Untersuchung ein, dass es
verfassungsrechtlich und kriminalpolitisch schwierig wäre, für den schweren grundrechtlichen Eingriff einer strafbewehrten Impfpflicht ein nichtdiskriminierendes
und sachlich überzeugendes Alters- und Vulnerabilitätskriterium festzulegen.
Eignung der "Impfung"
Zentral ist die juristische Prüfung der Verhältnismässigkeit eines (allgemeinen oder partiellen) Impfobligatoriums. Bei der Eignung der Massnahme ist zunächst zu untersuchen, welches gesetzgeberische Ziel mit einer mRNA-Impfung gegen Covid-19 realistischerweise erreichbar ist. Eine sterilisierende Impfung im engeren Sinne (wie etwa gegen Masern) ist im Falle des Coronavirus nicht möglich. Vielmehr schützt die Impfung (nur aber immerhin) vor schweren Verläufen und sie hemmt auch in gewissem Umfang die Übertragbarkeit des Virus. Im Fokus steht daher als realistisches Ziel die Vermeidung einer grossen Welle von schweren Erkrankungen mit der Folge einer drohenden Überlastung der Spitäler (vgl. MA S. 39). Gestützt auf die bisherigen medizinischen Forschungsresultate zur Wirksamkeit der mRNA-"Impfung" zeigt sich dabei folgendes Bild:
Der Impfstoff von Pfizer-BioNTech gegen SARS-CoV-2-Infektionen (und auch
spezifisch gegen Varianten) lässt bei vollständig geimpften Erwachsenen innerhalb von sechs Monaten nach. Tartof et al. stellten fest, dass die
Wirksamkeit gegen Nicht-Delta-Varianten einen Monat nach vollständiger Impfung bei 97% lag und nach fünf Monaten auf bis zu 67% abfiel. Für die
Delta-Variante belief sich die Wirksamkeit einen Monat nach vollständiger Impfung auf 93%, sank jedoch nach fünf Monaten auf 53%. In zahlreichen Studien wurde
nachgewiesen, dass Antikörper, die durch Impfungen hervorgerufen werden, insb. die jüngsten Virusvarianten weniger effektiv neutralisieren können. Eine US-amerikanische Studie von
Weinberger zeigt, dass die Wirksamkeit der mRNA-Impfstoffe gegen eine Infektion mit SARS-CoV-2 nach 8 Monaten von über 90% auf 70-80% abfällt; jedoch bleibt die
Wirksamkeit gegen Hospitalisierung nahezu konstant bei rund 90%. Personen, die mehr als sechs Monate zuvor zwei Dosen mRNA-Impfstoff erhalten haben, sind besser
gegen Delta als gegen Omikron geschützt, wobei die dritte Dosis die Schutzwirkung gegen Hospitalisierung auf 94% (Delta) bzw. 90% (Omikron) erhöht (vgl. MA S.
13).
Was die Nebenwirkungen des "Spikens" betrifft, hatte der Generaldirektor der
WHO noch in einer offiziellen Pressemitteilung vom 1. Dezember 2021 sämtliche Sicherheitsbedenken, die sich aus einer grossen Anzahl von Verdachtsmeldungen an die
Frühwarn-Datenbank VigiAccess über Nebenwirkungen nach der COVID-19-Impfung ergeben haben, mit Hinweis auf die hohen Impfraten rundweg zurückgewiesen. Demgegenüber hat SWISS-MEDIC in der
Zeitspanne vom 1. Januar 2021 bis zum 22. Februar 2023 Verdachtsmeldungen von unerwünschten Wirkungen der COVID-19-Impfungen in der Schweiz ausgewertet. Insgesamt wurden 16'855
Verdachtsfälle gemeldet, wobei 10'365 (61.5%) als nicht schwerwiegend und 6'490 Verdachtsfälle (38.5%) als
schwerwiegend eingestuft wurden. Verabreicht wurden in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein 16'981'243 Impfdosen. Daraus ergibt sich eine Melderate von 0.99 pro 1'000
verabreichten Dosen (MA S. 14 f.). Hier ist allerdings noch zusätzlich einer nicht unerheblichen Dunkelziffer Rechnung zu tragen. Jedenfalls erscheint es nicht ohne weiteres
garantiert, dass impfende Ärzte und Medizinalpersonal auch alle schweren Verdachtsfälle melden, zumal die damit verbundenen Haftungsfragen und
strafrechtlichen Probleme (etwa Fragen zur ausreichenden Aufklärung und zur rechtswirksamen Einwilligung) juristisch noch ungeklärt erscheinen.
Bedenklich wirkt sich aus juristischer Sicht aus, wenn vorher gesunde Menschen ohne schweres Covid-19-Erkrankungsrisiko erst nach einer behördlich empfohlenen oder gar gesetzlich obligatorischen Impfung schwerwiegend anderweitig erkranken. In den meisten skandinavischen Ländern wurde die Impfung von jungen Männern aufgrund zahlreicher Myokarditis-Verdachtsfälle ab Frühling 2021 sukzessive gestoppt. Weitere schwere (wenn auch seltene) Nebenwirkungen aus der medizinischen Praxis (wie z.B. Schlaganfälle, Gürtelrosen, allergische Schocks, Karzinom-Rezidive usw.) bilden noch Gegenstand von internationalen Untersuchungen.
Erforderlichkeit
Weiter untersucht der Forschungsbeitrag (unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit des Grundrechtseingriffes), welche medizinischen Notlage mit einem Impfobligatorium gebannt werden soll und ob dafür auch mildere Massnahmen ausreichen könnten. Die Virusvarianten bis Delta (dominant bis ca. Sommer 2021) brachten das Gesundheitssystem (2019-2020) nahe an seine Belastungsgrenzen. Seit Omikron (ca. Herbst 2021) haben sich die massgeblichen Fakten merklich verändert. Zum einen sind deutlich weniger schwere Verläufe zu verzeichnen, sodass wegen Covid-19 kein Gesundheitsnotstand in den Notfallstationen der Spitäler auftrat. Zum anderen sind auch die Behandlungsmöglichkeiten für schwere Erkrankungen unterdessen deutlich verbessert worden, zumal Erfahrungen gesammelt und medizinische Fortschritte erzielt werden konnten. Als mildere Massnahmen (im Vergleich zum Impfobligatorium) bieten sich – zumindest seit der Dominanz von Omikron – etwa ein Testobligatorium und ein Quarantäne-Obligatorium für positiv Getestete an, wie sie unter der Geltung der Covid-19-Gesetzgebung bereits vorübergehend zur Anwendung kamen (MA S. 42 f.).
Die St.Galler Untersuchung berücksichtigt auch Studien zur Impfbereitschaft der Bevölkerung. Das Vertrauen der Schweizerinnen und Schweizer in ihre Institutionen ist im internationalen Vergleich zwar generell hoch. Eine hohe Bereitschaft zur freiwilligen Corona-Impfung hängt aber, neben vertrauenswürdigen und wirksamen Impfstoffen, auch noch wesentlich davon ab, dass ausreichend und objektiv über die Vor- und Nachteile der Impfung informiert wird. Nicht nur in der Schweiz haben die verantwortlichen Behörden nur sehr spärlich und vage über potenzielle Nebenwirkungen informiert, auch als bereits bekannt war, dass Corona-Impfungen zu schweren Nebenwirkungen führen können. Laut einer dänischen Studie kann eine transparente Kommunikation, die auch negative Aspekte nennt, zwar die Akzeptanz der Impfung etwas schmälern, jedoch stärkt sie gleichzeitig das Vertrauen in die Gesundheitsbehörden und wirkt der Verbreitung von sogenannten "Verschwörungstheorien" entgegen. Fraglich erscheint, ob es überhaupt zielführend sein kann, mittels massivem indirektem Zwang (bis hin zum Ausschluss vom kulturellen und sozialen Leben) bzw. unter Androhung von Bussen oder anderen Nachteilen die Willensfreiheit der Bevölkerung bei der Frage von Impfungen beeinflussen zu wollen (MA S. 16 f., mit Hinweisen auf Hehli und Vokinger/Rohner).
Zumutbarkeit
Als entscheidend für die Frage der grundrechtlichen Zulässigkeit eines Impfobligatoriums erweist sich das Kriterium der Zumutbarkeit (sog. "Zweck-/Mittel-Relation" bzw. Verhältnismässigkeit im engeren Sinne). Zunächst ist zu prüfen, in welches Grundrecht eingegriffen wird: Die medizinische Selbstbestimmung und das Recht, selber entscheiden zu dürfen, welche Substanz man wann in den Körper gespritzt erhält, gehört zum Kernbereich der Menschenrechte. Ein Impfobligatorium greift aber nicht nur in die körperliche sondern auch in die geistige Unversehrtheit des Menschen ein; sie umfasst das Recht, Situationen eigenständig zu bewerten und in Übereinstimmung mit dieser Bewertung zu handeln (MA S. 20, u.a. mit Hinweis auf Zeder). Die Durchführung einer Impfung ist nur dann gestattet, wenn zuvor eine ausführliche Aufklärung des Impflings erfolgt ist und dieser daraufhin seine Zustimmung zur Durchführung der Impfung erteilt hat (MA S. 21). Dabei ist auch auf mögliche Nebenwirkungen einer Impfung hinzuweisen. Nach herrschender Lehre und Praxis läge ohne eine solche Einwilligung in einen invasiv-medizinischen Eingriff (sog. "informed consent") sogar – per se – eine strafbare Körperverletzung vor.
Besonders heikel wirkt sich vor diesem grundrechtlichen Hintergrund sogenannter indirekter staatlicher Zwang aus. Dazu gehörten der zeitweise komplette Ausschluss von Nichtgeimpften – selbst mit negativen Corona-Tests – vom sozialen und kulturellen Leben (etwa Bibliotheken, Theater, Fitnesszentren, Schwimmbäder, Gottesdienste, Kinos, Restaurants, Bars oder Diskotheken). In Deutschland wurde 2G sogar an einigen Hochschulen eingeführt. Dass die Studierenden an Freiburger (Ue./Schweiz) Hochschulen die Testkosten (mit monatelangen Tests als Zulassungsvoraussetzung) selber bezahlen mussten, hat das Bundesgericht als verfassungswidrig eingestuft. Die St.Galler Untersuchung äussert auch Kritik an den vom Bundesrat im Dezember 2021 eingeführten 2G-Regeln. Im Klartext bedeutete 2G, dass infizierte und kranke (aber "geimpfte") Personen ungehindert und ohne Tests Diskotheken, Bars und Gottesdienste besuchen konnten, während mit grosser Wahrscheinlichkeit gesunde (negativ auf das Coronavirus getestete) Ungeimpfte ausgeschlossen wurden. Diese kontraproduktive (wenn nicht gar gefährliche) Regelung wurde zwar im Namen einer angeblichen "Epidemiebekämpfung" erlassen; ihr erkennbarer Zweck erschöpfte sich jedoch in der zusätzlichen Verschärfung des gesellschaftlichen Drucks auf Ungeimpfte bzw. in deren sozialer Stigmatisierung.
Beim Kriterium der (partiellen) Zumutbarkeit einer strafbewehrten Impfpflicht ist zu unterscheiden, welche Bevölkerungsgruppen zu dem medizinisch-gesellschaftlichen Notstand, der durch mRNA-Impfungen realistischerweise vermieden werden soll, besonders stark beitragen. Primär sind dies betagte und gesundheitlich vulnerable Menschen. Gleichzeitig profitieren diese (statistisch gesehen) aber auch individuell mehr vom Impfschutz, da sie ohne Impfung besonders stark von schweren Krankheitsverläufen betroffen sind (MA S. 42). Kinder und junge Menschen hingegen haben im Durchschnitt deutlich weniger schwere Krankheitsverläufe. Hinzu kommt noch, dass bei jungen Menschen statistisch auffällig viele erhebliche Nebenwirkungen auftreten, weshalb (etwa ab Frühling 2021) die Corona-Durchimpfung junger Menschen in Skandinavien praktisch eingestellt wurde. Das Verhältnis zwischen Nutzen und Risiko wird für Junge auch noch dadurch verschlechtert, dass erstens (in eher seltenen Einzelfällen) sogar schwere Impfschäden auftreten können (MA S. 42) und zweitens die noch nicht ausreichend erforschten Langzeitwirkungen für Junge eine grössere Bedeutung haben als für betagte Menschen.
Fazit
So sehr eine vorsichtige und restriktive Pandemiepolitik im Zeitraum 2020-21 grundsätzliches Verständnis verdient hat, müssen
massiver indirekter Impfzwang, behördlich-mediale Desinformationen, fragwürdige 2G-Regelungen und strafbewehrte
Impfobligatorien (ab ca. Herbst 2021) aus rechtsmedizinischer und rechtswissenschafticher Warte kritisch analysiert und bewertet werden. Den
Grundrechten ist auch – und gerade – in "pandemisch-phobischen Zeiten" Nachachtung zu verschaffen. Als mühsam erkämpfte zivilisatorische Errungenschaften sind
sie zu wertvoll, um auf Worthülsen einer "Schönwetterpolitik" und wohlklingende Stichworte für Festreden reduziert zu werden (kritisch zum diesbezüglichen Grundrechtsrelativismus in einer phobisch mediatisierten Gesellschaft s. Marc Forster, Kriminalpolitik und
Kriminalpraxis vor alten und neuen Herausforderungen, in: Genillod et al. [Hrsg.], SAK-Tagung Interlaken 2021, Bd. 39, Basel 2022, S. 3 ff., 12 f.).
© Prof. Dr. Marc Forster / 7. September 2023
Do
23
Mär
2023
Am 1. Januar 2024 wird das revidierte Entsiegelungsrecht in Kraft treten (nArt. 248-248a StPO; im Parlament verabschiedet am 17. Juni 2022, vgl. BBl 2022 1560, S. 8 f.). Das Kernproblem des bisherigen Rechts bildeten die lange Verfahrensdauer bzw. das Missbrauchspotential für Verfahrensverschleppungen. Zur Beschleunigung der Entsiegelungsverfahren sollen künftig insbesondere die restriktivere Definition der siegelungsfähigen Aufzeichnungen und Gegenstände sowie Vorschriften zur Straffung des Verfahrens beitragen.
Mit der Ausdehnung der Siegelungsberechtigung und der Verfahrensteilnahme auf Drittpersonen, welche nicht Inhaberinnen der sichergestellten Aufzeichnungen und Gegenstände sind, aber eigene geschützte Geheimnisrechte (aufgrund von Art. 264 Abs. 1 StPO) anrufen können, wird die betreffende Praxis des Bundesgerichtes in der StPO verankert. Als Beispiel sei der Fall eines Arztes genannt, in dessen Praxis Patientenunterlagen sichergestellt werden.
Nach der neuen Regelung kann primär der Arzt als Inhaber der Aufzeichnungen und Träger des Berufsgeheimnisses die Siegelung beantragen (nArt. 248 Abs. 1 Satz 1 StPO). Da für die Staatsanwaltschaft (StA) aber erkennbar ist, dass hier eigene höchstpersönliche, intime Geheimnisse die mitbetroffenen Patientinnen und Patienten tangiert sind, hat die StA diesen als berechtigten Personen ebenfalls Gelegenheit zu geben, die Siegelung zu verlangen (nArt. 248 Abs. 2 StPO). Dies muss zumindest dann gelten, wenn der Arzt selber kein Siegelungs-begehren gestellt hat. Soweit die Patienten entsprechende eigene Geheimnis-rechte (Arzt- und Patientengeheimnis) geltend machen, sind sie als berechtigte Personen zu behandeln und im Entsiegelungsverfahren als Parteien beizuziehen (nArt. 248a Abs. 3 und Abs. 5 StPO). Falls erst das Entsiegelungsgericht erkennt, dass hier neben dem Arzt (als Inhaber) auch die Patienten selbstständig berechtigt sind, so sind Letztere über das Siegelungsbegehren des Arztes zu informieren (nArt. 248a Abs. 2 StPO) und als berechtigte Personen ins Verfahren beizuziehen.
Gemäss der klaren Regelung von nArt. 248 Abs. 2 StPO hat die StA auch den eigenständig berechtigten Drittpersonen, im Beispiel also den mitbetroffenen Patientinnen und Patienten, Gelegenheit zu geben, die Siegelung zu verlangen. Selbst wenn erst das Entsiegelungsgericht erkennt, dass sie (betreffend Patien-tengeheimnisse) berechtigt sind, müssen sie noch nachträglich zum Entsiegelungsverfahren beigezogen werden (nArt. 248a Abs. 2-5 StPO). Es fragt sich, ob dieser selbstständige Rechtsschutz auch für Klienten von Anwälten gelten muss. Nach der im hier vertretenen Auffassung ist dies jedenfalls dann zu bejahen, wenn der Anwalt als Inhaber kein Siegelungsbegehren gestellt hat. Die mitbetroffenen Klienten können eigene Interessen an der Wahrung des Anwaltsgeheimnisses haben (die den Anwalt nicht tangieren). Sofern der Anwalt ein Siegelungs-begehren stellt, ist er als Inhaber an den bei ihm sichergestellten Aufzeichnungen "berechtigt" und kann auch die Interessen seiner Klientschaft wahren. Da die neue Regelung diesbezüglich die bisherige Praxis des Bundesgerichtes abbildet, ist daraus keine spürbare Beschleunigung und Vereinfachung des Verfahrens zu erwarten.
Auch die dreitägige Frist für das Siegelungsbegehren des Inhabers oder der Inhaberin (nArt. 248 Abs. 1 Satz 2 StPO) trägt nur wenig zur gesetzgeberisch angestrebten Verfahrensbeschleunigung bei. Schon nach der bisherigen Rechtsprechung war das Siegelungsbegehren grundsätzlich innert wenigen Tagen zu stellen.
Von erheblicher (normativer) Bedeutung ist die vom Parlament bewusst vorgenommene Einschränkung der möglichen Siegelungsgründe und Durchsuchungshindernisse. Der Siegelung – und damit einem möglichen Durchsuchungs-hindernis im Verfahren nach nArt. 248 f. StPO – unterliegen nach der im Parla-ment verabschiedeten Fassung nur noch Aufzeichnungen oder Gegenstände, die "aufgrund von Art. 264 StPO nicht beschlagnahmt" werden dürfen. Einer Entsiegelung und Durchsuchung können somit künftig nur noch die (allgemeinen) gesetzlichen Zwangsmassnahmenhindernisse von Art. 197 StPO in Verbindung mit einem besonderen Beschlagnahmehindernis gemäss Art. 264 Abs. 1 StPO entgegen stehen. Zwar wurde diese Einschränkung der gesetzlichen Siegelungs-gründe im Gesetzgebungsverfahren ausführlich diskutiert (vgl. Botschaft 2019, S. 6750 f.; Votum BR Keller-Sutter, AB NR 2021 S. 618) und in der Literatur teilweise kritisiert. Der Gesetzgeber hat sich jedoch in Kenntnis dieser Einwände und Gegenvorschläge für die restriktive Lösung (gemäss Expertengruppe NR 2021) entschieden.
Zeugnis- und Aussageverweigerungsrechte ausserhalb der Berufs- und Amtsgeheimnisse nach Art. 264 Abs. 1 lit. a und c-d StPO bilden somit künftig keine möglichen Entsiegelungshindernisse mehr. Das gilt etwa für alle Zeugnis- und Aussageverweigerungsrechte ausserhalb von Art. 170-173 StPO, nämlich solche aufgrund persönlicher Beziehungen gemäss Art. 168 f. StPO, für den nemo tenetur-Grundsatz (Art. 113 Abs. 1 StPO), das Bankkundengeheimnis oder für allgemeine Geschäfts- und Fabrikationsgeheimnisse. Falls kein Siegelungsgrund (geschütztes Geheimnisinteresse) nach Art. 264 Abs. 1 StPO angerufen werden kann, bildet auch der akzessorische Einwand der Untersuchungsrelevanz bzw. der fehlenden Verhältnismässigkeit (Art. 197 Abs. 1 lit. c StPO) kein Entsiegelungs-hindernis. Das Entsiegelungsverfahren dient nicht der allgemeinen Prüfung der der Verhältnismässigkeit von Zwangsmassnahmen, sondern dem Geheimnis-schutz im Hinblick auf die Durchsuchung von Aufzeichnungen und Datenträgern (Art. 246 StPO). Dies gilt schon nach der ständigen bisherigen Praxis des Bundesgerichtes. Die allgemeinen Zwangsmassnahmen-voraussetzungen von Art. 197 StPO sind folglich nur bei Substanziierung von gesetzlich geschützten Geheimnissen (zusätzlich) zu prüfen. Auf ein Entsiegelungsgesuch ist hingegen (mangels gültigem Siegelungsbegehren) nicht einzutreten, falls keine gesetzlich geschützten Geheimnisrechte wenigstens kursorisch angerufen wurden. Falls sich erst nach Substanziierung und näherer Prüfung im Entsiegelungsverfahren ergibt, dass keine Geheimnisse gemäss Art. 264 Abs. 1 StPO tangiert sind, ist das Entsiegelungsgesuch gutzuheissen.
Auch hier sind die praktischen Auswirkungen der Revision eher gering, da schon nach bisheriger Rechtsprechung die primären Entsiegelungshindernisse von Art. 197 Abs. 1 i.V.m. Art. 264 Abs. 1 StPO stark im Vordergrund standen. Weder das Bankkundengeheimnis (BankG, mit Vorbehalt der strafrechtlichen Beweiserhe-bung) noch der nemo tenetur-Grundsatz (mit Einschränkung in Art. 113 Abs. 1 Satz 3 StPO) wurden in der Praxis als Entsiegelungshindernisse anerkannt. Neben den besonderen gesetzlichen Zeugnis- und Aussageverweigerungsrechten (Berufs- und Amtsgeheimnisse) nach Art. 264 Abs. 1 lit. a und c-d StPO verbleiben somit praktisch nur noch für den Persönlichkeitsschutz relevante Privat-geheimnisse, nämlich persönliche Aufzeichnungen und Korrespondenz der beschuldigten Person, als möglicher Siegelungsgrund (Art. 264 Abs. 1 lit. b StPO). Diese Privatgeheimnisse sind allerdings noch gegenüber dem jeweiligen Strafver-folgungsinteresse abzuwägen.
Gestützt auf den Entwurf 2019 und den Vorschlag der Rechtskommission des Nationalrates (2021) wird das Zwangsmassnahmengericht neu auch im erstin-stanzlichen Gerichtsverfahren für Entsiegelungen zuständig sein. Zwar erscheint es inkonsequent, dass im Berufungsverfahren (nArt. 248a Abs. 1 lit. b StPO spricht etwas erratisch von "den anderen Verfahren") die Verfahrensleitung des Berufungsgerichts zuständig bleibt. Die betreffende Kritik in Teilen der Literatur ist allerdings in die Revision nicht eingeflossen.
Grössere Auswirkungen auf die Beschleunigung und Verfahrensstraffung wird nArt. 248a StPO nach sich ziehen. Absatz 3 der Bestimmung sieht vor, dass die berechtigte Person schriftliche "Einwände gegen das Entsiegelungsgesuch" innert einer nicht erstreckbaren (gesetzlichen) Frist von 10 Tagen vorzubringen hat. Da in der bisherigen Praxis solche Fristen oft mehrmals und über mehrere Wochen und Monate hinweg richterlich erstreckt wurden, trägt diese neue Bestimmung zur Beschleunigung bei. Analoges gilt grundsätzlich auch für die gesetzliche Entscheidungsfrist von ebenfalls 10 Tagen (nach Eingang der Stellungnahme) in "spruchreifen" Fällen (Abs. 4), das heisst, wenn keine richterliche Triage der gesiegelten Aufzeichnungen nötig ist und auch sonst kein zwingender sachlicher Grund für eine mündliche Entsiegelungsverhandlung vorliegt. Bei solchen Entscheidungsfristen stellt sich allerdings regelmässig die Frage nach deren blossem Ordnungscharakter bzw. nach den Folgen einer Missachtung der Frist, insbesondere in sachlich begründeten Fällen. Analog zu den Entscheidungsfristen bei Haftverfahren wird eine sachlich begründete und massvolle Überschreitung der Frist nicht ohne weiteres zur Rückgabe der gesiegelten Aufzeichnungen an die Inhaber führen.
Die weiteren Fristvorschriften (von nArt. 248a Abs. 5 StPO) betreffend Durch-führung einer Entsiegelungsverhandlung innert 30 Tagen (nach Eingang der Stellungnahme in nicht "spruchreifen" Fällen) und den "unverzüglichen" Entsie-gelungsentscheid (nach durchgeführter Verhandlung) werden die erstinstanz-lichen Verfahren in der Regel ebenfalls deutlich beschleunigen. Auch die 30-Tages-Frist und die Vorschrift eines "unverzüglichen" Entscheides (innert Tagen bis wenigen Wochen) dürften allerdings blossen Ordnungscharakter in dem Sinne haben, dass ihre Missachtung bzw. massvolle Überschreitung in sachlich begrün-deten Fällen nicht (per se) zur Rückgabe der gesiegelten Aufzeichnungen führt.
In einem neuen Forschungsbeitrag der Universität St. Gallen wird der Reformweg des Entsiegelungsrechts analysiert, vom Vorentwurf 2017 der Expertengruppe BJ, über den darauf gestützten Entwurf des Bundesrates (2019) und die Änderungsvorschläge der Rechtskommission des Nationalrates (2021) bis zur Schlussabstimmung der Räte am 17. Juni 2022 (vgl. Andrina Singenberger, Probleme des Entsiegelungsrechts im Lichte der Revision StPO, Masterarbeit Uni SG, November 2022, S. 37 f.). Dabei werden die bisherige Rechtslage, Kritik und Revisionsvorschläge der Fachliteratur sowie die erfolgte Reform einer kritischen Würdigung unterzogen (vgl. dazu MA S. 36-60).
© Prof. Dr. Marc Forster, RA / 23. März 2023
Nachtrag:
Beschwerde ans Bundesgericht in Entsiegelungssachen auch nach neuem Recht (nArt. 248a StPO, nArt. 80 Abs. 2 BGG):
Wegen einer irrtümlichen Äusserung in einem Teil der Materialien ist in Fachkreisen die Frage aufgeworfen worden, ob nach Inkrafttraten der neuen StPO weiterhin die Beschwerde an das Bundesgericht gegen Entsiegelungs-entscheide der Zwangsmassnahmengerichte zulässig ist. Die Frage ist eindeutig zu bejahen:
Herr B. Stadelmann (Bundesamt für Justiz) äusserte sich anlässlich der Sitzung der nationalrätlichen Kommission für Rechtsfragen vom 8./9. Oktober 2020 missverständlich ("ein Verzicht auf das Prinzip der "double instance" - was bedeutet, dass ein Entsiegelungsentscheid des Zwangsmassnahmengerichts endgültig ist und nicht an das Bundesgericht weitergezogen werden kann"). Der Irrtum wurde in den Beratungen der Bundesversammlung leider teilweise kolportiert (Votum von Frau NRin C. Markwalder).
Die betreffenden Äusserungen beruhen auf einem juristischen Missverständnis. Die "double instance" nach Art. 80 Abs. 2 Satz 3 BGG
bezieht sich auf den kantonalen Instanzenzug. Schon nach jetzigem Recht sagt das Gesetz, dass es keine kantonale Beschwerdeinstanz braucht und die direkte Beschwerde ans BGer
zulässig ist, wenn das ZMG "als einzige kantonale Instanz entscheidet". Die neue Fassung (nArt. 80 Abs. 2 BGG) spricht von "letzten kantonalen Instanzen" und sieht weitherhin
vor, dass es (ausnahmsweise) keine kantonale Rechtsmittelinstanz braucht, wenn kantonale Instanzen "nach der Strafprozessordnung als einzige kantonale Instanz entscheiden". Das
trifft auf Entsiegelungsentscheide des ZMG auch nach neuem Recht weiterhin zu (nArt. 248a Abs. 4 StPO: "endgültig").
Damit hat sich für den Weiterzug von Entsiegelungsentscheiden des ZMG an das BGer nach neuem BGG nichts geändert. Auch aus den Materialien ergibt sich im Gesamtkontext deutlich, dass das
Parlament beim Entsiegelungsrecht den bisherigen Instanzenzug vom ZMG an das BGer beibehalten wollte. In früheren Entwürfen (VE 2017, Entwurf 2019) war sogar noch vorgeschlagen
worden, zusätzlich den doppelten kantonalen Instanzenzug vorzuschreiben, um das BGer indirekt etwas zu entlasten. Die Beschwerde ans BGer abzuschaffen, war hingegen nie
vorgesehen. Die Aussage, wonach ein "Verzicht auf die double Instance" bedeute, "dass ein Entscheid des ZMG endgültig" sei "und nicht an das BGer weitergezogen werden" könne, ist juristisch
falsch und verkennt das Prinzip der double instance. Dieses bezieht sich auf den kantonalen Instanzenzug. Wenn im Sinne von nArt. 80 Abs. 2 BGG und nArt. 248a StPO auf die double instance
verzichtet wird, fällt nicht die BGG-Beschwerde ans BGer dahin, sondern die StPO-Beschwerde an eine kantonale Beschwerdeinstanz. Diese Rechtslage bestand schon nach bisherigem Recht und wird auch
nach neuem Recht so bleiben. Alles andere widerspräche dem klaren Wortlaut des Gesetzes, der BGer-Praxis und den Materialien.
© Prof. Dr. Marc Forster, RA / 21. April 2023
Do
20
Okt
2022
Am 6.10.2022 ist die Referendumsfrist gegen die Revision der Eidg. Strafprozessordnung unbenutzt abgelaufen. Von der Öffentlichkeit und den Medien fast unbemerkt, hat das Parlament am 17.6.2022 den umstrittenen und äusserst knapp ausgefallenen Entscheid gefällt, das bisherige Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft gegen die Haftentlassung von hochgefährlichen oder stark fluchtgefährdeten Beschuldigten abzuschaffen (BBl 2022 1560, 7). Nur noch die beschuldigte Person wird (ab Inkrafttreten der neuen Bestimmungen) die Anordnung oder Verlängerung von Untersuchungs- und Sicherheitshaft anfechten können.
Bisherige Rechtslage und Praxis
Die Strafprozessordnung sieht in Art. 222 gegen die Anordnung, Verlängerung und Aufhebung von Untersuchungs- oder Sicherheitshaft eine Beschwerdemöglichkeit der verhafteten Person vor. Zur Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft sprach sich Art. 222 StPO bisher nicht aus. Diese ergibt sich allerdings klar aus Art. 111 Abs. 1 i.V.m. Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 BGG. Das Bundesgericht interpretierte daher Art. 222 StPO von 2011 bis heute nicht als «qualifiziertes Schweigen» des Gesetzgebers und bejahte eine Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft (BGE 147 IV 123, 124 f. E. 2.2; 138 IV 92, 94 E. 1.1; 137 IV 22, 23 E. 1.2–1.4; 137 IV 87, 89 E. 3; 137 IV 230, 232 E. 1; 137 IV 237, 240 E. 1.2; 137 IV 340, 345 E. 2.3.2. vgl. Forster, Jusletter 26.3.2018, N 2–19; Micheroli/Tag, Jusletter 16.5.2022, N 11–51). Auch nach Erlass des neuen Art. 222 StPO am 17.6.2022 hat das Bundesgericht – bis zum künftigen Inkrafttreten der Revision – an seiner bisherigen Rechtsprechung festgehalten (vgl. z.B. Bundesgerichtsurteil 1B_441/2022 vom 13.9.2022, E. 2).
Ein fragwürdiger kriminalpolitischer Zufallsentscheid
Mit der StPO-Teilrevision vom 17.6.2022 beschränkt der Gesetzgeber das Haft-Beschwerderecht nach Art. 222 StPO nun «einzig» auf die inhaftierte Person. Folglich strich er auch die sich aus Art. 111 Abs. 1 i.V.m. Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 BGG ergebende Legitimation aus dem Gesetz (BBl 2022 1560, 17). Dieser Abschaffung des Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft war ein heftiges kriminalpolitisches Tauziehen im Parlament vorausgegangen: Sowohl der Vorentwurf (2017) als auch der Entwurf (2019) des Bundesrates sahen noch eine ausdrückliche Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft vor (Botschaft, BBl 2019, 6794; vgl. Forster, Jusletter 2018, N 14; Micheroli/Tag, Jusletter 2022, N 4 f.). Die Rechtskommission des Nationalrates hat mit einer hauchdünnen Zufallsmehrheit (13:12) eine Abschaffung des Haft-Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft – sowohl nach StPO als auch nach Bundesgerichtsgesetz – vorgeschlagen. Der Nationalrat ist diesem Vorschlag (als Erstrat) am 18.3.2021 gefolgt, mit dem ebenfalls sehr engen Resultat von 98:89 Stimmen (AB 2021 N 613 f.; vgl. Micheroli/Tag, Jusletter 2022, N 6–8). Der Ständerat folgte dem Nationalrat am 14.12.2021 nicht. Die «Chambre de réflexion» wollte das Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft beibehalten (AB 2021 S 1361 f., 1370, 1372; vgl. Micheroli/Tag, Jusletter 2022, N 9). Im Rahmen der Differenzbereinigung (ab 14.1.2022) und anlässlich seiner zweiten Beratung am 2.3.2022 hielt der Nationalrat aber an seinem Entscheid fest (AB 2022 N 75; vgl. Micheroli/Tag, Jusletter 2022, N 10). Bei der Schlussabstimmung vom 17.6.2022 wurde der Vorschlag des Nationalrats von der Bundesversammlung angenommen.
Systemwidrigkeiten und Risiken
Welchen Risiken die sehr knappe Parlamentsmehrheit damit die Bürgerinnen und Bürger aussetzt, wird künftig die Praxis zeigen müssen (vgl. dazu Forster, Jusletter 26.3.2018, N 1–13; Micheroli/Tag, Jusletter 16.5.2022, N 11–51). Der in der Revision von 2022 erfolgte Ausschluss der Staatsanwaltschaft von der StPO-Haftbeschwerde ist im Übrigen mehrfach systemwidrig: Sogar in der Verwaltungs-Strafrechtspflege ist die Untersuchungsbehörde zur Haftbeschwerde ausdrücklich legitimiert (Art. 51 Abs. 6 VStrR; vgl. Basler Kommentar VStrR [2020]-Graf, Art. 51 N 98–104). Nur schwer einzusehen ist sodann, weshalb die Staatsanwaltschaft gemäss Art. 231 Abs. 2 lit. b StPO beantragen kann, Haftentlassungen – ausgerechnet – des erkennenden erstinstanzlichen Strafgerichtes korrigieren zu lassen (durch die Verfahrensleitung des Berufungsgerichtes), während Haftentlassungen der Zwangsmassnahmengerichte für die Staatsanwaltschaft (nach Art. 222 StPO) unanfechtbar sein sollen. Angesichts der ebenfalls ablehnenden Haltungen der Expertengruppe (VE), des Bundesrates, des Bundesgerichtes und des Ständerates haben faktisch eine Stimme Mehrheit in der Rechtskommission des Nationalrates bzw. 9 Stimmen Mehrheit im (anwaltlich dominierten) Nationalrat zu diesem fragwürdigen kriminalpolitischen Ergebnis geführt.
20. Oktober 2022 / © Prof. Dr. Marc Forster, RA
Mo
22
Apr
2024
Wichtiger Haftgrund bei Schwerverbrechen, keine klare
gesetzliche Grundlage
Die 2011 in Kraft getretene Eidgenössische StPO wies bis vor Kurzem eine gravierende Lücke bei den strafprozessualen Haftgründen auf. Vor 2011 hatten diverse kantonale Strafprozessgesetze noch den Haftgrund der sogenannten «qualifizierten» Wiederholungsgefahr vorgesehen (z.B. § 58 Abs. 1 Ziffer 4 StPO/ZH): Im Gegensatz zur einfachen Wiederholungsgefahr (Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO) konnte danach bei drohenden schweren Gewaltverbrechen vom sogenannten Vortatenerfordernis abgesehen werden. Das heisst, es musste mit der Anordnung von Untersuchungshaft nicht abgewartet werden, bis neben dem «bloss» untersuchten Schwerverbrechen bereits gerichtliche Verurteilungen zu weiteren ähnlichen Delikten vorlagen. Dieser wichtige Haftgrund geriet beim Erlass der Eidgenössischen StPO (2011) in Vergessenheit. Möglicherweise hatte der Gesetzgeber damals fälschlich angenommen, dass der spezifische neue Haftgrund der Ausführungsgefahr (Art. 221 Abs. 2 StPO) auch alle bisherigen Fälle der qualifizierten Wiederholungsgefahr abdeckte.
Notstandsrechtliche Lückenfüllung durch das Bundesgericht
und Legalitätsprinzip
In seiner anschliessenden Rechtsprechung ist das Bundesgericht zum Schluss gekommen, dass es qualifizierte Haftfälle gibt, bei denen die Anordnung von Untersuchungshaft möglich sein muss, ohne dass bereits Verurteilungen zu schweren Gewaltdelikten vorliegen. In BGE 137 IV 13 hat das Bundesgericht auf eine entsprechende gravierende Gesetzeslücke hingewiesen. Das Bundesgericht hat erwogen, dass es «vernünftigerweise nicht in der Absicht der Legislative gelegen» haben könne, bei einem mutmasslich bereits verübten und erneut akut drohenden schweren Gewalt- oder Sexualverbrechen auf die Möglichkeit einer strafprozessualen Inhaftierung zu verzichten, nur weil der Beschuldigte nicht bereits früher schon wegen ähnlichen Schwerverbrechen gerichtlich verurteilt worden war (bestätigt in BGE 143 IV 9 E. 2.3.1).
In der Fachliteratur ist seit 2012 darauf hingewiesen worden, dass eine solche Abweichung vom Gesetzeswortlaut allerdings vor dem Hintergrund des Legalitätsprinzips (Art. 36 Abs. 1 BV) rechtsstaatlich hochproblematisch war und ein entsprechender neuer Haftgrund (wieder) ausdrücklich im Gesetz zu verankern sei (vgl. Marc Forster, ZStrR 2012, S. 341 f.). Im Dezember 2012 reichten daraufhin Isabelle Moret und Daniel Jositsch entsprechende parlamentarische Vorstösse ein. Im Juni 2023 hat das Parlament schliesslich eine Teilrevision der StPO verabschiedet, darunter einiger haftrechtlicher Bestimmungen. Unter anderem verankerte es neu den Haftgrund der «qualifizierten» Wiederholungsgefahr, Art. 221 Abs. 1bis StPO, im Gesetz. In der Bundesversammlung ist diesem Haftgrund kein Widerstand erwachsen. Die Bestimmung trat am 1. Januar 2024 in Kraft (vgl. zur Reformgeschichte Marc Forster, Basler Kommentar StPO, 4. Aufl. 2023, Art. 221 N. 15b).
Neuer Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr
Die gesetzliche Regelung in Art. 221 Abs. 1bis StPO ist wie folgt ausgestaltet: Lit. a setzt eine untersuchte qualifizierte Anlasstat voraus, nämlich den dringenden Verdacht, dass die beschuldigte Person durch ein Verbrechen oder ein schweres Vergehen die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer Person schwer beeinträchtigt hat. Das Vorliegen einer einschlägigen Vortat ist demgegenüber nicht erforderlich. Lit. b verlangt aber zusätzlich, als Prognoseelement, die ernsthafte und unmittelbare Gefahr, dass die beschuldigte Person ein gleichartiges, schweres Verbrechen verüben werde.
Leitentscheid des Bundesgerichtes zum neuen Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr
In seinem zur amtlichen Publikation bestimmten ersten Grundsatzurteil zu Art. 221 Abs. 1bis StPO, 7B_155/2024 vom 5. März 2024, hat das Bundesgericht einige Fragen zur Auslegung der neuen Bestimmung geklärt und insbesondere geprüft, ob sich gegenüber der bisherigen Rechtsprechung zum Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr eine Praxisänderung aufdrängen könnte:
Grad der Rückfallgefahr, «umgekehrte Proportionalität» gegenüber der Schwere der drohenden Verbrechen
Im vom Bundesgericht beurteilten Fall eines untersuchten vorsätzlichen Tötungsdeliktes hatte die Verteidigung die These vertreten, der neue Art. 221 Abs. 1bis lit. b StPO verlange eine «sehr ungünstige» Rückfallprognose. Der Umstand, dass das psychiatrische Gutachten beim Beschuldigten eine «bloss» mittelgradige Rückfallgefahr für neue schwere Gewaltverbrechen festgestellt habe, genüge nach neuem Recht nicht mehr. Dies ergebe sich aus dem gesetzlichen Erfordernis einer «ernsthaften und unmittelbaren Gefahr» neuer Schwerverbrechen. Diesbezüglich könne an der bisherigen einschlägigen Bundesgerichtspraxis nicht mehr festgehalten werden. Das Bundesgericht ist dieser Argumentation nicht gefolgt:
Es erwog Folgendes: Art. 221 Abs. 1bis lit. b StPO verlange als Prognoseelement die ernsthafte und unmittelbare Gefahr, dass die beschuldigte Person ein gleichartiges «schweres Verbrechen» verüben werde. Zwar sei in der bisherigen einschlägigen Bundesgerichtspraxis nicht wörtlich vom Erfordernis einer «ernsthaften und unmittelbaren» Gefahr (von neuen Schwerverbrechen) die Rede gewesen. Es habe in diesem Sinne aber schon altrechtlich eine restriktive Haftpraxis bestanden, indem das Bundesgericht ausdrücklich betont habe, qualifizierte Wiederholungsgefahr komme nur in Frage, wenn das Risiko von neuen Schwerverbrechen als «untragbar hoch» erscheint (BGE 143 IV 9 E. 2.3.1; 137 IV 13 E. 3 f.). Bei der konkreten Prognosestellung werde auch weiterhin dem Umstand Rechnung zu tragen sein, dass bei qualifizierter Wiederholungsgefahr Schwerverbrechen drohen. Bei einfacher und qualifizierter Wiederholungsgefahr sei von einer sogenannten «umgekehrten Proportionalität» zwischen Deliktsschwere und Eintretenswahrscheinlichkeit auszugehen (BGE 146 IV 136 E. 2.2; 143 IV 9 E. 2.8-2.10). Der kantonalen Vorinstanz sei darin zuzustimmen, dass bei ernsthaft drohenden schweren Gewaltverbrechen auch nach neuem Recht keine sehr hohe Eintretenswahrscheinlichkeit verlangt werden könne. Die richterliche Prognosebeurteilung habe sich dabei auf die konkreten Umstände des Einzelfalles zu stützen (BGE 7B_155/2024 vom 5. März 2024, E. 3.6.2).
Im beurteilten Fall stufte das Bundesgericht es als bundesrechtskonform ein, dass die Vorinstanz eine ausreichend erhebliche (ernsthafte und unmittelbare) Wahrscheinlichkeit für neue schwere Gewaltverbrechen bejahte. Das Obergericht habe dabei namentlich der im psychiatrischen Gutachten festgestellten «mittelgradigen» Rückfallgefahr Rechnung tragen dürfen, der gutachterlich diagnostizierten psychischen Auffälligkeit und Unberechenbarkeit des Beschuldigten, der besonderen (gewaltexzessiven) Brutalität des ihm zur Last gelegten Tötungsdeliktes, seiner auffälligen Vorliebe für Waffen, insbesondere Messer, Schlagstöcke und Elektroschockgeräte, der von ihm in Internet-Chats geäusserten weiteren Gewaltbereitschaft, seiner Affinität für sadistische Darstellungen von brutaler Gewalt oder auch den vom Obergericht dargelegten Anzeichen für eine massive Suchtmittelproblematik des Beschuldigten (BGE 7B_155/2024 vom 5. März 2024, E. 3.6.3).
Unmittelbare Sicherheitsgefährdung bei qualifizierter Wiederholungsgefahr
Weiter hatte die Verteidigung geltend gemacht, es fehle im beurteilten Haftfall an einer unmittelbaren Sicherheitsgefährdung durch die drohenden neuen Delikte. Bei der «Unmittelbarkeit» handle es sich um ein «neues gesetzliches Kriterium», das eine Praxisänderung erforderlich mache. Auch dieser Argumentation folgte das Bundesgericht nicht. Die in Art. 221 Abs. 1bis lit. a StPO genannten Anlasstaten, nämlich Verbrechen und schweren Vergehen, mit denen die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer Person schwer beeinträchtigt wird, würden vom Gesetzgeber bereits de lege als unmittelbar sicherheitsgefährdend eingestuft. Im Gegensatz zur einfachen Wiederholungsgefahr (Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO, neue Fassung ebenfalls in Kraft seit 1. Januar 2024) verlange der Wortlaut von Art. 221 Abs. 1bis lit. a StPO denn auch keine (zusätzliche) «unmittelbare Sicherheitsgefährdung» (BGE 7B_155/2024 vom 5. März 2024, E. 3.7).
22. April 2024 / © Prof. Dr. Marc Forster, RA
Do
02
Nov
2023
Die WHO treibt auf zwei Ebenen einen transnationalen Rechtsrahmen voran, zur Pandemiebekämpfung und zur Vorsorge gegenüber – breit und unklar definierten – "globalen Gesundheitsnotständen". Zum einen soll ein neuer WHO-Vertrag zur Pandemievorsorge abgeschlossen werden. Die Entscheidung, diesen neuen Vertrag auszuhandeln, wurde im Dezember 2021 auf der zweiten Sondersitzung der Weltgesundheitsversammlung (WHA) getroffen. Zweitens wird der bereits seit 2002 bestehende multilaterale Vertrag zur Regelung von "globalen Gesundheitsnotständen" überarbeitet. Der Beschluss, diesen Prozess einzuleiten, wurde von der WHA im Mai 2022 gefällt. Nach dem Fahrplan der WHO sollen diese neuen Rechtsgrundlagen von den Vertragsstaaten und WHO-Gremien im Mai 2024 bewilligt werden.
Diese folgenreiche Entwicklung des transnationalen Rechtsrahmens zur Bekämpfung von Pandemien und sogenannten "globalen Gesundheitsnotständen" stösst bei Expertinnen und Experten der Grundrechte und des Medizinrechts auf grosse Bedenken. Sie rufen dringend zu einer offenen Debatte auf. Zu hoffen ist, dass dieser offene faktenbasierte Diskurs nicht vom WHO-spezifischen organisierten "Pre-Bunking" unterdrückt und gestört werden wird (Zensur und Diskreditierung von unliebsamen, nach Meinung von WHO-Funktionären angeblich irreführenden Informationen in Medien und elektronischen Foren).
In der hier beigefügten Analyse der Global Health Responsibility Agency werden zusammengefasst folgende Tendenzen der WHO-Bestrebungen kritisiert ("Die Pandemiegesetzgebung der WHO: Besorgniserregende Verhandlungen von internationaler Tragweite, Oktober 2023, Autorin: Dr. Amrei Müller, © 2023 Global Health Responsibility Agency, S. 47 f.):
Erstens werden die besonderen Befugnisse der WHO, einen globalen Gesundheitsnotstand (PHEIC) auszurufen und "den Staaten medizinische und nicht-medizinische Gegenmassnahmen zu empfehlen, erheblich zunehmen".
Zweitens "werden in Zukunft über das geplante globale Bioüberwachungssystem große Mengen an biologischem Material- und Genomsequenzdaten gesammelt und ausgetauscht. Dies erhöht nicht nur die Wahrscheinlichkeit der Entdeckung neuer oder wiederauftretender Erreger mit (angeblichem) PHEIC-/Pandemiepotenzial, sondern schafft auch Anreize für hochgefährliche Gain of Function-Forschung".
Drittens "soll die präventive Forschung und Entwicklung zu Krankheitserregern mit PHEIC-/Pandemiepotenzial erheblich ausgeweitet werden, insbesondere die Forschung und Entwicklung von mRNA-basierten Impfstoffen".
Viertens "soll die rasche Notfallzulassung von PHEIC-/Pandemieprodukten im internationalen und regionalen Recht sowie in den nationalen Rechtsordnungen aller WHO-Mitgliedstaaten ermöglicht werden".
Fünftens "wird die WHO teilweise in eine Agentur umgewandelt, die die weltweite Produktion, Beschaffung und Verteilung von PHEIC-/Pandemieprodukten" leitet und koordiniert, "wobei die WHO-Mitgliedstaaten verpflichtet sein werden, ihre eigenen Produktions- und Verteilungsnetze für solche Produkte auf- und auszubauen".
Sechstens "wird ein biomedizinisches System für die Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs unter Verwendung digitaler Gesundheitspässe über weltweit interoperable Digitalplattformen aller Wahrscheinlichkeit nach Realität werden".
Siebtens "sollen die Staaten in ihre Gesundheitsinfrastruktur investieren, damit sie in der Lage sind, die von der WHO empfohlenen medizinischen und nicht-medizinischen PHEIC-Gegenmassnahmen, einschließlich Massenimpfkampagnen, durchzuführen". Dabei dürften "große Teile staatlicher Gesundheitsbudgets für die Prävention, Vorbereitung und Reaktion auf PHEIC/Pandemien ausgegeben werden" müssen, "besonders in Staaten mit geringem Einkommensniveau".
Achtens "wird das weltweite ‚Pre-Bunking‘ und ‚De-Bunking‘ – einschließlich direkter Zensur – von durch die WHO definierten Fehlinformationen oder Desinformationen über Erreger und Krankheiten, die einen PHEIC bzw. eine Pandemie verursachen, voraussichtlich erheblich zunehmen".
Die Verabschiedung und Umsetzung dieser von der WHO-Doktrin inspirierten Reformvorschläge, "wird daher wahrscheinlich
weltweit weitreichende negative Folgen für die Gesundheit und den Menschenrechtsschutz haben. Sie werden die Rechte und
Pflichten der Staaten aushöhlen, nationale Gesetze und Politiken im Gesundheitsbereich festzulegen und umzusetzen, die den
vorrangigen Gesundheitsbedürfnissen der Bevölkerung entsprechen und die Menschenrechte auf Gesundheit, Privatsphäre, Meinungsfreiheit, körperliche Unversehrtheit, Leben und Freiheit von Folter oder unmenschlicher oder
erniedrigender Behandlung respektieren und gewährleisten."
Ausserdem werden sie "die undurchsichtige Durchmischung des öffentlichen und privaten Sektors in internationalen Gesundheitsinstitutionen wie der WHO vorantreiben, indem sie philanthropischen Stiftungen, multinationalen Unternehmen und öffentlich-privaten Partnerschaften immer mehr Einfluss auf die globale Pandemiepolitik (und damit Macht) verleihen. Dies bringt nicht nur zusätzliche Interessenkonflikte für die WHO mit sich und erhöht die Möglichkeiten für Profitmacherei in PHEIC-/Pandemiesituationen durch diese privaten Akteure. Es führt auch zu einer weiteren Streuung der internationalen Verantwortlichkeiten und verhindert damit die Einrichtung wirksamer Rechenschaftsmechanismen für Schäden, die durch globale Pandemie-/PHEIC-Präventions- und Reaktionsprogramme verursacht werden. Die Reformen schaffen zudem Anreize für hochgefährliche Gain of Function-Forschung. Nicht zuletzt wird die Umsetzung dieser Reformen immense (öffentliche) Ressourcen benötigen".
Vor diesem Hintergrund ruft die Global Health Responsibility Agency dringend auf "zu einer offenen und umfassenden Debatte über die geplanten Änderungen des Vertrags zur Regelung von "globalen Gesundheitsnotständen" und zum geplanten neuen WHO-Pandemievertrag und ihre weitreichenden Auswirkungen in allen WHO-Mitgliedstaaten". Dies müsse "ein erster Schritt sein, um die besorgniserregenden Verhandlungen von internationaler Tragweite und ihre potenziell weitreichenden negativen Folgen für die menschliche Gesundheit und den Menschenrechtsschutz weltweit zu stoppen".
(Dokument hochgeladen von Prof. Dr.iur. Marc Forster/2.November 2023)
Do
07
Sep
2023
Strafbewehrte Impfobligatorien
Auf dem Höhepunkt der Corona-Epidemie haben vereinzelte Länder allgemeine oder partielle Impfobligatorien eingeführt, mit denen die Bevölkerung unter Strafdrohung zu Prophylaxe-Anstrengungen gegen die Lungenkrankheit Covid-19 bewegt werden sollte. In Europa hat Deutschland eine einrichtungsbezogene
Impfpflicht (Bundeswehr, Spitäler und Pflegeeinrichtungen) eingeführt, Österreich sogar ein generelles strafbewehrtes Impfobligatorium, Italien (das 2019/20 von
der Coronawelle besonders stark betroffen war) eine Impfpflicht für ältere Menschen ab 50 Jahren. Griechenland sah für über 60-jährige Ungeimpfte konfiskatorische
Dauerbussen von monatlich EUR 100.-- vor. In der Schweiz wurden Forderungen nach einem Corona-Impfobligatorium vor allem in den Medien erhoben. Die deutsche Bundesregierung hat sich noch im April 2022 (bereits unter der Dominanz der Omikron-Variante) vergeblich darum bemüht, ein allgemeines Impfobligatorium zu legiferieren; Österreich
hat seine allgemeine strafbewehrte Impfpflicht zunächst beschlossen und dann 2022 wieder sistiert.
Grundrechtliche Problematik
Bei aller berechtigter gesundheitspolitischer Besorgnis (teilweise begleitet von grosser medialer Aufregung) muss aus rechtsstaatlicher Warte bedacht werden, dass ein strafbewehrtes Corona-Impfobligatorium massive grundrechtliche Konsequenzen nach sich zöge. Die Menschen könnten nicht mehr frei wählen, welche Pharmaprodukte ihnen zu welchem Zweck in den Körper gespritzt werden; für die freie Ausübung ihrer diesbezüglichen elementaren Grundrechte würde ihnen sogar eine Bestrafung drohen. In Österreich z.B. waren massive kumulierbare Geldstrafen von mehreren tausend Euro vorgesehen. Ein solcher Schwersteingriff in die elementaren Grundrechte bedarf einer äusserst sorgfältigen juristischen Legitimationsprüfung und Interessenabwägung. Das muss besonders bei neuartigen Pharmaprodukten gelten, im vorliegenden Fall mRNA-Präparaten, die erst provisorisch und ohne klinische Doppelblindstudien zugelassen waren, bei denen noch wenig Erfahrungen betreffend immunologische Langzeitfolgen und unerwünschte Nebenwirkungen hatten gesammelt werden können und für deren massenweisen Einsatz die Produzenten auch noch jegliche Haftung ablehnten.
Interdisziplinäre Untersuchung an der Universität St.Gallen
Die Coronakrise hat die ganze Welt ab 2019 sehr massiv und unvorbereitet getroffen. Auch in der Schweiz hat sie die Justiz vor grosse Herausforderungen gestellt, die sie in unserem Land rasch und inhaltlich zumeist massvoll und überzeugend löste (vgl. dazu Marc Forster, Strafrecht, Justiz und Menschenrechte in Zeiten von Covid-19, SJZ 2020, S. 451 ff.). Demgegenüber hat sich die Rechtswissenschaft (im gesamten deutschsprachigen Raum) zur Problematik der Corona-Massnahmen nicht gerade mit "Lorbeeren" überhäuft. Als eine der (ziemlich überschaubaren) positiven Ausnahmen sei hier die pionierhafte Untersuchung von Silvia Behrendt/Amrei Müller genannt (auf: Jusletter vom 20. Dezember 2021 und 24. Januar 2022). Soeben ist auch ein Forschungsbeitrag der Universität St. Gallen erschienen, welcher aus rechtsmedizinisch-juristischer Perspektive die Grundrechtskonformität einer strafbewehrten Corona-Impfpflicht untersucht (Fabienne Gmünder, Masterarbeit Uni SG 2023). Interdisziplinäre Forschungsleiter waren der Rechtsmediziner Prof. Dr.med. Roland Hausmann und der Strafrechtler Prof. Dr.iur. Marc Forster.
Resultate
Die St.Galler Untersuchung unterscheidet zwischen den tatsächlichen Gegebenheiten unter der Dominanz der Delta-Variante des
SARS-CoV-2-Virus (mit ihren für den Krankheitsverlauf von Covid-19 ebenfalls besonders gefährlichen Vorläuferinnen bis ca. Herbst 2021) und der seither dominanten
Omikron-Variante. Aus juristisch-rechtsmedizinischer Sicht ist diese Differenzierung wichtig, da sich unter den Gesichtspunkten der Geeignetheit, Notwendigkeit und Zumutbarkeit
eines Impfobligatoriums diverse Parameter und Erkenntnisse verändert haben. Der Forschungsbeitrag kommt zum Schluss, dass ein
generelles Impfobligatorium selbst unter der Delta-Variante grundrechtswidrig (gewesen) wäre (MA S. 45 f., 55). Angesichts möglicher (wenn auch seltener)
schwerer Nebenwirkungen und "Impfschäden" und der deutlich selteneren schweren Krankheitsverläufe bei jungen Personen, wird eine strafbewehrte Impfpflicht für
junge Menschen als unverhältnismässig eingestuft (S. 46, 55). Unter dem Einfluss einer relativ gefährlichen Virusvariante (Delta und ähnliche)
wird hingegen ein partielles gesetzliches Impfobligatorium für professionelles Pflegepersonal, das in engem Körperkontakt mit betagten oder
gesundheitlich besonders vulnerablen Personen steht, für zumutbar und
vertretbar angesehen. Ebenso wird für gefährliche Varianten eine Impfpflicht für betagte Personen ins Auge gefasst. Allerdings räumt die Untersuchung ein, dass es
verfassungsrechtlich und kriminalpolitisch schwierig wäre, für den schweren grundrechtlichen Eingriff einer strafbewehrten Impfpflicht ein nichtdiskriminierendes
und sachlich überzeugendes Alters- und Vulnerabilitätskriterium festzulegen.
Eignung der "Impfung"
Zentral ist die juristische Prüfung der Verhältnismässigkeit eines (allgemeinen oder partiellen) Impfobligatoriums. Bei der Eignung der Massnahme ist zunächst zu untersuchen, welches gesetzgeberische Ziel mit einer mRNA-Impfung gegen Covid-19 realistischerweise erreichbar ist. Eine sterilisierende Impfung im engeren Sinne (wie etwa gegen Masern) ist im Falle des Coronavirus nicht möglich. Vielmehr schützt die Impfung (nur aber immerhin) vor schweren Verläufen und sie hemmt auch in gewissem Umfang die Übertragbarkeit des Virus. Im Fokus steht daher als realistisches Ziel die Vermeidung einer grossen Welle von schweren Erkrankungen mit der Folge einer drohenden Überlastung der Spitäler (vgl. MA S. 39). Gestützt auf die bisherigen medizinischen Forschungsresultate zur Wirksamkeit der mRNA-"Impfung" zeigt sich dabei folgendes Bild:
Der Impfstoff von Pfizer-BioNTech gegen SARS-CoV-2-Infektionen (und auch
spezifisch gegen Varianten) lässt bei vollständig geimpften Erwachsenen innerhalb von sechs Monaten nach. Tartof et al. stellten fest, dass die
Wirksamkeit gegen Nicht-Delta-Varianten einen Monat nach vollständiger Impfung bei 97% lag und nach fünf Monaten auf bis zu 67% abfiel. Für die
Delta-Variante belief sich die Wirksamkeit einen Monat nach vollständiger Impfung auf 93%, sank jedoch nach fünf Monaten auf 53%. In zahlreichen Studien wurde
nachgewiesen, dass Antikörper, die durch Impfungen hervorgerufen werden, insb. die jüngsten Virusvarianten weniger effektiv neutralisieren können. Eine US-amerikanische Studie von
Weinberger zeigt, dass die Wirksamkeit der mRNA-Impfstoffe gegen eine Infektion mit SARS-CoV-2 nach 8 Monaten von über 90% auf 70-80% abfällt; jedoch bleibt die
Wirksamkeit gegen Hospitalisierung nahezu konstant bei rund 90%. Personen, die mehr als sechs Monate zuvor zwei Dosen mRNA-Impfstoff erhalten haben, sind besser
gegen Delta als gegen Omikron geschützt, wobei die dritte Dosis die Schutzwirkung gegen Hospitalisierung auf 94% (Delta) bzw. 90% (Omikron) erhöht (vgl. MA S.
13).
Was die Nebenwirkungen des "Spikens" betrifft, hatte der Generaldirektor der
WHO noch in einer offiziellen Pressemitteilung vom 1. Dezember 2021 sämtliche Sicherheitsbedenken, die sich aus einer grossen Anzahl von Verdachtsmeldungen an die
Frühwarn-Datenbank VigiAccess über Nebenwirkungen nach der COVID-19-Impfung ergeben haben, mit Hinweis auf die hohen Impfraten rundweg zurückgewiesen. Demgegenüber hat SWISS-MEDIC in der
Zeitspanne vom 1. Januar 2021 bis zum 22. Februar 2023 Verdachtsmeldungen von unerwünschten Wirkungen der COVID-19-Impfungen in der Schweiz ausgewertet. Insgesamt wurden 16'855
Verdachtsfälle gemeldet, wobei 10'365 (61.5%) als nicht schwerwiegend und 6'490 Verdachtsfälle (38.5%) als
schwerwiegend eingestuft wurden. Verabreicht wurden in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein 16'981'243 Impfdosen. Daraus ergibt sich eine Melderate von 0.99 pro 1'000
verabreichten Dosen (MA S. 14 f.). Hier ist allerdings noch zusätzlich einer nicht unerheblichen Dunkelziffer Rechnung zu tragen. Jedenfalls erscheint es nicht ohne weiteres
garantiert, dass impfende Ärzte und Medizinalpersonal auch alle schweren Verdachtsfälle melden, zumal die damit verbundenen Haftungsfragen und
strafrechtlichen Probleme (etwa Fragen zur ausreichenden Aufklärung und zur rechtswirksamen Einwilligung) juristisch noch ungeklärt erscheinen.
Bedenklich wirkt sich aus juristischer Sicht aus, wenn vorher gesunde Menschen ohne schweres Covid-19-Erkrankungsrisiko erst nach einer behördlich empfohlenen oder gar gesetzlich obligatorischen Impfung schwerwiegend anderweitig erkranken. In den meisten skandinavischen Ländern wurde die Impfung von jungen Männern aufgrund zahlreicher Myokarditis-Verdachtsfälle ab Frühling 2021 sukzessive gestoppt. Weitere schwere (wenn auch seltene) Nebenwirkungen aus der medizinischen Praxis (wie z.B. Schlaganfälle, Gürtelrosen, allergische Schocks, Karzinom-Rezidive usw.) bilden noch Gegenstand von internationalen Untersuchungen.
Erforderlichkeit
Weiter untersucht der Forschungsbeitrag (unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit des Grundrechtseingriffes), welche medizinischen Notlage mit einem Impfobligatorium gebannt werden soll und ob dafür auch mildere Massnahmen ausreichen könnten. Die Virusvarianten bis Delta (dominant bis ca. Sommer 2021) brachten das Gesundheitssystem (2019-2020) nahe an seine Belastungsgrenzen. Seit Omikron (ca. Herbst 2021) haben sich die massgeblichen Fakten merklich verändert. Zum einen sind deutlich weniger schwere Verläufe zu verzeichnen, sodass wegen Covid-19 kein Gesundheitsnotstand in den Notfallstationen der Spitäler auftrat. Zum anderen sind auch die Behandlungsmöglichkeiten für schwere Erkrankungen unterdessen deutlich verbessert worden, zumal Erfahrungen gesammelt und medizinische Fortschritte erzielt werden konnten. Als mildere Massnahmen (im Vergleich zum Impfobligatorium) bieten sich – zumindest seit der Dominanz von Omikron – etwa ein Testobligatorium und ein Quarantäne-Obligatorium für positiv Getestete an, wie sie unter der Geltung der Covid-19-Gesetzgebung bereits vorübergehend zur Anwendung kamen (MA S. 42 f.).
Die St.Galler Untersuchung berücksichtigt auch Studien zur Impfbereitschaft der Bevölkerung. Das Vertrauen der Schweizerinnen und Schweizer in ihre Institutionen ist im internationalen Vergleich zwar generell hoch. Eine hohe Bereitschaft zur freiwilligen Corona-Impfung hängt aber, neben vertrauenswürdigen und wirksamen Impfstoffen, auch noch wesentlich davon ab, dass ausreichend und objektiv über die Vor- und Nachteile der Impfung informiert wird. Nicht nur in der Schweiz haben die verantwortlichen Behörden nur sehr spärlich und vage über potenzielle Nebenwirkungen informiert, auch als bereits bekannt war, dass Corona-Impfungen zu schweren Nebenwirkungen führen können. Laut einer dänischen Studie kann eine transparente Kommunikation, die auch negative Aspekte nennt, zwar die Akzeptanz der Impfung etwas schmälern, jedoch stärkt sie gleichzeitig das Vertrauen in die Gesundheitsbehörden und wirkt der Verbreitung von sogenannten "Verschwörungstheorien" entgegen. Fraglich erscheint, ob es überhaupt zielführend sein kann, mittels massivem indirektem Zwang (bis hin zum Ausschluss vom kulturellen und sozialen Leben) bzw. unter Androhung von Bussen oder anderen Nachteilen die Willensfreiheit der Bevölkerung bei der Frage von Impfungen beeinflussen zu wollen (MA S. 16 f., mit Hinweisen auf Hehli und Vokinger/Rohner).
Zumutbarkeit
Als entscheidend für die Frage der grundrechtlichen Zulässigkeit eines Impfobligatoriums erweist sich das Kriterium der Zumutbarkeit (sog. "Zweck-/Mittel-Relation" bzw. Verhältnismässigkeit im engeren Sinne). Zunächst ist zu prüfen, in welches Grundrecht eingegriffen wird: Die medizinische Selbstbestimmung und das Recht, selber entscheiden zu dürfen, welche Substanz man wann in den Körper gespritzt erhält, gehört zum Kernbereich der Menschenrechte. Ein Impfobligatorium greift aber nicht nur in die körperliche sondern auch in die geistige Unversehrtheit des Menschen ein; sie umfasst das Recht, Situationen eigenständig zu bewerten und in Übereinstimmung mit dieser Bewertung zu handeln (MA S. 20, u.a. mit Hinweis auf Zeder). Die Durchführung einer Impfung ist nur dann gestattet, wenn zuvor eine ausführliche Aufklärung des Impflings erfolgt ist und dieser daraufhin seine Zustimmung zur Durchführung der Impfung erteilt hat (MA S. 21). Dabei ist auch auf mögliche Nebenwirkungen einer Impfung hinzuweisen. Nach herrschender Lehre und Praxis läge ohne eine solche Einwilligung in einen invasiv-medizinischen Eingriff (sog. "informed consent") sogar – per se – eine strafbare Körperverletzung vor.
Besonders heikel wirkt sich vor diesem grundrechtlichen Hintergrund sogenannter indirekter staatlicher Zwang aus. Dazu gehörten der zeitweise komplette Ausschluss von Nichtgeimpften – selbst mit negativen Corona-Tests – vom sozialen und kulturellen Leben (etwa Bibliotheken, Theater, Fitnesszentren, Schwimmbäder, Gottesdienste, Kinos, Restaurants, Bars oder Diskotheken). In Deutschland wurde 2G sogar an einigen Hochschulen eingeführt. Dass die Studierenden an Freiburger (Ue./Schweiz) Hochschulen die Testkosten (mit monatelangen Tests als Zulassungsvoraussetzung) selber bezahlen mussten, hat das Bundesgericht als verfassungswidrig eingestuft. Die St.Galler Untersuchung äussert auch Kritik an den vom Bundesrat im Dezember 2021 eingeführten 2G-Regeln. Im Klartext bedeutete 2G, dass infizierte und kranke (aber "geimpfte") Personen ungehindert und ohne Tests Diskotheken, Bars und Gottesdienste besuchen konnten, während mit grosser Wahrscheinlichkeit gesunde (negativ auf das Coronavirus getestete) Ungeimpfte ausgeschlossen wurden. Diese kontraproduktive (wenn nicht gar gefährliche) Regelung wurde zwar im Namen einer angeblichen "Epidemiebekämpfung" erlassen; ihr erkennbarer Zweck erschöpfte sich jedoch in der zusätzlichen Verschärfung des gesellschaftlichen Drucks auf Ungeimpfte bzw. in deren sozialer Stigmatisierung.
Beim Kriterium der (partiellen) Zumutbarkeit einer strafbewehrten Impfpflicht ist zu unterscheiden, welche Bevölkerungsgruppen zu dem medizinisch-gesellschaftlichen Notstand, der durch mRNA-Impfungen realistischerweise vermieden werden soll, besonders stark beitragen. Primär sind dies betagte und gesundheitlich vulnerable Menschen. Gleichzeitig profitieren diese (statistisch gesehen) aber auch individuell mehr vom Impfschutz, da sie ohne Impfung besonders stark von schweren Krankheitsverläufen betroffen sind (MA S. 42). Kinder und junge Menschen hingegen haben im Durchschnitt deutlich weniger schwere Krankheitsverläufe. Hinzu kommt noch, dass bei jungen Menschen statistisch auffällig viele erhebliche Nebenwirkungen auftreten, weshalb (etwa ab Frühling 2021) die Corona-Durchimpfung junger Menschen in Skandinavien praktisch eingestellt wurde. Das Verhältnis zwischen Nutzen und Risiko wird für Junge auch noch dadurch verschlechtert, dass erstens (in eher seltenen Einzelfällen) sogar schwere Impfschäden auftreten können (MA S. 42) und zweitens die noch nicht ausreichend erforschten Langzeitwirkungen für Junge eine grössere Bedeutung haben als für betagte Menschen.
Fazit
So sehr eine vorsichtige und restriktive Pandemiepolitik im Zeitraum 2020-21 grundsätzliches Verständnis verdient hat, müssen
massiver indirekter Impfzwang, behördlich-mediale Desinformationen, fragwürdige 2G-Regelungen und strafbewehrte
Impfobligatorien (ab ca. Herbst 2021) aus rechtsmedizinischer und rechtswissenschafticher Warte kritisch analysiert und bewertet werden. Den
Grundrechten ist auch – und gerade – in "pandemisch-phobischen Zeiten" Nachachtung zu verschaffen. Als mühsam erkämpfte zivilisatorische Errungenschaften sind
sie zu wertvoll, um auf Worthülsen einer "Schönwetterpolitik" und wohlklingende Stichworte für Festreden reduziert zu werden (kritisch zum diesbezüglichen Grundrechtsrelativismus in einer phobisch mediatisierten Gesellschaft s. Marc Forster, Kriminalpolitik und
Kriminalpraxis vor alten und neuen Herausforderungen, in: Genillod et al. [Hrsg.], SAK-Tagung Interlaken 2021, Bd. 39, Basel 2022, S. 3 ff., 12 f.).
© Prof. Dr. Marc Forster / 7. September 2023
Do
23
Mär
2023
Am 1. Januar 2024 wird das revidierte Entsiegelungsrecht in Kraft treten (nArt. 248-248a StPO; im Parlament verabschiedet am 17. Juni 2022, vgl. BBl 2022 1560, S. 8 f.). Das Kernproblem des bisherigen Rechts bildeten die lange Verfahrensdauer bzw. das Missbrauchspotential für Verfahrensverschleppungen. Zur Beschleunigung der Entsiegelungsverfahren sollen künftig insbesondere die restriktivere Definition der siegelungsfähigen Aufzeichnungen und Gegenstände sowie Vorschriften zur Straffung des Verfahrens beitragen.
Mit der Ausdehnung der Siegelungsberechtigung und der Verfahrensteilnahme auf Drittpersonen, welche nicht Inhaberinnen der sichergestellten Aufzeichnungen und Gegenstände sind, aber eigene geschützte Geheimnisrechte (aufgrund von Art. 264 Abs. 1 StPO) anrufen können, wird die betreffende Praxis des Bundesgerichtes in der StPO verankert. Als Beispiel sei der Fall eines Arztes genannt, in dessen Praxis Patientenunterlagen sichergestellt werden.
Nach der neuen Regelung kann primär der Arzt als Inhaber der Aufzeichnungen und Träger des Berufsgeheimnisses die Siegelung beantragen (nArt. 248 Abs. 1 Satz 1 StPO). Da für die Staatsanwaltschaft (StA) aber erkennbar ist, dass hier eigene höchstpersönliche, intime Geheimnisse die mitbetroffenen Patientinnen und Patienten tangiert sind, hat die StA diesen als berechtigten Personen ebenfalls Gelegenheit zu geben, die Siegelung zu verlangen (nArt. 248 Abs. 2 StPO). Dies muss zumindest dann gelten, wenn der Arzt selber kein Siegelungs-begehren gestellt hat. Soweit die Patienten entsprechende eigene Geheimnis-rechte (Arzt- und Patientengeheimnis) geltend machen, sind sie als berechtigte Personen zu behandeln und im Entsiegelungsverfahren als Parteien beizuziehen (nArt. 248a Abs. 3 und Abs. 5 StPO). Falls erst das Entsiegelungsgericht erkennt, dass hier neben dem Arzt (als Inhaber) auch die Patienten selbstständig berechtigt sind, so sind Letztere über das Siegelungsbegehren des Arztes zu informieren (nArt. 248a Abs. 2 StPO) und als berechtigte Personen ins Verfahren beizuziehen.
Gemäss der klaren Regelung von nArt. 248 Abs. 2 StPO hat die StA auch den eigenständig berechtigten Drittpersonen, im Beispiel also den mitbetroffenen Patientinnen und Patienten, Gelegenheit zu geben, die Siegelung zu verlangen. Selbst wenn erst das Entsiegelungsgericht erkennt, dass sie (betreffend Patien-tengeheimnisse) berechtigt sind, müssen sie noch nachträglich zum Entsiegelungsverfahren beigezogen werden (nArt. 248a Abs. 2-5 StPO). Es fragt sich, ob dieser selbstständige Rechtsschutz auch für Klienten von Anwälten gelten muss. Nach der im hier vertretenen Auffassung ist dies jedenfalls dann zu bejahen, wenn der Anwalt als Inhaber kein Siegelungsbegehren gestellt hat. Die mitbetroffenen Klienten können eigene Interessen an der Wahrung des Anwaltsgeheimnisses haben (die den Anwalt nicht tangieren). Sofern der Anwalt ein Siegelungs-begehren stellt, ist er als Inhaber an den bei ihm sichergestellten Aufzeichnungen "berechtigt" und kann auch die Interessen seiner Klientschaft wahren. Da die neue Regelung diesbezüglich die bisherige Praxis des Bundesgerichtes abbildet, ist daraus keine spürbare Beschleunigung und Vereinfachung des Verfahrens zu erwarten.
Auch die dreitägige Frist für das Siegelungsbegehren des Inhabers oder der Inhaberin (nArt. 248 Abs. 1 Satz 2 StPO) trägt nur wenig zur gesetzgeberisch angestrebten Verfahrensbeschleunigung bei. Schon nach der bisherigen Rechtsprechung war das Siegelungsbegehren grundsätzlich innert wenigen Tagen zu stellen.
Von erheblicher (normativer) Bedeutung ist die vom Parlament bewusst vorgenommene Einschränkung der möglichen Siegelungsgründe und Durchsuchungshindernisse. Der Siegelung – und damit einem möglichen Durchsuchungs-hindernis im Verfahren nach nArt. 248 f. StPO – unterliegen nach der im Parla-ment verabschiedeten Fassung nur noch Aufzeichnungen oder Gegenstände, die "aufgrund von Art. 264 StPO nicht beschlagnahmt" werden dürfen. Einer Entsiegelung und Durchsuchung können somit künftig nur noch die (allgemeinen) gesetzlichen Zwangsmassnahmenhindernisse von Art. 197 StPO in Verbindung mit einem besonderen Beschlagnahmehindernis gemäss Art. 264 Abs. 1 StPO entgegen stehen. Zwar wurde diese Einschränkung der gesetzlichen Siegelungs-gründe im Gesetzgebungsverfahren ausführlich diskutiert (vgl. Botschaft 2019, S. 6750 f.; Votum BR Keller-Sutter, AB NR 2021 S. 618) und in der Literatur teilweise kritisiert. Der Gesetzgeber hat sich jedoch in Kenntnis dieser Einwände und Gegenvorschläge für die restriktive Lösung (gemäss Expertengruppe NR 2021) entschieden.
Zeugnis- und Aussageverweigerungsrechte ausserhalb der Berufs- und Amtsgeheimnisse nach Art. 264 Abs. 1 lit. a und c-d StPO bilden somit künftig keine möglichen Entsiegelungshindernisse mehr. Das gilt etwa für alle Zeugnis- und Aussageverweigerungsrechte ausserhalb von Art. 170-173 StPO, nämlich solche aufgrund persönlicher Beziehungen gemäss Art. 168 f. StPO, für den nemo tenetur-Grundsatz (Art. 113 Abs. 1 StPO), das Bankkundengeheimnis oder für allgemeine Geschäfts- und Fabrikationsgeheimnisse. Falls kein Siegelungsgrund (geschütztes Geheimnisinteresse) nach Art. 264 Abs. 1 StPO angerufen werden kann, bildet auch der akzessorische Einwand der Untersuchungsrelevanz bzw. der fehlenden Verhältnismässigkeit (Art. 197 Abs. 1 lit. c StPO) kein Entsiegelungs-hindernis. Das Entsiegelungsverfahren dient nicht der allgemeinen Prüfung der der Verhältnismässigkeit von Zwangsmassnahmen, sondern dem Geheimnis-schutz im Hinblick auf die Durchsuchung von Aufzeichnungen und Datenträgern (Art. 246 StPO). Dies gilt schon nach der ständigen bisherigen Praxis des Bundesgerichtes. Die allgemeinen Zwangsmassnahmen-voraussetzungen von Art. 197 StPO sind folglich nur bei Substanziierung von gesetzlich geschützten Geheimnissen (zusätzlich) zu prüfen. Auf ein Entsiegelungsgesuch ist hingegen (mangels gültigem Siegelungsbegehren) nicht einzutreten, falls keine gesetzlich geschützten Geheimnisrechte wenigstens kursorisch angerufen wurden. Falls sich erst nach Substanziierung und näherer Prüfung im Entsiegelungsverfahren ergibt, dass keine Geheimnisse gemäss Art. 264 Abs. 1 StPO tangiert sind, ist das Entsiegelungsgesuch gutzuheissen.
Auch hier sind die praktischen Auswirkungen der Revision eher gering, da schon nach bisheriger Rechtsprechung die primären Entsiegelungshindernisse von Art. 197 Abs. 1 i.V.m. Art. 264 Abs. 1 StPO stark im Vordergrund standen. Weder das Bankkundengeheimnis (BankG, mit Vorbehalt der strafrechtlichen Beweiserhe-bung) noch der nemo tenetur-Grundsatz (mit Einschränkung in Art. 113 Abs. 1 Satz 3 StPO) wurden in der Praxis als Entsiegelungshindernisse anerkannt. Neben den besonderen gesetzlichen Zeugnis- und Aussageverweigerungsrechten (Berufs- und Amtsgeheimnisse) nach Art. 264 Abs. 1 lit. a und c-d StPO verbleiben somit praktisch nur noch für den Persönlichkeitsschutz relevante Privat-geheimnisse, nämlich persönliche Aufzeichnungen und Korrespondenz der beschuldigten Person, als möglicher Siegelungsgrund (Art. 264 Abs. 1 lit. b StPO). Diese Privatgeheimnisse sind allerdings noch gegenüber dem jeweiligen Strafver-folgungsinteresse abzuwägen.
Gestützt auf den Entwurf 2019 und den Vorschlag der Rechtskommission des Nationalrates (2021) wird das Zwangsmassnahmengericht neu auch im erstin-stanzlichen Gerichtsverfahren für Entsiegelungen zuständig sein. Zwar erscheint es inkonsequent, dass im Berufungsverfahren (nArt. 248a Abs. 1 lit. b StPO spricht etwas erratisch von "den anderen Verfahren") die Verfahrensleitung des Berufungsgerichts zuständig bleibt. Die betreffende Kritik in Teilen der Literatur ist allerdings in die Revision nicht eingeflossen.
Grössere Auswirkungen auf die Beschleunigung und Verfahrensstraffung wird nArt. 248a StPO nach sich ziehen. Absatz 3 der Bestimmung sieht vor, dass die berechtigte Person schriftliche "Einwände gegen das Entsiegelungsgesuch" innert einer nicht erstreckbaren (gesetzlichen) Frist von 10 Tagen vorzubringen hat. Da in der bisherigen Praxis solche Fristen oft mehrmals und über mehrere Wochen und Monate hinweg richterlich erstreckt wurden, trägt diese neue Bestimmung zur Beschleunigung bei. Analoges gilt grundsätzlich auch für die gesetzliche Entscheidungsfrist von ebenfalls 10 Tagen (nach Eingang der Stellungnahme) in "spruchreifen" Fällen (Abs. 4), das heisst, wenn keine richterliche Triage der gesiegelten Aufzeichnungen nötig ist und auch sonst kein zwingender sachlicher Grund für eine mündliche Entsiegelungsverhandlung vorliegt. Bei solchen Entscheidungsfristen stellt sich allerdings regelmässig die Frage nach deren blossem Ordnungscharakter bzw. nach den Folgen einer Missachtung der Frist, insbesondere in sachlich begründeten Fällen. Analog zu den Entscheidungsfristen bei Haftverfahren wird eine sachlich begründete und massvolle Überschreitung der Frist nicht ohne weiteres zur Rückgabe der gesiegelten Aufzeichnungen an die Inhaber führen.
Die weiteren Fristvorschriften (von nArt. 248a Abs. 5 StPO) betreffend Durch-führung einer Entsiegelungsverhandlung innert 30 Tagen (nach Eingang der Stellungnahme in nicht "spruchreifen" Fällen) und den "unverzüglichen" Entsie-gelungsentscheid (nach durchgeführter Verhandlung) werden die erstinstanz-lichen Verfahren in der Regel ebenfalls deutlich beschleunigen. Auch die 30-Tages-Frist und die Vorschrift eines "unverzüglichen" Entscheides (innert Tagen bis wenigen Wochen) dürften allerdings blossen Ordnungscharakter in dem Sinne haben, dass ihre Missachtung bzw. massvolle Überschreitung in sachlich begrün-deten Fällen nicht (per se) zur Rückgabe der gesiegelten Aufzeichnungen führt.
In einem neuen Forschungsbeitrag der Universität St. Gallen wird der Reformweg des Entsiegelungsrechts analysiert, vom Vorentwurf 2017 der Expertengruppe BJ, über den darauf gestützten Entwurf des Bundesrates (2019) und die Änderungsvorschläge der Rechtskommission des Nationalrates (2021) bis zur Schlussabstimmung der Räte am 17. Juni 2022 (vgl. Andrina Singenberger, Probleme des Entsiegelungsrechts im Lichte der Revision StPO, Masterarbeit Uni SG, November 2022, S. 37 f.). Dabei werden die bisherige Rechtslage, Kritik und Revisionsvorschläge der Fachliteratur sowie die erfolgte Reform einer kritischen Würdigung unterzogen (vgl. dazu MA S. 36-60).
© Prof. Dr. Marc Forster, RA / 23. März 2023
Nachtrag:
Beschwerde ans Bundesgericht in Entsiegelungssachen auch nach neuem Recht (nArt. 248a StPO, nArt. 80 Abs. 2 BGG):
Wegen einer irrtümlichen Äusserung in einem Teil der Materialien ist in Fachkreisen die Frage aufgeworfen worden, ob nach Inkrafttraten der neuen StPO weiterhin die Beschwerde an das Bundesgericht gegen Entsiegelungs-entscheide der Zwangsmassnahmengerichte zulässig ist. Die Frage ist eindeutig zu bejahen:
Herr B. Stadelmann (Bundesamt für Justiz) äusserte sich anlässlich der Sitzung der nationalrätlichen Kommission für Rechtsfragen vom 8./9. Oktober 2020 missverständlich ("ein Verzicht auf das Prinzip der "double instance" - was bedeutet, dass ein Entsiegelungsentscheid des Zwangsmassnahmengerichts endgültig ist und nicht an das Bundesgericht weitergezogen werden kann"). Der Irrtum wurde in den Beratungen der Bundesversammlung leider teilweise kolportiert (Votum von Frau NRin C. Markwalder).
Die betreffenden Äusserungen beruhen auf einem juristischen Missverständnis. Die "double instance" nach Art. 80 Abs. 2 Satz 3 BGG
bezieht sich auf den kantonalen Instanzenzug. Schon nach jetzigem Recht sagt das Gesetz, dass es keine kantonale Beschwerdeinstanz braucht und die direkte Beschwerde ans BGer
zulässig ist, wenn das ZMG "als einzige kantonale Instanz entscheidet". Die neue Fassung (nArt. 80 Abs. 2 BGG) spricht von "letzten kantonalen Instanzen" und sieht weitherhin
vor, dass es (ausnahmsweise) keine kantonale Rechtsmittelinstanz braucht, wenn kantonale Instanzen "nach der Strafprozessordnung als einzige kantonale Instanz entscheiden". Das
trifft auf Entsiegelungsentscheide des ZMG auch nach neuem Recht weiterhin zu (nArt. 248a Abs. 4 StPO: "endgültig").
Damit hat sich für den Weiterzug von Entsiegelungsentscheiden des ZMG an das BGer nach neuem BGG nichts geändert. Auch aus den Materialien ergibt sich im Gesamtkontext deutlich, dass das
Parlament beim Entsiegelungsrecht den bisherigen Instanzenzug vom ZMG an das BGer beibehalten wollte. In früheren Entwürfen (VE 2017, Entwurf 2019) war sogar noch vorgeschlagen
worden, zusätzlich den doppelten kantonalen Instanzenzug vorzuschreiben, um das BGer indirekt etwas zu entlasten. Die Beschwerde ans BGer abzuschaffen, war hingegen nie
vorgesehen. Die Aussage, wonach ein "Verzicht auf die double Instance" bedeute, "dass ein Entscheid des ZMG endgültig" sei "und nicht an das BGer weitergezogen werden" könne, ist juristisch
falsch und verkennt das Prinzip der double instance. Dieses bezieht sich auf den kantonalen Instanzenzug. Wenn im Sinne von nArt. 80 Abs. 2 BGG und nArt. 248a StPO auf die double instance
verzichtet wird, fällt nicht die BGG-Beschwerde ans BGer dahin, sondern die StPO-Beschwerde an eine kantonale Beschwerdeinstanz. Diese Rechtslage bestand schon nach bisherigem Recht und wird auch
nach neuem Recht so bleiben. Alles andere widerspräche dem klaren Wortlaut des Gesetzes, der BGer-Praxis und den Materialien.
© Prof. Dr. Marc Forster, RA / 21. April 2023
Do
20
Okt
2022
Am 6.10.2022 ist die Referendumsfrist gegen die Revision der Eidg. Strafprozessordnung unbenutzt abgelaufen. Von der Öffentlichkeit und den Medien fast unbemerkt, hat das Parlament am 17.6.2022 den umstrittenen und äusserst knapp ausgefallenen Entscheid gefällt, das bisherige Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft gegen die Haftentlassung von hochgefährlichen oder stark fluchtgefährdeten Beschuldigten abzuschaffen (BBl 2022 1560, 7). Nur noch die beschuldigte Person wird (ab Inkrafttreten der neuen Bestimmungen) die Anordnung oder Verlängerung von Untersuchungs- und Sicherheitshaft anfechten können.
Bisherige Rechtslage und Praxis
Die Strafprozessordnung sieht in Art. 222 gegen die Anordnung, Verlängerung und Aufhebung von Untersuchungs- oder Sicherheitshaft eine Beschwerdemöglichkeit der verhafteten Person vor. Zur Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft sprach sich Art. 222 StPO bisher nicht aus. Diese ergibt sich allerdings klar aus Art. 111 Abs. 1 i.V.m. Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 BGG. Das Bundesgericht interpretierte daher Art. 222 StPO von 2011 bis heute nicht als «qualifiziertes Schweigen» des Gesetzgebers und bejahte eine Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft (BGE 147 IV 123, 124 f. E. 2.2; 138 IV 92, 94 E. 1.1; 137 IV 22, 23 E. 1.2–1.4; 137 IV 87, 89 E. 3; 137 IV 230, 232 E. 1; 137 IV 237, 240 E. 1.2; 137 IV 340, 345 E. 2.3.2. vgl. Forster, Jusletter 26.3.2018, N 2–19; Micheroli/Tag, Jusletter 16.5.2022, N 11–51). Auch nach Erlass des neuen Art. 222 StPO am 17.6.2022 hat das Bundesgericht – bis zum künftigen Inkrafttreten der Revision – an seiner bisherigen Rechtsprechung festgehalten (vgl. z.B. Bundesgerichtsurteil 1B_441/2022 vom 13.9.2022, E. 2).
Ein fragwürdiger kriminalpolitischer Zufallsentscheid
Mit der StPO-Teilrevision vom 17.6.2022 beschränkt der Gesetzgeber das Haft-Beschwerderecht nach Art. 222 StPO nun «einzig» auf die inhaftierte Person. Folglich strich er auch die sich aus Art. 111 Abs. 1 i.V.m. Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 BGG ergebende Legitimation aus dem Gesetz (BBl 2022 1560, 17). Dieser Abschaffung des Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft war ein heftiges kriminalpolitisches Tauziehen im Parlament vorausgegangen: Sowohl der Vorentwurf (2017) als auch der Entwurf (2019) des Bundesrates sahen noch eine ausdrückliche Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft vor (Botschaft, BBl 2019, 6794; vgl. Forster, Jusletter 2018, N 14; Micheroli/Tag, Jusletter 2022, N 4 f.). Die Rechtskommission des Nationalrates hat mit einer hauchdünnen Zufallsmehrheit (13:12) eine Abschaffung des Haft-Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft – sowohl nach StPO als auch nach Bundesgerichtsgesetz – vorgeschlagen. Der Nationalrat ist diesem Vorschlag (als Erstrat) am 18.3.2021 gefolgt, mit dem ebenfalls sehr engen Resultat von 98:89 Stimmen (AB 2021 N 613 f.; vgl. Micheroli/Tag, Jusletter 2022, N 6–8). Der Ständerat folgte dem Nationalrat am 14.12.2021 nicht. Die «Chambre de réflexion» wollte das Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft beibehalten (AB 2021 S 1361 f., 1370, 1372; vgl. Micheroli/Tag, Jusletter 2022, N 9). Im Rahmen der Differenzbereinigung (ab 14.1.2022) und anlässlich seiner zweiten Beratung am 2.3.2022 hielt der Nationalrat aber an seinem Entscheid fest (AB 2022 N 75; vgl. Micheroli/Tag, Jusletter 2022, N 10). Bei der Schlussabstimmung vom 17.6.2022 wurde der Vorschlag des Nationalrats von der Bundesversammlung angenommen.
Systemwidrigkeiten und Risiken
Welchen Risiken die sehr knappe Parlamentsmehrheit damit die Bürgerinnen und Bürger aussetzt, wird künftig die Praxis zeigen müssen (vgl. dazu Forster, Jusletter 26.3.2018, N 1–13; Micheroli/Tag, Jusletter 16.5.2022, N 11–51). Der in der Revision von 2022 erfolgte Ausschluss der Staatsanwaltschaft von der StPO-Haftbeschwerde ist im Übrigen mehrfach systemwidrig: Sogar in der Verwaltungs-Strafrechtspflege ist die Untersuchungsbehörde zur Haftbeschwerde ausdrücklich legitimiert (Art. 51 Abs. 6 VStrR; vgl. Basler Kommentar VStrR [2020]-Graf, Art. 51 N 98–104). Nur schwer einzusehen ist sodann, weshalb die Staatsanwaltschaft gemäss Art. 231 Abs. 2 lit. b StPO beantragen kann, Haftentlassungen – ausgerechnet – des erkennenden erstinstanzlichen Strafgerichtes korrigieren zu lassen (durch die Verfahrensleitung des Berufungsgerichtes), während Haftentlassungen der Zwangsmassnahmengerichte für die Staatsanwaltschaft (nach Art. 222 StPO) unanfechtbar sein sollen. Angesichts der ebenfalls ablehnenden Haltungen der Expertengruppe (VE), des Bundesrates, des Bundesgerichtes und des Ständerates haben faktisch eine Stimme Mehrheit in der Rechtskommission des Nationalrates bzw. 9 Stimmen Mehrheit im (anwaltlich dominierten) Nationalrat zu diesem fragwürdigen kriminalpolitischen Ergebnis geführt.
20. Oktober 2022 / © Prof. Dr. Marc Forster, RA
Mo
22
Apr
2024
Wichtiger Haftgrund bei Schwerverbrechen, keine klare
gesetzliche Grundlage
Die 2011 in Kraft getretene Eidgenössische StPO wies bis vor Kurzem eine gravierende Lücke bei den strafprozessualen Haftgründen auf. Vor 2011 hatten diverse kantonale Strafprozessgesetze noch den Haftgrund der sogenannten «qualifizierten» Wiederholungsgefahr vorgesehen (z.B. § 58 Abs. 1 Ziffer 4 StPO/ZH): Im Gegensatz zur einfachen Wiederholungsgefahr (Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO) konnte danach bei drohenden schweren Gewaltverbrechen vom sogenannten Vortatenerfordernis abgesehen werden. Das heisst, es musste mit der Anordnung von Untersuchungshaft nicht abgewartet werden, bis neben dem «bloss» untersuchten Schwerverbrechen bereits gerichtliche Verurteilungen zu weiteren ähnlichen Delikten vorlagen. Dieser wichtige Haftgrund geriet beim Erlass der Eidgenössischen StPO (2011) in Vergessenheit. Möglicherweise hatte der Gesetzgeber damals fälschlich angenommen, dass der spezifische neue Haftgrund der Ausführungsgefahr (Art. 221 Abs. 2 StPO) auch alle bisherigen Fälle der qualifizierten Wiederholungsgefahr abdeckte.
Notstandsrechtliche Lückenfüllung durch das Bundesgericht
und Legalitätsprinzip
In seiner anschliessenden Rechtsprechung ist das Bundesgericht zum Schluss gekommen, dass es qualifizierte Haftfälle gibt, bei denen die Anordnung von Untersuchungshaft möglich sein muss, ohne dass bereits Verurteilungen zu schweren Gewaltdelikten vorliegen. In BGE 137 IV 13 hat das Bundesgericht auf eine entsprechende gravierende Gesetzeslücke hingewiesen. Das Bundesgericht hat erwogen, dass es «vernünftigerweise nicht in der Absicht der Legislative gelegen» haben könne, bei einem mutmasslich bereits verübten und erneut akut drohenden schweren Gewalt- oder Sexualverbrechen auf die Möglichkeit einer strafprozessualen Inhaftierung zu verzichten, nur weil der Beschuldigte nicht bereits früher schon wegen ähnlichen Schwerverbrechen gerichtlich verurteilt worden war (bestätigt in BGE 143 IV 9 E. 2.3.1).
In der Fachliteratur ist seit 2012 darauf hingewiesen worden, dass eine solche Abweichung vom Gesetzeswortlaut allerdings vor dem Hintergrund des Legalitätsprinzips (Art. 36 Abs. 1 BV) rechtsstaatlich hochproblematisch war und ein entsprechender neuer Haftgrund (wieder) ausdrücklich im Gesetz zu verankern sei (vgl. Marc Forster, ZStrR 2012, S. 341 f.). Im Dezember 2012 reichten daraufhin Isabelle Moret und Daniel Jositsch entsprechende parlamentarische Vorstösse ein. Im Juni 2023 hat das Parlament schliesslich eine Teilrevision der StPO verabschiedet, darunter einiger haftrechtlicher Bestimmungen. Unter anderem verankerte es neu den Haftgrund der «qualifizierten» Wiederholungsgefahr, Art. 221 Abs. 1bis StPO, im Gesetz. In der Bundesversammlung ist diesem Haftgrund kein Widerstand erwachsen. Die Bestimmung trat am 1. Januar 2024 in Kraft (vgl. zur Reformgeschichte Marc Forster, Basler Kommentar StPO, 4. Aufl. 2023, Art. 221 N. 15b).
Neuer Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr
Die gesetzliche Regelung in Art. 221 Abs. 1bis StPO ist wie folgt ausgestaltet: Lit. a setzt eine untersuchte qualifizierte Anlasstat voraus, nämlich den dringenden Verdacht, dass die beschuldigte Person durch ein Verbrechen oder ein schweres Vergehen die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer Person schwer beeinträchtigt hat. Das Vorliegen einer einschlägigen Vortat ist demgegenüber nicht erforderlich. Lit. b verlangt aber zusätzlich, als Prognoseelement, die ernsthafte und unmittelbare Gefahr, dass die beschuldigte Person ein gleichartiges, schweres Verbrechen verüben werde.
Leitentscheid des Bundesgerichtes zum neuen Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr
In seinem zur amtlichen Publikation bestimmten ersten Grundsatzurteil zu Art. 221 Abs. 1bis StPO, 7B_155/2024 vom 5. März 2024, hat das Bundesgericht einige Fragen zur Auslegung der neuen Bestimmung geklärt und insbesondere geprüft, ob sich gegenüber der bisherigen Rechtsprechung zum Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr eine Praxisänderung aufdrängen könnte:
Grad der Rückfallgefahr, «umgekehrte Proportionalität» gegenüber der Schwere der drohenden Verbrechen
Im vom Bundesgericht beurteilten Fall eines untersuchten vorsätzlichen Tötungsdeliktes hatte die Verteidigung die These vertreten, der neue Art. 221 Abs. 1bis lit. b StPO verlange eine «sehr ungünstige» Rückfallprognose. Der Umstand, dass das psychiatrische Gutachten beim Beschuldigten eine «bloss» mittelgradige Rückfallgefahr für neue schwere Gewaltverbrechen festgestellt habe, genüge nach neuem Recht nicht mehr. Dies ergebe sich aus dem gesetzlichen Erfordernis einer «ernsthaften und unmittelbaren Gefahr» neuer Schwerverbrechen. Diesbezüglich könne an der bisherigen einschlägigen Bundesgerichtspraxis nicht mehr festgehalten werden. Das Bundesgericht ist dieser Argumentation nicht gefolgt:
Es erwog Folgendes: Art. 221 Abs. 1bis lit. b StPO verlange als Prognoseelement die ernsthafte und unmittelbare Gefahr, dass die beschuldigte Person ein gleichartiges «schweres Verbrechen» verüben werde. Zwar sei in der bisherigen einschlägigen Bundesgerichtspraxis nicht wörtlich vom Erfordernis einer «ernsthaften und unmittelbaren» Gefahr (von neuen Schwerverbrechen) die Rede gewesen. Es habe in diesem Sinne aber schon altrechtlich eine restriktive Haftpraxis bestanden, indem das Bundesgericht ausdrücklich betont habe, qualifizierte Wiederholungsgefahr komme nur in Frage, wenn das Risiko von neuen Schwerverbrechen als «untragbar hoch» erscheint (BGE 143 IV 9 E. 2.3.1; 137 IV 13 E. 3 f.). Bei der konkreten Prognosestellung werde auch weiterhin dem Umstand Rechnung zu tragen sein, dass bei qualifizierter Wiederholungsgefahr Schwerverbrechen drohen. Bei einfacher und qualifizierter Wiederholungsgefahr sei von einer sogenannten «umgekehrten Proportionalität» zwischen Deliktsschwere und Eintretenswahrscheinlichkeit auszugehen (BGE 146 IV 136 E. 2.2; 143 IV 9 E. 2.8-2.10). Der kantonalen Vorinstanz sei darin zuzustimmen, dass bei ernsthaft drohenden schweren Gewaltverbrechen auch nach neuem Recht keine sehr hohe Eintretenswahrscheinlichkeit verlangt werden könne. Die richterliche Prognosebeurteilung habe sich dabei auf die konkreten Umstände des Einzelfalles zu stützen (BGE 7B_155/2024 vom 5. März 2024, E. 3.6.2).
Im beurteilten Fall stufte das Bundesgericht es als bundesrechtskonform ein, dass die Vorinstanz eine ausreichend erhebliche (ernsthafte und unmittelbare) Wahrscheinlichkeit für neue schwere Gewaltverbrechen bejahte. Das Obergericht habe dabei namentlich der im psychiatrischen Gutachten festgestellten «mittelgradigen» Rückfallgefahr Rechnung tragen dürfen, der gutachterlich diagnostizierten psychischen Auffälligkeit und Unberechenbarkeit des Beschuldigten, der besonderen (gewaltexzessiven) Brutalität des ihm zur Last gelegten Tötungsdeliktes, seiner auffälligen Vorliebe für Waffen, insbesondere Messer, Schlagstöcke und Elektroschockgeräte, der von ihm in Internet-Chats geäusserten weiteren Gewaltbereitschaft, seiner Affinität für sadistische Darstellungen von brutaler Gewalt oder auch den vom Obergericht dargelegten Anzeichen für eine massive Suchtmittelproblematik des Beschuldigten (BGE 7B_155/2024 vom 5. März 2024, E. 3.6.3).
Unmittelbare Sicherheitsgefährdung bei qualifizierter Wiederholungsgefahr
Weiter hatte die Verteidigung geltend gemacht, es fehle im beurteilten Haftfall an einer unmittelbaren Sicherheitsgefährdung durch die drohenden neuen Delikte. Bei der «Unmittelbarkeit» handle es sich um ein «neues gesetzliches Kriterium», das eine Praxisänderung erforderlich mache. Auch dieser Argumentation folgte das Bundesgericht nicht. Die in Art. 221 Abs. 1bis lit. a StPO genannten Anlasstaten, nämlich Verbrechen und schweren Vergehen, mit denen die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer Person schwer beeinträchtigt wird, würden vom Gesetzgeber bereits de lege als unmittelbar sicherheitsgefährdend eingestuft. Im Gegensatz zur einfachen Wiederholungsgefahr (Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO, neue Fassung ebenfalls in Kraft seit 1. Januar 2024) verlange der Wortlaut von Art. 221 Abs. 1bis lit. a StPO denn auch keine (zusätzliche) «unmittelbare Sicherheitsgefährdung» (BGE 7B_155/2024 vom 5. März 2024, E. 3.7).
22. April 2024 / © Prof. Dr. Marc Forster, RA
Do
02
Nov
2023
Die WHO treibt auf zwei Ebenen einen transnationalen Rechtsrahmen voran, zur Pandemiebekämpfung und zur Vorsorge gegenüber – breit und unklar definierten – "globalen Gesundheitsnotständen". Zum einen soll ein neuer WHO-Vertrag zur Pandemievorsorge abgeschlossen werden. Die Entscheidung, diesen neuen Vertrag auszuhandeln, wurde im Dezember 2021 auf der zweiten Sondersitzung der Weltgesundheitsversammlung (WHA) getroffen. Zweitens wird der bereits seit 2002 bestehende multilaterale Vertrag zur Regelung von "globalen Gesundheitsnotständen" überarbeitet. Der Beschluss, diesen Prozess einzuleiten, wurde von der WHA im Mai 2022 gefällt. Nach dem Fahrplan der WHO sollen diese neuen Rechtsgrundlagen von den Vertragsstaaten und WHO-Gremien im Mai 2024 bewilligt werden.
Diese folgenreiche Entwicklung des transnationalen Rechtsrahmens zur Bekämpfung von Pandemien und sogenannten "globalen Gesundheitsnotständen" stösst bei Expertinnen und Experten der Grundrechte und des Medizinrechts auf grosse Bedenken. Sie rufen dringend zu einer offenen Debatte auf. Zu hoffen ist, dass dieser offene faktenbasierte Diskurs nicht vom WHO-spezifischen organisierten "Pre-Bunking" unterdrückt und gestört werden wird (Zensur und Diskreditierung von unliebsamen, nach Meinung von WHO-Funktionären angeblich irreführenden Informationen in Medien und elektronischen Foren).
In der hier beigefügten Analyse der Global Health Responsibility Agency werden zusammengefasst folgende Tendenzen der WHO-Bestrebungen kritisiert ("Die Pandemiegesetzgebung der WHO: Besorgniserregende Verhandlungen von internationaler Tragweite, Oktober 2023, Autorin: Dr. Amrei Müller, © 2023 Global Health Responsibility Agency, S. 47 f.):
Erstens werden die besonderen Befugnisse der WHO, einen globalen Gesundheitsnotstand (PHEIC) auszurufen und "den Staaten medizinische und nicht-medizinische Gegenmassnahmen zu empfehlen, erheblich zunehmen".
Zweitens "werden in Zukunft über das geplante globale Bioüberwachungssystem große Mengen an biologischem Material- und Genomsequenzdaten gesammelt und ausgetauscht. Dies erhöht nicht nur die Wahrscheinlichkeit der Entdeckung neuer oder wiederauftretender Erreger mit (angeblichem) PHEIC-/Pandemiepotenzial, sondern schafft auch Anreize für hochgefährliche Gain of Function-Forschung".
Drittens "soll die präventive Forschung und Entwicklung zu Krankheitserregern mit PHEIC-/Pandemiepotenzial erheblich ausgeweitet werden, insbesondere die Forschung und Entwicklung von mRNA-basierten Impfstoffen".
Viertens "soll die rasche Notfallzulassung von PHEIC-/Pandemieprodukten im internationalen und regionalen Recht sowie in den nationalen Rechtsordnungen aller WHO-Mitgliedstaaten ermöglicht werden".
Fünftens "wird die WHO teilweise in eine Agentur umgewandelt, die die weltweite Produktion, Beschaffung und Verteilung von PHEIC-/Pandemieprodukten" leitet und koordiniert, "wobei die WHO-Mitgliedstaaten verpflichtet sein werden, ihre eigenen Produktions- und Verteilungsnetze für solche Produkte auf- und auszubauen".
Sechstens "wird ein biomedizinisches System für die Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs unter Verwendung digitaler Gesundheitspässe über weltweit interoperable Digitalplattformen aller Wahrscheinlichkeit nach Realität werden".
Siebtens "sollen die Staaten in ihre Gesundheitsinfrastruktur investieren, damit sie in der Lage sind, die von der WHO empfohlenen medizinischen und nicht-medizinischen PHEIC-Gegenmassnahmen, einschließlich Massenimpfkampagnen, durchzuführen". Dabei dürften "große Teile staatlicher Gesundheitsbudgets für die Prävention, Vorbereitung und Reaktion auf PHEIC/Pandemien ausgegeben werden" müssen, "besonders in Staaten mit geringem Einkommensniveau".
Achtens "wird das weltweite ‚Pre-Bunking‘ und ‚De-Bunking‘ – einschließlich direkter Zensur – von durch die WHO definierten Fehlinformationen oder Desinformationen über Erreger und Krankheiten, die einen PHEIC bzw. eine Pandemie verursachen, voraussichtlich erheblich zunehmen".
Die Verabschiedung und Umsetzung dieser von der WHO-Doktrin inspirierten Reformvorschläge, "wird daher wahrscheinlich
weltweit weitreichende negative Folgen für die Gesundheit und den Menschenrechtsschutz haben. Sie werden die Rechte und
Pflichten der Staaten aushöhlen, nationale Gesetze und Politiken im Gesundheitsbereich festzulegen und umzusetzen, die den
vorrangigen Gesundheitsbedürfnissen der Bevölkerung entsprechen und die Menschenrechte auf Gesundheit, Privatsphäre, Meinungsfreiheit, körperliche Unversehrtheit, Leben und Freiheit von Folter oder unmenschlicher oder
erniedrigender Behandlung respektieren und gewährleisten."
Ausserdem werden sie "die undurchsichtige Durchmischung des öffentlichen und privaten Sektors in internationalen Gesundheitsinstitutionen wie der WHO vorantreiben, indem sie philanthropischen Stiftungen, multinationalen Unternehmen und öffentlich-privaten Partnerschaften immer mehr Einfluss auf die globale Pandemiepolitik (und damit Macht) verleihen. Dies bringt nicht nur zusätzliche Interessenkonflikte für die WHO mit sich und erhöht die Möglichkeiten für Profitmacherei in PHEIC-/Pandemiesituationen durch diese privaten Akteure. Es führt auch zu einer weiteren Streuung der internationalen Verantwortlichkeiten und verhindert damit die Einrichtung wirksamer Rechenschaftsmechanismen für Schäden, die durch globale Pandemie-/PHEIC-Präventions- und Reaktionsprogramme verursacht werden. Die Reformen schaffen zudem Anreize für hochgefährliche Gain of Function-Forschung. Nicht zuletzt wird die Umsetzung dieser Reformen immense (öffentliche) Ressourcen benötigen".
Vor diesem Hintergrund ruft die Global Health Responsibility Agency dringend auf "zu einer offenen und umfassenden Debatte über die geplanten Änderungen des Vertrags zur Regelung von "globalen Gesundheitsnotständen" und zum geplanten neuen WHO-Pandemievertrag und ihre weitreichenden Auswirkungen in allen WHO-Mitgliedstaaten". Dies müsse "ein erster Schritt sein, um die besorgniserregenden Verhandlungen von internationaler Tragweite und ihre potenziell weitreichenden negativen Folgen für die menschliche Gesundheit und den Menschenrechtsschutz weltweit zu stoppen".
(Dokument hochgeladen von Prof. Dr.iur. Marc Forster/2.November 2023)
Do
07
Sep
2023
Strafbewehrte Impfobligatorien
Auf dem Höhepunkt der Corona-Epidemie haben vereinzelte Länder allgemeine oder partielle Impfobligatorien eingeführt, mit denen die Bevölkerung unter Strafdrohung zu Prophylaxe-Anstrengungen gegen die Lungenkrankheit Covid-19 bewegt werden sollte. In Europa hat Deutschland eine einrichtungsbezogene
Impfpflicht (Bundeswehr, Spitäler und Pflegeeinrichtungen) eingeführt, Österreich sogar ein generelles strafbewehrtes Impfobligatorium, Italien (das 2019/20 von
der Coronawelle besonders stark betroffen war) eine Impfpflicht für ältere Menschen ab 50 Jahren. Griechenland sah für über 60-jährige Ungeimpfte konfiskatorische
Dauerbussen von monatlich EUR 100.-- vor. In der Schweiz wurden Forderungen nach einem Corona-Impfobligatorium vor allem in den Medien erhoben. Die deutsche Bundesregierung hat sich noch im April 2022 (bereits unter der Dominanz der Omikron-Variante) vergeblich darum bemüht, ein allgemeines Impfobligatorium zu legiferieren; Österreich
hat seine allgemeine strafbewehrte Impfpflicht zunächst beschlossen und dann 2022 wieder sistiert.
Grundrechtliche Problematik
Bei aller berechtigter gesundheitspolitischer Besorgnis (teilweise begleitet von grosser medialer Aufregung) muss aus rechtsstaatlicher Warte bedacht werden, dass ein strafbewehrtes Corona-Impfobligatorium massive grundrechtliche Konsequenzen nach sich zöge. Die Menschen könnten nicht mehr frei wählen, welche Pharmaprodukte ihnen zu welchem Zweck in den Körper gespritzt werden; für die freie Ausübung ihrer diesbezüglichen elementaren Grundrechte würde ihnen sogar eine Bestrafung drohen. In Österreich z.B. waren massive kumulierbare Geldstrafen von mehreren tausend Euro vorgesehen. Ein solcher Schwersteingriff in die elementaren Grundrechte bedarf einer äusserst sorgfältigen juristischen Legitimationsprüfung und Interessenabwägung. Das muss besonders bei neuartigen Pharmaprodukten gelten, im vorliegenden Fall mRNA-Präparaten, die erst provisorisch und ohne klinische Doppelblindstudien zugelassen waren, bei denen noch wenig Erfahrungen betreffend immunologische Langzeitfolgen und unerwünschte Nebenwirkungen hatten gesammelt werden können und für deren massenweisen Einsatz die Produzenten auch noch jegliche Haftung ablehnten.
Interdisziplinäre Untersuchung an der Universität St.Gallen
Die Coronakrise hat die ganze Welt ab 2019 sehr massiv und unvorbereitet getroffen. Auch in der Schweiz hat sie die Justiz vor grosse Herausforderungen gestellt, die sie in unserem Land rasch und inhaltlich zumeist massvoll und überzeugend löste (vgl. dazu Marc Forster, Strafrecht, Justiz und Menschenrechte in Zeiten von Covid-19, SJZ 2020, S. 451 ff.). Demgegenüber hat sich die Rechtswissenschaft (im gesamten deutschsprachigen Raum) zur Problematik der Corona-Massnahmen nicht gerade mit "Lorbeeren" überhäuft. Als eine der (ziemlich überschaubaren) positiven Ausnahmen sei hier die pionierhafte Untersuchung von Silvia Behrendt/Amrei Müller genannt (auf: Jusletter vom 20. Dezember 2021 und 24. Januar 2022). Soeben ist auch ein Forschungsbeitrag der Universität St. Gallen erschienen, welcher aus rechtsmedizinisch-juristischer Perspektive die Grundrechtskonformität einer strafbewehrten Corona-Impfpflicht untersucht (Fabienne Gmünder, Masterarbeit Uni SG 2023). Interdisziplinäre Forschungsleiter waren der Rechtsmediziner Prof. Dr.med. Roland Hausmann und der Strafrechtler Prof. Dr.iur. Marc Forster.
Resultate
Die St.Galler Untersuchung unterscheidet zwischen den tatsächlichen Gegebenheiten unter der Dominanz der Delta-Variante des
SARS-CoV-2-Virus (mit ihren für den Krankheitsverlauf von Covid-19 ebenfalls besonders gefährlichen Vorläuferinnen bis ca. Herbst 2021) und der seither dominanten
Omikron-Variante. Aus juristisch-rechtsmedizinischer Sicht ist diese Differenzierung wichtig, da sich unter den Gesichtspunkten der Geeignetheit, Notwendigkeit und Zumutbarkeit
eines Impfobligatoriums diverse Parameter und Erkenntnisse verändert haben. Der Forschungsbeitrag kommt zum Schluss, dass ein
generelles Impfobligatorium selbst unter der Delta-Variante grundrechtswidrig (gewesen) wäre (MA S. 45 f., 55). Angesichts möglicher (wenn auch seltener)
schwerer Nebenwirkungen und "Impfschäden" und der deutlich selteneren schweren Krankheitsverläufe bei jungen Personen, wird eine strafbewehrte Impfpflicht für
junge Menschen als unverhältnismässig eingestuft (S. 46, 55). Unter dem Einfluss einer relativ gefährlichen Virusvariante (Delta und ähnliche)
wird hingegen ein partielles gesetzliches Impfobligatorium für professionelles Pflegepersonal, das in engem Körperkontakt mit betagten oder
gesundheitlich besonders vulnerablen Personen steht, für zumutbar und
vertretbar angesehen. Ebenso wird für gefährliche Varianten eine Impfpflicht für betagte Personen ins Auge gefasst. Allerdings räumt die Untersuchung ein, dass es
verfassungsrechtlich und kriminalpolitisch schwierig wäre, für den schweren grundrechtlichen Eingriff einer strafbewehrten Impfpflicht ein nichtdiskriminierendes
und sachlich überzeugendes Alters- und Vulnerabilitätskriterium festzulegen.
Eignung der "Impfung"
Zentral ist die juristische Prüfung der Verhältnismässigkeit eines (allgemeinen oder partiellen) Impfobligatoriums. Bei der Eignung der Massnahme ist zunächst zu untersuchen, welches gesetzgeberische Ziel mit einer mRNA-Impfung gegen Covid-19 realistischerweise erreichbar ist. Eine sterilisierende Impfung im engeren Sinne (wie etwa gegen Masern) ist im Falle des Coronavirus nicht möglich. Vielmehr schützt die Impfung (nur aber immerhin) vor schweren Verläufen und sie hemmt auch in gewissem Umfang die Übertragbarkeit des Virus. Im Fokus steht daher als realistisches Ziel die Vermeidung einer grossen Welle von schweren Erkrankungen mit der Folge einer drohenden Überlastung der Spitäler (vgl. MA S. 39). Gestützt auf die bisherigen medizinischen Forschungsresultate zur Wirksamkeit der mRNA-"Impfung" zeigt sich dabei folgendes Bild:
Der Impfstoff von Pfizer-BioNTech gegen SARS-CoV-2-Infektionen (und auch
spezifisch gegen Varianten) lässt bei vollständig geimpften Erwachsenen innerhalb von sechs Monaten nach. Tartof et al. stellten fest, dass die
Wirksamkeit gegen Nicht-Delta-Varianten einen Monat nach vollständiger Impfung bei 97% lag und nach fünf Monaten auf bis zu 67% abfiel. Für die
Delta-Variante belief sich die Wirksamkeit einen Monat nach vollständiger Impfung auf 93%, sank jedoch nach fünf Monaten auf 53%. In zahlreichen Studien wurde
nachgewiesen, dass Antikörper, die durch Impfungen hervorgerufen werden, insb. die jüngsten Virusvarianten weniger effektiv neutralisieren können. Eine US-amerikanische Studie von
Weinberger zeigt, dass die Wirksamkeit der mRNA-Impfstoffe gegen eine Infektion mit SARS-CoV-2 nach 8 Monaten von über 90% auf 70-80% abfällt; jedoch bleibt die
Wirksamkeit gegen Hospitalisierung nahezu konstant bei rund 90%. Personen, die mehr als sechs Monate zuvor zwei Dosen mRNA-Impfstoff erhalten haben, sind besser
gegen Delta als gegen Omikron geschützt, wobei die dritte Dosis die Schutzwirkung gegen Hospitalisierung auf 94% (Delta) bzw. 90% (Omikron) erhöht (vgl. MA S.
13).
Was die Nebenwirkungen des "Spikens" betrifft, hatte der Generaldirektor der
WHO noch in einer offiziellen Pressemitteilung vom 1. Dezember 2021 sämtliche Sicherheitsbedenken, die sich aus einer grossen Anzahl von Verdachtsmeldungen an die
Frühwarn-Datenbank VigiAccess über Nebenwirkungen nach der COVID-19-Impfung ergeben haben, mit Hinweis auf die hohen Impfraten rundweg zurückgewiesen. Demgegenüber hat SWISS-MEDIC in der
Zeitspanne vom 1. Januar 2021 bis zum 22. Februar 2023 Verdachtsmeldungen von unerwünschten Wirkungen der COVID-19-Impfungen in der Schweiz ausgewertet. Insgesamt wurden 16'855
Verdachtsfälle gemeldet, wobei 10'365 (61.5%) als nicht schwerwiegend und 6'490 Verdachtsfälle (38.5%) als
schwerwiegend eingestuft wurden. Verabreicht wurden in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein 16'981'243 Impfdosen. Daraus ergibt sich eine Melderate von 0.99 pro 1'000
verabreichten Dosen (MA S. 14 f.). Hier ist allerdings noch zusätzlich einer nicht unerheblichen Dunkelziffer Rechnung zu tragen. Jedenfalls erscheint es nicht ohne weiteres
garantiert, dass impfende Ärzte und Medizinalpersonal auch alle schweren Verdachtsfälle melden, zumal die damit verbundenen Haftungsfragen und
strafrechtlichen Probleme (etwa Fragen zur ausreichenden Aufklärung und zur rechtswirksamen Einwilligung) juristisch noch ungeklärt erscheinen.
Bedenklich wirkt sich aus juristischer Sicht aus, wenn vorher gesunde Menschen ohne schweres Covid-19-Erkrankungsrisiko erst nach einer behördlich empfohlenen oder gar gesetzlich obligatorischen Impfung schwerwiegend anderweitig erkranken. In den meisten skandinavischen Ländern wurde die Impfung von jungen Männern aufgrund zahlreicher Myokarditis-Verdachtsfälle ab Frühling 2021 sukzessive gestoppt. Weitere schwere (wenn auch seltene) Nebenwirkungen aus der medizinischen Praxis (wie z.B. Schlaganfälle, Gürtelrosen, allergische Schocks, Karzinom-Rezidive usw.) bilden noch Gegenstand von internationalen Untersuchungen.
Erforderlichkeit
Weiter untersucht der Forschungsbeitrag (unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit des Grundrechtseingriffes), welche medizinischen Notlage mit einem Impfobligatorium gebannt werden soll und ob dafür auch mildere Massnahmen ausreichen könnten. Die Virusvarianten bis Delta (dominant bis ca. Sommer 2021) brachten das Gesundheitssystem (2019-2020) nahe an seine Belastungsgrenzen. Seit Omikron (ca. Herbst 2021) haben sich die massgeblichen Fakten merklich verändert. Zum einen sind deutlich weniger schwere Verläufe zu verzeichnen, sodass wegen Covid-19 kein Gesundheitsnotstand in den Notfallstationen der Spitäler auftrat. Zum anderen sind auch die Behandlungsmöglichkeiten für schwere Erkrankungen unterdessen deutlich verbessert worden, zumal Erfahrungen gesammelt und medizinische Fortschritte erzielt werden konnten. Als mildere Massnahmen (im Vergleich zum Impfobligatorium) bieten sich – zumindest seit der Dominanz von Omikron – etwa ein Testobligatorium und ein Quarantäne-Obligatorium für positiv Getestete an, wie sie unter der Geltung der Covid-19-Gesetzgebung bereits vorübergehend zur Anwendung kamen (MA S. 42 f.).
Die St.Galler Untersuchung berücksichtigt auch Studien zur Impfbereitschaft der Bevölkerung. Das Vertrauen der Schweizerinnen und Schweizer in ihre Institutionen ist im internationalen Vergleich zwar generell hoch. Eine hohe Bereitschaft zur freiwilligen Corona-Impfung hängt aber, neben vertrauenswürdigen und wirksamen Impfstoffen, auch noch wesentlich davon ab, dass ausreichend und objektiv über die Vor- und Nachteile der Impfung informiert wird. Nicht nur in der Schweiz haben die verantwortlichen Behörden nur sehr spärlich und vage über potenzielle Nebenwirkungen informiert, auch als bereits bekannt war, dass Corona-Impfungen zu schweren Nebenwirkungen führen können. Laut einer dänischen Studie kann eine transparente Kommunikation, die auch negative Aspekte nennt, zwar die Akzeptanz der Impfung etwas schmälern, jedoch stärkt sie gleichzeitig das Vertrauen in die Gesundheitsbehörden und wirkt der Verbreitung von sogenannten "Verschwörungstheorien" entgegen. Fraglich erscheint, ob es überhaupt zielführend sein kann, mittels massivem indirektem Zwang (bis hin zum Ausschluss vom kulturellen und sozialen Leben) bzw. unter Androhung von Bussen oder anderen Nachteilen die Willensfreiheit der Bevölkerung bei der Frage von Impfungen beeinflussen zu wollen (MA S. 16 f., mit Hinweisen auf Hehli und Vokinger/Rohner).
Zumutbarkeit
Als entscheidend für die Frage der grundrechtlichen Zulässigkeit eines Impfobligatoriums erweist sich das Kriterium der Zumutbarkeit (sog. "Zweck-/Mittel-Relation" bzw. Verhältnismässigkeit im engeren Sinne). Zunächst ist zu prüfen, in welches Grundrecht eingegriffen wird: Die medizinische Selbstbestimmung und das Recht, selber entscheiden zu dürfen, welche Substanz man wann in den Körper gespritzt erhält, gehört zum Kernbereich der Menschenrechte. Ein Impfobligatorium greift aber nicht nur in die körperliche sondern auch in die geistige Unversehrtheit des Menschen ein; sie umfasst das Recht, Situationen eigenständig zu bewerten und in Übereinstimmung mit dieser Bewertung zu handeln (MA S. 20, u.a. mit Hinweis auf Zeder). Die Durchführung einer Impfung ist nur dann gestattet, wenn zuvor eine ausführliche Aufklärung des Impflings erfolgt ist und dieser daraufhin seine Zustimmung zur Durchführung der Impfung erteilt hat (MA S. 21). Dabei ist auch auf mögliche Nebenwirkungen einer Impfung hinzuweisen. Nach herrschender Lehre und Praxis läge ohne eine solche Einwilligung in einen invasiv-medizinischen Eingriff (sog. "informed consent") sogar – per se – eine strafbare Körperverletzung vor.
Besonders heikel wirkt sich vor diesem grundrechtlichen Hintergrund sogenannter indirekter staatlicher Zwang aus. Dazu gehörten der zeitweise komplette Ausschluss von Nichtgeimpften – selbst mit negativen Corona-Tests – vom sozialen und kulturellen Leben (etwa Bibliotheken, Theater, Fitnesszentren, Schwimmbäder, Gottesdienste, Kinos, Restaurants, Bars oder Diskotheken). In Deutschland wurde 2G sogar an einigen Hochschulen eingeführt. Dass die Studierenden an Freiburger (Ue./Schweiz) Hochschulen die Testkosten (mit monatelangen Tests als Zulassungsvoraussetzung) selber bezahlen mussten, hat das Bundesgericht als verfassungswidrig eingestuft. Die St.Galler Untersuchung äussert auch Kritik an den vom Bundesrat im Dezember 2021 eingeführten 2G-Regeln. Im Klartext bedeutete 2G, dass infizierte und kranke (aber "geimpfte") Personen ungehindert und ohne Tests Diskotheken, Bars und Gottesdienste besuchen konnten, während mit grosser Wahrscheinlichkeit gesunde (negativ auf das Coronavirus getestete) Ungeimpfte ausgeschlossen wurden. Diese kontraproduktive (wenn nicht gar gefährliche) Regelung wurde zwar im Namen einer angeblichen "Epidemiebekämpfung" erlassen; ihr erkennbarer Zweck erschöpfte sich jedoch in der zusätzlichen Verschärfung des gesellschaftlichen Drucks auf Ungeimpfte bzw. in deren sozialer Stigmatisierung.
Beim Kriterium der (partiellen) Zumutbarkeit einer strafbewehrten Impfpflicht ist zu unterscheiden, welche Bevölkerungsgruppen zu dem medizinisch-gesellschaftlichen Notstand, der durch mRNA-Impfungen realistischerweise vermieden werden soll, besonders stark beitragen. Primär sind dies betagte und gesundheitlich vulnerable Menschen. Gleichzeitig profitieren diese (statistisch gesehen) aber auch individuell mehr vom Impfschutz, da sie ohne Impfung besonders stark von schweren Krankheitsverläufen betroffen sind (MA S. 42). Kinder und junge Menschen hingegen haben im Durchschnitt deutlich weniger schwere Krankheitsverläufe. Hinzu kommt noch, dass bei jungen Menschen statistisch auffällig viele erhebliche Nebenwirkungen auftreten, weshalb (etwa ab Frühling 2021) die Corona-Durchimpfung junger Menschen in Skandinavien praktisch eingestellt wurde. Das Verhältnis zwischen Nutzen und Risiko wird für Junge auch noch dadurch verschlechtert, dass erstens (in eher seltenen Einzelfällen) sogar schwere Impfschäden auftreten können (MA S. 42) und zweitens die noch nicht ausreichend erforschten Langzeitwirkungen für Junge eine grössere Bedeutung haben als für betagte Menschen.
Fazit
So sehr eine vorsichtige und restriktive Pandemiepolitik im Zeitraum 2020-21 grundsätzliches Verständnis verdient hat, müssen
massiver indirekter Impfzwang, behördlich-mediale Desinformationen, fragwürdige 2G-Regelungen und strafbewehrte
Impfobligatorien (ab ca. Herbst 2021) aus rechtsmedizinischer und rechtswissenschafticher Warte kritisch analysiert und bewertet werden. Den
Grundrechten ist auch – und gerade – in "pandemisch-phobischen Zeiten" Nachachtung zu verschaffen. Als mühsam erkämpfte zivilisatorische Errungenschaften sind
sie zu wertvoll, um auf Worthülsen einer "Schönwetterpolitik" und wohlklingende Stichworte für Festreden reduziert zu werden (kritisch zum diesbezüglichen Grundrechtsrelativismus in einer phobisch mediatisierten Gesellschaft s. Marc Forster, Kriminalpolitik und
Kriminalpraxis vor alten und neuen Herausforderungen, in: Genillod et al. [Hrsg.], SAK-Tagung Interlaken 2021, Bd. 39, Basel 2022, S. 3 ff., 12 f.).
© Prof. Dr. Marc Forster / 7. September 2023
Do
23
Mär
2023
Am 1. Januar 2024 wird das revidierte Entsiegelungsrecht in Kraft treten (nArt. 248-248a StPO; im Parlament verabschiedet am 17. Juni 2022, vgl. BBl 2022 1560, S. 8 f.). Das Kernproblem des bisherigen Rechts bildeten die lange Verfahrensdauer bzw. das Missbrauchspotential für Verfahrensverschleppungen. Zur Beschleunigung der Entsiegelungsverfahren sollen künftig insbesondere die restriktivere Definition der siegelungsfähigen Aufzeichnungen und Gegenstände sowie Vorschriften zur Straffung des Verfahrens beitragen.
Mit der Ausdehnung der Siegelungsberechtigung und der Verfahrensteilnahme auf Drittpersonen, welche nicht Inhaberinnen der sichergestellten Aufzeichnungen und Gegenstände sind, aber eigene geschützte Geheimnisrechte (aufgrund von Art. 264 Abs. 1 StPO) anrufen können, wird die betreffende Praxis des Bundesgerichtes in der StPO verankert. Als Beispiel sei der Fall eines Arztes genannt, in dessen Praxis Patientenunterlagen sichergestellt werden.
Nach der neuen Regelung kann primär der Arzt als Inhaber der Aufzeichnungen und Träger des Berufsgeheimnisses die Siegelung beantragen (nArt. 248 Abs. 1 Satz 1 StPO). Da für die Staatsanwaltschaft (StA) aber erkennbar ist, dass hier eigene höchstpersönliche, intime Geheimnisse die mitbetroffenen Patientinnen und Patienten tangiert sind, hat die StA diesen als berechtigten Personen ebenfalls Gelegenheit zu geben, die Siegelung zu verlangen (nArt. 248 Abs. 2 StPO). Dies muss zumindest dann gelten, wenn der Arzt selber kein Siegelungs-begehren gestellt hat. Soweit die Patienten entsprechende eigene Geheimnis-rechte (Arzt- und Patientengeheimnis) geltend machen, sind sie als berechtigte Personen zu behandeln und im Entsiegelungsverfahren als Parteien beizuziehen (nArt. 248a Abs. 3 und Abs. 5 StPO). Falls erst das Entsiegelungsgericht erkennt, dass hier neben dem Arzt (als Inhaber) auch die Patienten selbstständig berechtigt sind, so sind Letztere über das Siegelungsbegehren des Arztes zu informieren (nArt. 248a Abs. 2 StPO) und als berechtigte Personen ins Verfahren beizuziehen.
Gemäss der klaren Regelung von nArt. 248 Abs. 2 StPO hat die StA auch den eigenständig berechtigten Drittpersonen, im Beispiel also den mitbetroffenen Patientinnen und Patienten, Gelegenheit zu geben, die Siegelung zu verlangen. Selbst wenn erst das Entsiegelungsgericht erkennt, dass sie (betreffend Patien-tengeheimnisse) berechtigt sind, müssen sie noch nachträglich zum Entsiegelungsverfahren beigezogen werden (nArt. 248a Abs. 2-5 StPO). Es fragt sich, ob dieser selbstständige Rechtsschutz auch für Klienten von Anwälten gelten muss. Nach der im hier vertretenen Auffassung ist dies jedenfalls dann zu bejahen, wenn der Anwalt als Inhaber kein Siegelungsbegehren gestellt hat. Die mitbetroffenen Klienten können eigene Interessen an der Wahrung des Anwaltsgeheimnisses haben (die den Anwalt nicht tangieren). Sofern der Anwalt ein Siegelungs-begehren stellt, ist er als Inhaber an den bei ihm sichergestellten Aufzeichnungen "berechtigt" und kann auch die Interessen seiner Klientschaft wahren. Da die neue Regelung diesbezüglich die bisherige Praxis des Bundesgerichtes abbildet, ist daraus keine spürbare Beschleunigung und Vereinfachung des Verfahrens zu erwarten.
Auch die dreitägige Frist für das Siegelungsbegehren des Inhabers oder der Inhaberin (nArt. 248 Abs. 1 Satz 2 StPO) trägt nur wenig zur gesetzgeberisch angestrebten Verfahrensbeschleunigung bei. Schon nach der bisherigen Rechtsprechung war das Siegelungsbegehren grundsätzlich innert wenigen Tagen zu stellen.
Von erheblicher (normativer) Bedeutung ist die vom Parlament bewusst vorgenommene Einschränkung der möglichen Siegelungsgründe und Durchsuchungshindernisse. Der Siegelung – und damit einem möglichen Durchsuchungs-hindernis im Verfahren nach nArt. 248 f. StPO – unterliegen nach der im Parla-ment verabschiedeten Fassung nur noch Aufzeichnungen oder Gegenstände, die "aufgrund von Art. 264 StPO nicht beschlagnahmt" werden dürfen. Einer Entsiegelung und Durchsuchung können somit künftig nur noch die (allgemeinen) gesetzlichen Zwangsmassnahmenhindernisse von Art. 197 StPO in Verbindung mit einem besonderen Beschlagnahmehindernis gemäss Art. 264 Abs. 1 StPO entgegen stehen. Zwar wurde diese Einschränkung der gesetzlichen Siegelungs-gründe im Gesetzgebungsverfahren ausführlich diskutiert (vgl. Botschaft 2019, S. 6750 f.; Votum BR Keller-Sutter, AB NR 2021 S. 618) und in der Literatur teilweise kritisiert. Der Gesetzgeber hat sich jedoch in Kenntnis dieser Einwände und Gegenvorschläge für die restriktive Lösung (gemäss Expertengruppe NR 2021) entschieden.
Zeugnis- und Aussageverweigerungsrechte ausserhalb der Berufs- und Amtsgeheimnisse nach Art. 264 Abs. 1 lit. a und c-d StPO bilden somit künftig keine möglichen Entsiegelungshindernisse mehr. Das gilt etwa für alle Zeugnis- und Aussageverweigerungsrechte ausserhalb von Art. 170-173 StPO, nämlich solche aufgrund persönlicher Beziehungen gemäss Art. 168 f. StPO, für den nemo tenetur-Grundsatz (Art. 113 Abs. 1 StPO), das Bankkundengeheimnis oder für allgemeine Geschäfts- und Fabrikationsgeheimnisse. Falls kein Siegelungsgrund (geschütztes Geheimnisinteresse) nach Art. 264 Abs. 1 StPO angerufen werden kann, bildet auch der akzessorische Einwand der Untersuchungsrelevanz bzw. der fehlenden Verhältnismässigkeit (Art. 197 Abs. 1 lit. c StPO) kein Entsiegelungs-hindernis. Das Entsiegelungsverfahren dient nicht der allgemeinen Prüfung der der Verhältnismässigkeit von Zwangsmassnahmen, sondern dem Geheimnis-schutz im Hinblick auf die Durchsuchung von Aufzeichnungen und Datenträgern (Art. 246 StPO). Dies gilt schon nach der ständigen bisherigen Praxis des Bundesgerichtes. Die allgemeinen Zwangsmassnahmen-voraussetzungen von Art. 197 StPO sind folglich nur bei Substanziierung von gesetzlich geschützten Geheimnissen (zusätzlich) zu prüfen. Auf ein Entsiegelungsgesuch ist hingegen (mangels gültigem Siegelungsbegehren) nicht einzutreten, falls keine gesetzlich geschützten Geheimnisrechte wenigstens kursorisch angerufen wurden. Falls sich erst nach Substanziierung und näherer Prüfung im Entsiegelungsverfahren ergibt, dass keine Geheimnisse gemäss Art. 264 Abs. 1 StPO tangiert sind, ist das Entsiegelungsgesuch gutzuheissen.
Auch hier sind die praktischen Auswirkungen der Revision eher gering, da schon nach bisheriger Rechtsprechung die primären Entsiegelungshindernisse von Art. 197 Abs. 1 i.V.m. Art. 264 Abs. 1 StPO stark im Vordergrund standen. Weder das Bankkundengeheimnis (BankG, mit Vorbehalt der strafrechtlichen Beweiserhe-bung) noch der nemo tenetur-Grundsatz (mit Einschränkung in Art. 113 Abs. 1 Satz 3 StPO) wurden in der Praxis als Entsiegelungshindernisse anerkannt. Neben den besonderen gesetzlichen Zeugnis- und Aussageverweigerungsrechten (Berufs- und Amtsgeheimnisse) nach Art. 264 Abs. 1 lit. a und c-d StPO verbleiben somit praktisch nur noch für den Persönlichkeitsschutz relevante Privat-geheimnisse, nämlich persönliche Aufzeichnungen und Korrespondenz der beschuldigten Person, als möglicher Siegelungsgrund (Art. 264 Abs. 1 lit. b StPO). Diese Privatgeheimnisse sind allerdings noch gegenüber dem jeweiligen Strafver-folgungsinteresse abzuwägen.
Gestützt auf den Entwurf 2019 und den Vorschlag der Rechtskommission des Nationalrates (2021) wird das Zwangsmassnahmengericht neu auch im erstin-stanzlichen Gerichtsverfahren für Entsiegelungen zuständig sein. Zwar erscheint es inkonsequent, dass im Berufungsverfahren (nArt. 248a Abs. 1 lit. b StPO spricht etwas erratisch von "den anderen Verfahren") die Verfahrensleitung des Berufungsgerichts zuständig bleibt. Die betreffende Kritik in Teilen der Literatur ist allerdings in die Revision nicht eingeflossen.
Grössere Auswirkungen auf die Beschleunigung und Verfahrensstraffung wird nArt. 248a StPO nach sich ziehen. Absatz 3 der Bestimmung sieht vor, dass die berechtigte Person schriftliche "Einwände gegen das Entsiegelungsgesuch" innert einer nicht erstreckbaren (gesetzlichen) Frist von 10 Tagen vorzubringen hat. Da in der bisherigen Praxis solche Fristen oft mehrmals und über mehrere Wochen und Monate hinweg richterlich erstreckt wurden, trägt diese neue Bestimmung zur Beschleunigung bei. Analoges gilt grundsätzlich auch für die gesetzliche Entscheidungsfrist von ebenfalls 10 Tagen (nach Eingang der Stellungnahme) in "spruchreifen" Fällen (Abs. 4), das heisst, wenn keine richterliche Triage der gesiegelten Aufzeichnungen nötig ist und auch sonst kein zwingender sachlicher Grund für eine mündliche Entsiegelungsverhandlung vorliegt. Bei solchen Entscheidungsfristen stellt sich allerdings regelmässig die Frage nach deren blossem Ordnungscharakter bzw. nach den Folgen einer Missachtung der Frist, insbesondere in sachlich begründeten Fällen. Analog zu den Entscheidungsfristen bei Haftverfahren wird eine sachlich begründete und massvolle Überschreitung der Frist nicht ohne weiteres zur Rückgabe der gesiegelten Aufzeichnungen an die Inhaber führen.
Die weiteren Fristvorschriften (von nArt. 248a Abs. 5 StPO) betreffend Durch-führung einer Entsiegelungsverhandlung innert 30 Tagen (nach Eingang der Stellungnahme in nicht "spruchreifen" Fällen) und den "unverzüglichen" Entsie-gelungsentscheid (nach durchgeführter Verhandlung) werden die erstinstanz-lichen Verfahren in der Regel ebenfalls deutlich beschleunigen. Auch die 30-Tages-Frist und die Vorschrift eines "unverzüglichen" Entscheides (innert Tagen bis wenigen Wochen) dürften allerdings blossen Ordnungscharakter in dem Sinne haben, dass ihre Missachtung bzw. massvolle Überschreitung in sachlich begrün-deten Fällen nicht (per se) zur Rückgabe der gesiegelten Aufzeichnungen führt.
In einem neuen Forschungsbeitrag der Universität St. Gallen wird der Reformweg des Entsiegelungsrechts analysiert, vom Vorentwurf 2017 der Expertengruppe BJ, über den darauf gestützten Entwurf des Bundesrates (2019) und die Änderungsvorschläge der Rechtskommission des Nationalrates (2021) bis zur Schlussabstimmung der Räte am 17. Juni 2022 (vgl. Andrina Singenberger, Probleme des Entsiegelungsrechts im Lichte der Revision StPO, Masterarbeit Uni SG, November 2022, S. 37 f.). Dabei werden die bisherige Rechtslage, Kritik und Revisionsvorschläge der Fachliteratur sowie die erfolgte Reform einer kritischen Würdigung unterzogen (vgl. dazu MA S. 36-60).
© Prof. Dr. Marc Forster, RA / 23. März 2023
Nachtrag:
Beschwerde ans Bundesgericht in Entsiegelungssachen auch nach neuem Recht (nArt. 248a StPO, nArt. 80 Abs. 2 BGG):
Wegen einer irrtümlichen Äusserung in einem Teil der Materialien ist in Fachkreisen die Frage aufgeworfen worden, ob nach Inkrafttraten der neuen StPO weiterhin die Beschwerde an das Bundesgericht gegen Entsiegelungs-entscheide der Zwangsmassnahmengerichte zulässig ist. Die Frage ist eindeutig zu bejahen:
Herr B. Stadelmann (Bundesamt für Justiz) äusserte sich anlässlich der Sitzung der nationalrätlichen Kommission für Rechtsfragen vom 8./9. Oktober 2020 missverständlich ("ein Verzicht auf das Prinzip der "double instance" - was bedeutet, dass ein Entsiegelungsentscheid des Zwangsmassnahmengerichts endgültig ist und nicht an das Bundesgericht weitergezogen werden kann"). Der Irrtum wurde in den Beratungen der Bundesversammlung leider teilweise kolportiert (Votum von Frau NRin C. Markwalder).
Die betreffenden Äusserungen beruhen auf einem juristischen Missverständnis. Die "double instance" nach Art. 80 Abs. 2 Satz 3 BGG
bezieht sich auf den kantonalen Instanzenzug. Schon nach jetzigem Recht sagt das Gesetz, dass es keine kantonale Beschwerdeinstanz braucht und die direkte Beschwerde ans BGer
zulässig ist, wenn das ZMG "als einzige kantonale Instanz entscheidet". Die neue Fassung (nArt. 80 Abs. 2 BGG) spricht von "letzten kantonalen Instanzen" und sieht weitherhin
vor, dass es (ausnahmsweise) keine kantonale Rechtsmittelinstanz braucht, wenn kantonale Instanzen "nach der Strafprozessordnung als einzige kantonale Instanz entscheiden". Das
trifft auf Entsiegelungsentscheide des ZMG auch nach neuem Recht weiterhin zu (nArt. 248a Abs. 4 StPO: "endgültig").
Damit hat sich für den Weiterzug von Entsiegelungsentscheiden des ZMG an das BGer nach neuem BGG nichts geändert. Auch aus den Materialien ergibt sich im Gesamtkontext deutlich, dass das
Parlament beim Entsiegelungsrecht den bisherigen Instanzenzug vom ZMG an das BGer beibehalten wollte. In früheren Entwürfen (VE 2017, Entwurf 2019) war sogar noch vorgeschlagen
worden, zusätzlich den doppelten kantonalen Instanzenzug vorzuschreiben, um das BGer indirekt etwas zu entlasten. Die Beschwerde ans BGer abzuschaffen, war hingegen nie
vorgesehen. Die Aussage, wonach ein "Verzicht auf die double Instance" bedeute, "dass ein Entscheid des ZMG endgültig" sei "und nicht an das BGer weitergezogen werden" könne, ist juristisch
falsch und verkennt das Prinzip der double instance. Dieses bezieht sich auf den kantonalen Instanzenzug. Wenn im Sinne von nArt. 80 Abs. 2 BGG und nArt. 248a StPO auf die double instance
verzichtet wird, fällt nicht die BGG-Beschwerde ans BGer dahin, sondern die StPO-Beschwerde an eine kantonale Beschwerdeinstanz. Diese Rechtslage bestand schon nach bisherigem Recht und wird auch
nach neuem Recht so bleiben. Alles andere widerspräche dem klaren Wortlaut des Gesetzes, der BGer-Praxis und den Materialien.
© Prof. Dr. Marc Forster, RA / 21. April 2023
Do
20
Okt
2022
Am 6.10.2022 ist die Referendumsfrist gegen die Revision der Eidg. Strafprozessordnung unbenutzt abgelaufen. Von der Öffentlichkeit und den Medien fast unbemerkt, hat das Parlament am 17.6.2022 den umstrittenen und äusserst knapp ausgefallenen Entscheid gefällt, das bisherige Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft gegen die Haftentlassung von hochgefährlichen oder stark fluchtgefährdeten Beschuldigten abzuschaffen (BBl 2022 1560, 7). Nur noch die beschuldigte Person wird (ab Inkrafttreten der neuen Bestimmungen) die Anordnung oder Verlängerung von Untersuchungs- und Sicherheitshaft anfechten können.
Bisherige Rechtslage und Praxis
Die Strafprozessordnung sieht in Art. 222 gegen die Anordnung, Verlängerung und Aufhebung von Untersuchungs- oder Sicherheitshaft eine Beschwerdemöglichkeit der verhafteten Person vor. Zur Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft sprach sich Art. 222 StPO bisher nicht aus. Diese ergibt sich allerdings klar aus Art. 111 Abs. 1 i.V.m. Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 BGG. Das Bundesgericht interpretierte daher Art. 222 StPO von 2011 bis heute nicht als «qualifiziertes Schweigen» des Gesetzgebers und bejahte eine Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft (BGE 147 IV 123, 124 f. E. 2.2; 138 IV 92, 94 E. 1.1; 137 IV 22, 23 E. 1.2–1.4; 137 IV 87, 89 E. 3; 137 IV 230, 232 E. 1; 137 IV 237, 240 E. 1.2; 137 IV 340, 345 E. 2.3.2. vgl. Forster, Jusletter 26.3.2018, N 2–19; Micheroli/Tag, Jusletter 16.5.2022, N 11–51). Auch nach Erlass des neuen Art. 222 StPO am 17.6.2022 hat das Bundesgericht – bis zum künftigen Inkrafttreten der Revision – an seiner bisherigen Rechtsprechung festgehalten (vgl. z.B. Bundesgerichtsurteil 1B_441/2022 vom 13.9.2022, E. 2).
Ein fragwürdiger kriminalpolitischer Zufallsentscheid
Mit der StPO-Teilrevision vom 17.6.2022 beschränkt der Gesetzgeber das Haft-Beschwerderecht nach Art. 222 StPO nun «einzig» auf die inhaftierte Person. Folglich strich er auch die sich aus Art. 111 Abs. 1 i.V.m. Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 BGG ergebende Legitimation aus dem Gesetz (BBl 2022 1560, 17). Dieser Abschaffung des Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft war ein heftiges kriminalpolitisches Tauziehen im Parlament vorausgegangen: Sowohl der Vorentwurf (2017) als auch der Entwurf (2019) des Bundesrates sahen noch eine ausdrückliche Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft vor (Botschaft, BBl 2019, 6794; vgl. Forster, Jusletter 2018, N 14; Micheroli/Tag, Jusletter 2022, N 4 f.). Die Rechtskommission des Nationalrates hat mit einer hauchdünnen Zufallsmehrheit (13:12) eine Abschaffung des Haft-Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft – sowohl nach StPO als auch nach Bundesgerichtsgesetz – vorgeschlagen. Der Nationalrat ist diesem Vorschlag (als Erstrat) am 18.3.2021 gefolgt, mit dem ebenfalls sehr engen Resultat von 98:89 Stimmen (AB 2021 N 613 f.; vgl. Micheroli/Tag, Jusletter 2022, N 6–8). Der Ständerat folgte dem Nationalrat am 14.12.2021 nicht. Die «Chambre de réflexion» wollte das Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft beibehalten (AB 2021 S 1361 f., 1370, 1372; vgl. Micheroli/Tag, Jusletter 2022, N 9). Im Rahmen der Differenzbereinigung (ab 14.1.2022) und anlässlich seiner zweiten Beratung am 2.3.2022 hielt der Nationalrat aber an seinem Entscheid fest (AB 2022 N 75; vgl. Micheroli/Tag, Jusletter 2022, N 10). Bei der Schlussabstimmung vom 17.6.2022 wurde der Vorschlag des Nationalrats von der Bundesversammlung angenommen.
Systemwidrigkeiten und Risiken
Welchen Risiken die sehr knappe Parlamentsmehrheit damit die Bürgerinnen und Bürger aussetzt, wird künftig die Praxis zeigen müssen (vgl. dazu Forster, Jusletter 26.3.2018, N 1–13; Micheroli/Tag, Jusletter 16.5.2022, N 11–51). Der in der Revision von 2022 erfolgte Ausschluss der Staatsanwaltschaft von der StPO-Haftbeschwerde ist im Übrigen mehrfach systemwidrig: Sogar in der Verwaltungs-Strafrechtspflege ist die Untersuchungsbehörde zur Haftbeschwerde ausdrücklich legitimiert (Art. 51 Abs. 6 VStrR; vgl. Basler Kommentar VStrR [2020]-Graf, Art. 51 N 98–104). Nur schwer einzusehen ist sodann, weshalb die Staatsanwaltschaft gemäss Art. 231 Abs. 2 lit. b StPO beantragen kann, Haftentlassungen – ausgerechnet – des erkennenden erstinstanzlichen Strafgerichtes korrigieren zu lassen (durch die Verfahrensleitung des Berufungsgerichtes), während Haftentlassungen der Zwangsmassnahmengerichte für die Staatsanwaltschaft (nach Art. 222 StPO) unanfechtbar sein sollen. Angesichts der ebenfalls ablehnenden Haltungen der Expertengruppe (VE), des Bundesrates, des Bundesgerichtes und des Ständerates haben faktisch eine Stimme Mehrheit in der Rechtskommission des Nationalrates bzw. 9 Stimmen Mehrheit im (anwaltlich dominierten) Nationalrat zu diesem fragwürdigen kriminalpolitischen Ergebnis geführt.
20. Oktober 2022 / © Prof. Dr. Marc Forster, RA
Fr
06
Mai
2022
Die Ausführungsgefahr ist ein hoch interessanter und kriminalpolitisch umstrittener Haftgrund. Viele Verteidiger und gewisse Hochschuldozierende
monieren, dass es sich um Präventivhaft handle, die eher ins Polizeirecht (präventive Gefahrenabwehr) gehöre als ins Strafprozessrecht (repressive Untersuchung
und Verfolgung von Straftaten). Die Praktiker der Strafjustiz weisen darauf hin, dass der Haftgrund zwar eher selten zur Anwendung gelangt, in der Praxis jedoch unverzichtbar
erscheint.
-- Wie sind die gesetzlichen Haftgründe konzipiert und inwiefern stellt Haft wegen Ausführungsgefahr (Art. 221 Abs. 2 StPO)
Präventivhaft dar?
Ein Blick auf Art. 221 StPO zeigt, dass alle anderen gesetzlichen Haftgründe von Abs. 1 neben einem sogenannten "besonderen" Haftgrund
(Flucht-, Kollusions- und Wiederholungsgefahr, lit. a-c) zusätzlich den dringenden Tatverdacht eines bereits begangenen Verbrechens oder Vergehens voraussetzen. Man spricht hier
auch vom "allgemeinen" Haftgrund des dringenden Tatverdachts, der in den Fällen von Abs. 1 immer vorliegen muss. Die Ausführungsgefahr in Abs. 2 ist demgegenüber ein
selbstständiger Haftgrund, der keinen dringenden Tatverdacht eines bereits verübten Deliktes (notwendigerweise) voraussetzt. In den Fällen von Abs. 2 kann somit Haft zulässig sein,
obwohl in strafrechtlicher Hinsicht noch "nichts passiert" ist, das bereits untersucht werden könnte. Das Gesetz drückt sich in Abs. 2 dementsprechend anders aus als in Abs. 1: Anstatt von
einer "beschuldigten Person" (Abs. 1) spricht Abs. 2 bloss von einer "Person"; wenn noch keine mutmassliche Straftat passiert ist, kann auch niemand förmlich beschuldigt sein. Ausserdem spricht
Abs. 2 von "Haft" und nicht von Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft. Gemeint ist damit Präventivhaft; wenn keine Straftat untersucht wird und keine mutmassliche Sanktion zu
sichern ist, kann auch keine Untersuchungs- oder Sicherheitshaft vorliegen.
-- Welche Fälle werden von Art. 221 Abs. 2 StPO erfasst und wieso ist dieser Haftgrund in der Kriminalpraxis unentbehrlich?
Der klassische Anwendungsfall einer Präventivhaft wegen Ausführungsgefahr sieht exemplarisch wie folgt aus: Der wegen Gewaltdelikten vorbestrafte X
sagt seinem Kumpel Y, er werde seine (Xs) Freundin umbringen, da sie ihn betrogen habe. X schildert dem Y detailliert und glaubhaft, wie er das Opfer zu töten plant. Y geht zur Polizei und meldet
dort, was X ihm gesagt hat. Eine Untersuchungshaft gestützt auf Art. 221 Abs. 1 lit. a-c StPO ist hier nicht möglich, da noch kein Delikt (kein dringender Tatverdacht) vorliegt, das untersucht
werden könnte. Das Verhalten von X, der gegenüber Y lediglich ankündigt, er werde eine dritte Person töten, ist noch keine Straftat, die verfolgt werden könnte. Wenn die Staatsanwaltschaft
Präventivhaft beantragt und der Haftrichter zum Schluss kommt, es sei ernsthaft zu befürchten, dass X seine Drohung wahrmachen könnte, wird der Haftrichter Präventivhaft anordnen. Diese dauert
dann so lange, bis ein Psychiater abgeklärt hat, ob X aus psychiatrischer Sicht gefährlich ist und töten könnte. Wenn die Prognose sehr ungünstig ist, wird Fürsorgerischer Freiheitsentzug wegen
Fremdgefährdung gegen X angeordnet werden; Untersuchungshaft ist nicht möglich, da kein Delikt vorliegt. Wenn die Prognose nicht sehr ungünstig ist, wird X aus der Präventivhaft entlassen werden,
allenfalls gegen Ersatzmassnahmen für Haft (z.B. Verbot, sich der bedrohten Person zu nähern, ambulante Psychotherapie, fürsorgerische Massnahmen usw.).
Es gibt noch einen Spezialfall der Ausführungsgefahr, den einzelne Anwälte und Anwältinnen zum Anlass nehmen zu behaupten, Präventivhaft sei
überflüssig: Im oben geschilderten "klassischen" Fall liegt keine Straftat vor, weil X eine Tötung gegenüber Y ankündigt und nicht gegenüber dem anvisierten potenziellen Opfer. Falls X seine
Freundin direkt mit dem Tod bedroht und diese (wegen der Ernsthaftigkeit der Drohung) in Schrecken oder Angst versetzt wird, läge bereits eine strafbare Drohung (Art. 180 StGB) vor. In diesem
Fall könnte also bereits eine Strafuntersuchung gegen X wegen mutmasslicher Drohung eröffnet werden. Trotzdem müsste auch hier oft auf Präventivhaft (Abs. 2) zurückgegriffen werden und nicht auf
einen besonderen Haftgrund nach Abs. 1: Untersuchungshaft nach Abs. 1 lit. a-c würde nämlich neben dem dringenden Tatverdacht von Drohung auch noch den Nachweis von Fluchtgefahr, Kollusionsgefahr
oder Wiederholungsgefahr voraussetzen. Diese besonderen Haftgründe sind nicht ohne weiteres erfüllt. Wenn aber X seine Freundin mit dem Tod bedroht und zudem ernsthaft zu befürchten ist, er werde
seine Drohung wahr machen, rechtfertigt sich Präventivhaft nach Abs. 2.
-- Kriminalpolitische Würdigung, Alternativen, Praxis zur Ausführungsgefahr, Bedeutung von psychiatrischen
Gutachten
Präventivhaft wegen Ausführungsgefahr wird relativ selten angeordnet. Der Haftgrund ist heikel, da hier eine Person "bloss" wegen schwersten
Drohungen inhaftiert wird, die noch nicht zwangsläufig strafbar sein müssen. Allerdings sieht auch das Zivilrecht (ZGB) bei schwerer Selbst- oder Drittgefährdung einen möglichen gerichtlich
verfügten Freiheitsentzug vor (bis die Gefährdung therapeutisch behoben ist und in den Grenzen des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes). Insofern stellt Art. 221 Abs. 2 StPO eine diffus-hybride
Haftart dar zwischen Strafprozess-, Polizei- und zivilem Fürsorgerecht. Nach der Einschätzung vieler erfahrener PraktikerInnen und Dozierenden braucht es aber weiterhin die Möglichkeit einer
Präventivhaft in solchen Fällen. Der Gesetzgeber will die Ausführungsgefahr in der hängigen StPO-Revision denn auch (nach den bisherigen Entwürfen) beibehalten. Teile der Anwaltschaft kämpfen
kriminalpolitisch dagegen an. Eine andere Frage ist die, ob diese Konstellation dem Zivilrichter überlassen werden könnte, der über Fürsorgerischen Freiheitsentzug nach ZGB
entscheidet. In den Fällen, wo bereits strafbare Drohungen zu untersuchen sind, wäre eine solche Überlappung von Zuständigkeiten zwischen Straf- und Zivilbehörden allerdings
heikel. Und für die Betroffenen macht es im Ergebnis wenig Unterschied, ob nun ein Straf- oder ein Zivilrichter über den Freiheitsentzug entscheidet.
Die heutigen gesetzlichen Hürden für die Anordnung von Präventivhaft und die Gerichtspraxis nach StPO sind ziemlich streng. Es muss ein schweres
Verbrechen, etwa ein Tötungsdelikt, ein schweres Sexualdelikt oder schwere Körperverletzung, ernsthaft drohen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes ist bei der Annahme von
Ausführungsgefahr besondere Zurückhaltung geboten. Das Bundesgericht verlangt eine sehr ungünstige Risikoprognose. Es verlangt hingegen nicht, dass der Drohende bereits konkrete
Anstalten getroffen haben müsste, um das angedrohte schwere Verbrechen zu verüben. Zum Beispiel muss er sich noch keine Tatwaffe zwangsläufig beschafft haben. Entscheidend ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Ausführung aufgrund einer
Gesamtbewertung der persönlichen Verhältnisse sowie der Umstände als sehr hoch erscheint. Dabei ist auch dem psychischen Zustand der drohenden Person bzw. ihrer Unberechenbarkeit oder Aggressivität und allfälligen Vorstrafen
Rechnung zu tragen. Je schwerwiegender das ernsthaft angedrohte
schwere Verbrechen ist, desto eher rechtfertigt sich grundsätzlich, im Rahmen einer sorgfältigen Risikoprüfung, die Präventivhaft.
Wenn der Haftrichter z.B. sieht, dass jemand "bloss" aus Verzweiflung,
unter Drogeneinfluss oder aus grober Fahrlässigkeit schwer gedroht hat, die Ausführung aber nach den konkreten Umständen nicht sehr wahrscheinlich erscheint, wird er auf Präventivhaft verzichten,
allenfalls Ersatzmassnahmen anordnen oder den Fall dem Zivilrichter (häusliche Gewalt, Prüfung von Fürsorgerischer Unterbringung oder anderen fürsorgerischen Massnahmen) übergeben. Wenn der
Haftrichter hingegen schwere Bedenken hat und die Ernsthaftigkeit nicht ausreichend ausschliessen kann, wird er ein psychiatrisches Vorabgutachten zur Gefährlichkeitsprognose
einholen. Dieses sollte innert einigen Wochen bis wenigen Monaten erstellt werden. Oft fallen diese Gutachten allerdings etwas vage aus, weil erstens die Beurteilung "ad hoc" (ohne längere
therapeutische Erfahrung) schwierig ist und zweitens die forensischen PsychiaterInnen die "Verantwortung" auf beide Seiten hin nicht sehr gerne übernehmen. Regelmässig muss der Haftrichter daher
eine sehr heikle Abwägung vornehmen zwischen den Risiken für das bedrohte Opfer und den Freiheitsrechten der drohenden Person.
6. Mai 2022 / © Prof. Dr. Marc Forster
Mi
19
Mai
2021
– Ist das neue Gesetz über präventive Massnahmen gegen "terroristische Gefährder" (PMT) sachlich notwendig oder rechtsstaatlich bedenklich? Könnte es auch militante Klimaschützer/innen oder rabiate Corona-Demonstrierende treffen? Welche Strafnormen treten am 1. Juli 2021 bereits in Kraft? Über was wird am 13. Juni 2021 noch abgestimmt? Wohin geht die weitere Entwicklung?
– Was kommt am 1. Juli 2021?
Gegen die vom Parlament (im September 2020) verabschiedeten strafrechtlichen und rechtshilferechtlichen Normen zur Terrorismusbekämpfung ("Vorlage 1") ist kein Referendum ergriffen worden. Die betreffenden Normen treten bereits am 1. Juli 2021 in Kraft (gemäss dem bundesrätlichen Entscheid vom 31. März 2021). Dabei handelt es sich insbesondere um die revidierte Strafnorm von Art. 260ter StGB gegen kriminelle und terroristische Organisationen und um den neuen Art. 260sexies StGB gegen die Anwerbung, Ausbildung und Reisetätigkeit (insbesondere von sogenannten "Jihadisten") im Hinblick auf terroristische Straftaten. Hinzu kommt eine neue Strafnorm in Art. 74 Abs. 4 des Nachrichtendienstgesetzes (NDG, SR 121) gegen die Beteiligung an einer (nach Art. 74 Abs. 1 NDG) verbotenen Organisation oder Gruppierung und gegen ihre personelle oder materielle Unterstützung, insbesondere durch Organisieren von Propaganda oder Anwerbung für sie und durch sonstiges Fördern ihrer Aktivitäten. Am 1. Juli 2021 in Kraft treten wird auch der neue Art. 80d-bis IRSG betreffend vorzeitige Übermittlung (noch vor Erlass einer Rechtshilfe-Schlussverfügung) von Informationen und Beweismitteln an ausländische Strafbehörden und weitere gesetzliche Anpassungen (insbes. Ergänzungen in der StPO betreffend Bundesgerichtsbarkeit für Art. 260ter und sexies StGB sowie Art. 74 Abs. 4 NDG; vgl. BBl 2020 7893 ff.).
– Über was wird im Juni 2021 noch an der Urne abgestimmt?
Gegen das vom Parlament am 25. September 2020 ebenfalls verabschiedete Bundesgesetz über präventive polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT) ist hingegen das Referendum ergriffen worden. Darüber wird am 13. Juni 2021 abgestimmt ("Vorlage 2"):
Gegen sogenannte terroristische Gefährderinnen und Gefährder (Art. 23e des revidierten BWIS, SR 120) können vom Fedpol, unter den gesetzlich geregelten Voraussetzungen (Art. 23f-q BWIS), präventive polizeiliche Massnahmen verfügt bzw. beantragt werden, nämlich eine Melde- und Gesprächsteilnahmepflicht (Art. 23k BWIS), ein Kontaktverbot mit gewissen Personen (Art. 23l BWIS), eine lokale Aus- und Eingrenzung (Art. 23m BWIS), ein Ausreiseverbot (Art. 23n BWIS), ein Hausarrest ("Eingrenzung auf eine Liegenschaft", Art. 23o-p BWIS) sowie eine (nicht geheime) elektronische Randdaten-Überwachung bzw. Lokalisierung über Mobilfunk, zur Sicherung des Vollzuges solcher Massnahmen (Art. 23q BWIS). Die Melde- oder Gesprächsteilnahmepflicht, das Kontaktverbot, die Aus- oder Eingrenzung, das Ausreiseverbot sowie die Mobilfunk-Randdaten-Überwachung (elektronische Lokalisierung) kann gegen terroristische Gefährderinnen und Gefährder ab deren vollendetem 12. Altersjahr angeordnet werden, der Hausarrest ab dem 15. Altersjahr (Art. 24f BWIS). Der Hausarrest ist vom Zwangsmassnahmengericht zu bewilligen (Art. 23p Abs. 1 BWIS); er ist auf drei Monate begrenzt und kann zwei mal (um jeweils maximal drei weitere Monate) verlängert werden (Art. 23o Abs. 5 BWIS). Die Massnahmenentscheide können mit Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht angefochten werden (Art. 24g BWIS; vgl. BBl 2020 7742 ff.).
– Was wartet zusätzlich noch in der gesetzgeberischen Pipeline?
Nicht zu vergessen ist schliesslich noch eine dritte Reformvorlage mit unmittelbaren Bezügen zur Terrorismusbekämpfung, zu der kürzlich die Botschaft des Bundesrates vom 5. März 2021 publiziert worden ist (BBl 2021 738): Im PCSC-Abkommen mit den USA und im Abkommen mit der EU zur Beteiligung an "Prüm" (inklusive Eurodac-Protokoll EU-Schweiz-Liechtenstein) geht es um die Erweiterung des justiziellen Informationsaustausches zu Zwecken der Strafverfolgung (also nicht nur polizeiliche Zusammenarbeit und Prävention) bzw. um neue Möglichkeiten der akzessorischen Rechtshilfe im Bereich der Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität. Die Abkommen sollen insbesondere die gegenseitige Abgleichung von Fingerabdrücken, DNA-Profilen und Fahrzeugregistrierungen ermöglichen (vgl. Entwürfe der beiden Bundesbeschlüsse in BBl 2021 739 und 741).
Zur strafrechtlichen "Vorlage 1" (in Kraft ab 1. Juli 2021):
Art. 260ter StGB stellt das Unterstützen der Tätigkeit von terroristischen Organisationen (und die Beteiligung an solchen) unter Strafe, Art. 260sexies StGB ähnliche Unterstützungshandlungen (wie Art. 74 Abs. 4 NDG gegen das Anwerben, Ausbilden oder Reisen) im Hinblick auf terroristische Straftaten. Angesichts dieser Normen-Überschneidungen wird die Gerichtspraxis abgrenzen müssen, welche Gruppierungen nicht terroristisch (im Sinne des StGB) aber verboten (im Sinne des NDG) sind (keine Anwendbarkeit von Art. 260ter StGB, aber Anwendbarkeit von Art. 74 Abs. 4 NDG), und welche Unterstützungshandlungen nicht im Hinblick auf konkrete terroristische Gewaltverbrechen erfolgen (keine Anwendbarkeit von Art. 260sexies StGB, aber mögliche Anwendbarkeit von Art. 74 Abs. 4 NDG gegen verbotene Gruppierungen). Gemäss NDG verboten werden können auch Gruppierungen, die nicht alle Tatbestandselemente einer terroristischen Organisation (Art. 260ter Abs. 1 lit. a Ziff. 2 StGB) erfüllen. Da die "Vorlage 1" die Strafbarkeit nach dem bisherigen befristeten "IS-/Al-Qaïda-Gesetz" (AS 2014 4565, AS 2018 3345) abdeckt, wird dieses aufgehoben, sobald der Bundesrat die dort anvisierten Gruppierungen und Organisationen für verboten erklärt hat (vgl. Anhang Ziff. I zum Bundesbeschluss vom 25.9.2020, BBl 2020 7893; Art. 74 Abs. 1 NDG). Bis dahin bleibt das IS-Gesetz längstens bis Ende 2022 in Kraft (letzte Verlängerung durch das Parlament).
Keine Privilegierung von "Mafiabossen"
Zu begrüssen ist die Korrektur, die das Parlament am bundesrätlichen Entwurf von Art. 260ter StGB vorgenommen hat: Nach dem Entwurf hätte die neue Strafobergrenze von zehn Jahren Freiheitsstrafe nur für die Unterstützung und Beteiligung an einer terroristischen Organisation gegolten (vgl. BBl 2018 6529). Für Mafiabosse (denen sonst regelmässig keine eigenen konkreten Verbrechen nachzuweisen sind) wäre hingegen eine deutlich tiefere Strafobergrenze von lediglich fünf Jahren vorgesehen gewesen (vgl. die Kritik in meinen Blog vom 6. Januar 2020). Die vom Parlament im September 2020 verabschiedete gesetzliche Fassung korrigiert diese Unstimmigkeit.
Problematik terroristischer Einzeltäter und Kleingruppen
De lege ferenda bestehen allerdings noch Lücken bei der Verfolgung von terroristischen Anschlägen und Massenmorden von Einzeltätern und Kleingruppen. Zu erinnern ist insbesondere an den Terroranschlag in Wien vom 2. November 2020 (mit vier Toten und 23 teils schwer Verletzten), an die 51 Morde von Christchurch im März 2019, die Anschlagsserie in London zwischen März und September 2017 (14 Tote und 146 Verletzte), die Lastwagen-Attentate im Juli bzw. Dezember 2016 in Nizza und Berlin (mit 86 bzw. 11 getöteten Menschen), das Bombenattentat am Boston Marathon 2013 (3 Tote, 264 Verletzte, darunter viele Schwerverletzte), die 2011 auf Utoya ermordeten 77 Kinder und Jugendlichen, die NSU-Mordserie 2000-2007 in Deutschland (neun Tote), oder an das Zuger Attentat von 2001, bei dem 14 Kantons- und Regierungsräte erschossen und zahlreiche weiteren Menschen zum Teil schwer verletzt wurden. Terroristische Einzeltäter und Kleingruppen, die den Organisationstatbestand nicht erfüllen, werden von Art. 260ter StGB nicht erfasst, Art. 260quinquies StGB stellt lediglich ihre Finanzierung unter Strafe, nicht aber deren anderweitige, bewusste und massive logistische Unterstützung (abgesehen von der kausalen Beihilfe zu einem konkreten Verbrechen). Ob Art. 260sexies StGB und Art. 74 Abs. 4 NDG, die auf Jihad-Unterstützer zugeschnitten sind, hier praxistaugliche gesetzliche Grundlagen bringen werden, erscheint eher fraglich.
Zur präventiv-polizeilichen "Vorlage 2": PMT,
Volksabstimmung vom 13. Juni 2021:
Als "terroristische Gefährder/innen" gelten nach dem PMT (Referendumsvorlage zum revidierten BWIS, SR 120, BBl 2020 7741 ff.) Personen, bei denen "aufgrund konkreter und aktueller Anhaltspunkte davon ausgegangen werden muss, dass sie oder er eine terroristische Aktivität ausüben wird" (Art. 23e Abs. 1 BWIS). Die Vorlage definiert "terroristische Aktivitäten" als "Bestrebungen zur Beeinflussung oder Veränderung der staatlichen Ordnung, die durch die Begehung oder Androhung von schweren Straftaten oder mit der Verbreitung von Furcht und Schrecken verwirklicht oder begünstigt werden sollen" (Art. 23e Abs. 2 BWIS).
Die Problematik des Terrorismusbegriffes
Die "Terrorismusdefinition" von Art. 23e BWIS erscheint im Lichte der bundesgerichtlichen (strafrechtlichen) Praxis etwas gar weit gefasst. Das Bundesgericht legt den Fokus auf die besonders schwere Gewaltverbrechen (wie z.B. Bombenattentate, Tötungsdelikte, schwere Brandanschläge, Flugzeugentführungen usw.), die sich nicht ausschliesslich gegen staatliche Polizei- und Militärkräfte richten, sondern regelmässig – und gerade – auch gegen beliebige zivile Opfer und zivile Anschlags-Ziele (z.B. öffentliche Verkehrsmittel wie Züge oder Flugzeuge). Diese Fokussierung auf zivile Opfer ist im Terrorismusstrafrecht sehr wichtig, da die Justiz sonst (bei schweren Delikten gegen Militär- und Polizeikräfte bzw. bei bürgerkriegsähnlichen Konflikten) regelmässig vor ein schweres Dilemma gestellt wird, das den Terrorismusbegriff ad absurdum zu führen droht: Bekanntlich gefallen sich autoritäre Machthaber und exzessiv gewalttätige staatliche Regimes sehr oft darin, praktisch alle Oppositionellen in ihrem Land als "Terroristinnen und Terroristen" zu bezeichnen und zu verfolgen, teilweise sogar (mit Auslieferungsersuchen) bis ins Ausland (vgl. dazu Marc Forster, in: Basler Kommentar Internationales Strafrecht, 2015, Art. 3 IRSG N. 7-11). In gewissen Staaten sind (neben Politiker/innen) namentlich Journalist/innen, die kritisch über staatliche Gewalt und Unterdrückung von Minderheiten berichten, von diesem internationalstrafrechtlichen Missbrauch und der Politisierung des Terrorismusbegriffes betroffen. Ohne eine konsequente Fokussierung auf systematische Gewalt gegen Zivilpersonen und auf das Verbreiten von Furcht und Schrecken in der Zivilbevölkerung läuft die Justiz Gefahr, dass sie einseitig Partei ergreifen muss gegen Bürgerkriegsparteien oder gegen legitime Freiheitskämpfer, die sich gegen Willkürherrschaft und schwere systematische Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Regimes wehren (derzeit zum Beispiel in Burma).
Terrorismusbegriff im PMT
Zwar erscheint die Definition der "terroristischen" Aktivitäten (in Art. 23e BWIS) unter diesem Gesichtspunkt etwas unbestimmt. Der rechtspolitische Vorwurf, die PMT-Vorlage erlaube eine extensive Ausdehnung der präventiven Massnahmen (gegen terroristische Gefährder/innen) auf legitime politische Aktivist/innen und Demonstrierende in der Schweiz, ist jedoch unbegründet: Erstens müssen "Bestrebungen zur Beeinflussung oder Veränderung der staatlichen Ordnung" vorliegen, "die durch die Begehung oder Androhung von schweren Straftaten oder mit der Verbreitung von Furcht und Schrecken verwirklicht oder begünstigt werden sollen" (Art. 23e Abs. 2 BWIS). Zweitens muss "aufgrund konkreter und aktueller Anhaltspunkte davon ausgegangen werden" können, dass Gefährder/innen eine solche "terroristische Aktivität ausüben" werden (Art. 23e Abs. 1 BWIS). Und drittens müssen – neben den besonderen (qualifizierten) Voraussetzungen von Art. 23k-q BWIS – als allgemeine gesetzliche Voraussetzung noch zusätzlich sämtliche Subsidiaritäts-Kriterien von Art. 23f Abs. 1 BWIS kumulativ erfüllt sein.
Besonders einschneidende präventive Zwangsmassnahmen – wie etwa der "Hausarrest" nach Art. 23o BWIS – setzen die Hürden noch deutlich höher, als sie bereits in den allgemeinen Grundsätzen von Art. 23e und 23f BWIS verankert sind: Ein Hausarrest setzt nämlich "konkrete und aktuelle Anhaltspunkte" dafür voraus, dass von terroristischen Gefährder/innen eine "erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter ausgeht, die nicht anders (als durch Hausarrest) abgewendet werden kann" (Art. 23o Abs. 1 lit. a BWIS). Aber es kommt hier noch eine zusätzliche Voraussetzung dazu: Selbst bei Erfülltsein dieses qualifizierten Erfordernisses ist der Hausarrest nur möglich, wenn zuvor eine mildere Zwangsmassnahme (etwa ein Kontaktverbot, eine Rayonauflage oder ein Reiseverbot) angeordnet worden ist und der Gefährder oder die Gefährderin dagegen verstossen hat (Art. 23o Abs. 1 lit. b BWIS). Der Hausarrest muss zudem richterlich bewilligt werden (Art. 23p BWIS).
– Hausarrest gegen Klimaschützer und Corona-Demonstrierende?
Juristisch unbegründet erscheinen somit Befürchtungen (von vermeintlichen oder echten "Expert/innen" des Terrorismus-Straf- und Polizeirechts), wonach politische Aktivist/innen, etwa militante Klimaschützer/innen, die z.B. Fassaden beschmieren oder vorübergehend Filialen von Banken oder anderen Unternehmen besetzen (Hausfriedensbruch, Nötigung, Sachbeschädigung), als "terroristische Gefährder/innen" eingestuft und von Hausarresten betroffen werden könnten. Dafür findet sich in Art. 23e-q BWIS keine sachliche Grundlage. Wenn der Zwangsmassnahmenrichter allerdings konkrete und aktuelle Anhaltspunkte sieht, dass von gefährlichen und extrem gewaltbereiten politischen Extremist/innen eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter ausgeht, nachdem bereits angeordnete mildere Präventivmassnahmen nichts gefruchtet haben (Art. 23o Abs. 1 BWIS), ist gegen einen präventiven Hausarrest von verhältnismässiger Dauer rechtsstaatlich kaum etwas einzuwenden. Dies umso weniger, als die Strafprozessordnung bei ernstlicher Ausführungsgefahr für ein schweres Verbrechen sogar die Anordnung von Untersuchungshaft in einem Gefängnis (und mit einem sehr restriktiven Vollzugsregime) ermöglicht, und zwar auch präventiv, nämlich gegen Gefährder/innen, die nicht zwangsläufig bereits ein Delikt begangen haben müssen (Art. 221 Abs. 2 StPO). Der einschlägigen Praxis der Strafbehörden und den Lageberichten von Polizei und Staatsschutz lässt sich entnehmen, dass in der Schweiz wohnhafte radikalisierte Jihad-Sympathisant/innen (der sogenannten "dritten Generation") leider zunehmend jünger werden. Dass bereits 15-Jährige terroristische Gefährder/innen (unter den genannten restriktiven Voraussetzungen) von Hausarrest betroffen sein können (Art. 24f Abs. 2 BWIS), trägt dieser bedauerlichen Entwicklung Rechnung.
– Grundrechtswidriger "Sündenfall" oder notwendige gesetzliche Reform in Zeiten hoher terroristischer Bedrohung?
Das PMT ist im Übrigen die logische kriminalpolitische Konsequenz aus äusserst tragischen Erfahrungen mit diversen terroristischen Schwerverbrechern (Terroranschläge von Paris, London, Nizza, Berlin, Wien usw.), deren hohe Gefährlichkeit zwar bereits vor den Terroranschlägen polizeilich erkannt worden war, gegen die aber (mangels bereits verfolgbarer schwerer Delikte) keine gesetzliche Grundlage für geeignete präventive Polizeimassnahmen bestand. Die Vorlage schliesst diese Lücke im schweizerischen Terrorismus-Polizeirecht.
19. Mai 2021 / © Prof. Dr. Marc Forster
Mo
06
Jan
2020
Anfang Dezember 2019 ist der Ständerat (nach einem Rückweisungsantrag von Ständerat Beat Rieder) auf die Terrorismusvorlage (BBl 2018 6427ff., 6525 ff.) vorläufig nicht eingetreten. Es wurde verlangt, dass die Sicherheitspolitische Kommission einen Mitbericht der Rechtskommission einholt.
Unter Hinweis auf die Vernehmlassung des Anwaltsverbandes wurde insbesondere die Vorlage zu den rechtshilferechtlichen Bestimmungen kritisiert; so erlaube der Art. 80dbis E-IRSG den Staatsanwälten (nicht nur bei Terrorismusverdacht), vorzeitig (vor Abschluss eines entsprechenden förmlichen Rechtshilfeverfahrens) Informationen und Beweismittel an ausländische Strafbehörden zu übermitteln (vgl. Tages-Anzeiger vom 10. Dezember 2019). Dieser Einwand übersieht, dass heute sogar eine unaufgeforderte Übermittlung ans Ausland (ohne jegliches Rechtshilfeersuchen) zulässig sein kann (Art. 67a IRSG).
Leider werden die statistischen Zahlen zur Entwicklung terroristischer Gewaltverbrechen von den amerikanischen und europäischen Behörden regelmässig geschönt und verzerrt dargestellt:
Das Aussenministerium der USA (State Department) hat Statistiken zur Zahl der "weltweiten" Terroranschläge und zur Zahl der getöteten Opfer zwischen 2006 und 2018 publiziert (vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/380942/umfrage/anzahl-der-terroranschlaege-weltweit/ https://de.statista.com/statistik/daten/studie/380949/umfrage/getoetete-personen-durch-terroranschlaege-weltweit/). Die betreffenden Zahlen könnten zunächst einen gewissen Rückgang terroristischer Anschläge suggerieren. Wenn westliche (und besonders amerikanische) Quellen von "weltweit" sprechen, meinen sie allerdings in der Regel die westliche "Welt". Die Zahlen der in den Jahren 2012 und 2017 angeblich Getöteten (11'098 bzw. 18'753 Menschen) erscheinen auffällig tief (und merkwürdig präzise). – Hat hier z.B. auch der Staatsterror gegen die eigene Zivilbevölkerung (etwa durch das syrische Regime, u.a. mit dem Einsatz von Fassbomben in Wohngebieten) Berücksichtigung gefunden? Und wie steht es mit den damaligen horrenden Opferzahlen allein des IS in Syrien und im Irak oder mit den unüberschaubaren Mordserien diverser Terrororganisationen (etwa in Afghanistan, im Yemen oder in verschiedenen Regionen Afrikas)? Könnte es sein, dass die amerikanischen Behörden damit angebliche Erfolge ihres (ab 2001 eingeleiteten) "War on Terrorism" dokumentieren möchten? Solche politisch gefärbten Zahlen müssten aufgrund von anderen verlässlichen Quellen (etwa des Internationalen Roten Kreuzes oder der UNO) jedenfalls kritisch hinterfragt werden. Selbst aus den Zahlen des State Department liessen sich bestenfalls grosse Schwankungen der Opferzahlen (zwischen 2006 und 2017) ablesen. Und im Jahr 2018 hat die Zahl der Terror-Todesopfer mit 32'836 Personen sogar einen neuen absoluten Höchststand erreicht (vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/380949/umfrage/getoetete-personen-durch-terroranschlaege-weltweit/).
Aber auch Europa "trickst" und beschönigt mit gewissen Statistiken zu terroristischen Gewaltverbrechen: So hat die EU (über Europol) Zahlen publiziert zu den "terroristischen Angriffen" von 2008-2018 in Europa und den diesbezüglichen Festnahmen (vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/493217/umfrage/angriffe-und-festnahmen-mit-terroristischem-hintergrund-in-der-eu/). Zwar sind die Festnahmen seit ca. 2010 markant (auf mehr als das Zweifache) gestiegen. Auffällig ist jedoch, dass Europol nur die Zahl der terroristischen "Angriffe" nennt, aber keine Opferzahlen. Daraus resultiert eine Verfälschung der Statistik: Blosse Einzelangriffe werden gleich gezählt und gewichtet wie Massenmorde (z.B. das Massaker vom 13. November 2015 im Pariser Konzertsaal "Bataclan" oder die beiden Massentötungen mit Lastwagen von 2016 in Nizza und Berlin). Der methodische Unsinn führt zum verzerrten Bild, dass – ausgerechnet – die beiden europäischen "Terrorjahre" 2015 und 2016 (mit hunderten Toten und Schwerverletzen) statistisch "friedlicher" erscheinen als z.B. die Jahre 2014 und 2017, und dass dabei das falsche Bild einer seit 2010 abnehmenden bzw. gleichbleibenden terroristischen Gewaltkriminalität suggeriert wird.
Zur Erinnerung: Allein bei den drei "Angriffen" vom 13. November 2015 in Paris gab es 130 Tote und 683 Verletzte. Am 14. Juli bzw. 19. Dezember 2016 wurden bei zwei Lastwagen-Anschlägen in Nizza und Berlin 86 bzw. 11 Menschen getötet; 400 bzw. 55 weitere Opfer wurden (grossteils schwer) verletzt. Mit anderen Worten: Zwar ist seit 2010 die Zahl der jährlichen Anschläge eher etwas gesunken; die Opferzahlen haben aber (bis 2015/2016) wieder markant zugenommen. Auch die statistischen Angaben des Nachrichtendienstes des Bundes kranken an ähnlichen Gewichtungsfehlern (indem zwischen der Anzahl und der Schwere der Anschläge in Europa nicht ausreichend differenziert wird, vgl. Lagebericht NDB "Sicherheit Schweiz 2019", S. 38).
Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Behörden primär Erfolge vermelden wollen (steigende Anzahl Verhaftungen), während die hohen Opferzahlen (auch in Europa) statistisch retouchiert werden (Zählen von "Anschlägen" anstatt von Opfern). Solche Schönfärbereien beeinflussen offenbar auch die kriminalpolitischen Entscheide des eidgenössischen Parlamentes bei der Revision des veralteten Terrorismus-Strafrechts.
Auch in der (revisionskritischen) strafrechtlichen Literatur mischen sich gelegentlich "wissenschaftliche" Argumente mit kriminalpolitischen Motiven: Schon dem bisherigen Art. 260ter StGB wurde vorgeworfen, er sei "präventiv" ausgerichtet und führe zu einer strafrechtsdogmatisch unzulässigen Vorverlagerung der Strafbarkeit, indem er Aktionen unter Strafe stelle, "bevor überhaupt ein konkretes Delikt verübt" worden sei. Dabei "suggeriere" das Strafrecht der Bevölkerung einen "Schutz vor terroristischen Attentaten" bzw. eine "Beherrschung des Problems". – Solchen Verkürzungen ist zu widersprechen: Die Mafia oder terroristische Organisationen wie der IS haben bereits zahlreiche Schwerverbrechen nachweislich begangen. Mit einer "Verschiebung der Strafbarkeit auf der Zeitachse" (wie in Teilen der Literatur behauptet wird) hat Art. 260ter StGB überhaupt nichts zu tun. Die Bestimmung bezweckt vielmehr eine Beweisverlagerung: Angehörige (namentlich Bosse) mafiöser und terroristischer Organisationen sowie deren massgebliche Unterstützer sollen auch dann strafrechtlich verfolgt werden können, wenn ihnen noch keine Beteiligung (Mittäterschaft oder Teilnahme) an einem konkreten Mafiaverbrechen oder einem terroristischen Gewaltverbrechen persönlich zugerechnet werden kann.
Wenn der Gesetzgeber hier eine Strafwürdigkeit erkennt, geht es ihm weder um "Prävention", noch begeht er ein strafrechtsdogmatisches Sakrileg. Selbst das gemeinrechtliche Individualstrafrecht kennt diverse Fälle von akzessorischer Strafbarkeit ohne Verwirklichung des anvisierten Hauptdeliktes: Versuchte Anstiftung zu einem Verbrechen ist ohne jegliche Haupttat strafbar (Art. 24 Abs. 2 StGB). Auch blosse (öffentliche) Aufrufe zu Verbrechen oder Gewaltstraftaten (Art. 259 StGB) oder blosse Vorbereitungshandlungen zu gewissen Schwerverbrechen (Art. 260bis StGB) sind strafbar, ohne dass in der Folge eine entsprechendes Verbrechen versucht oder verübt werden müsste. Falls ein Terrorist z.B. wegen eines konkreten Mordes angeklagt wird, muss auch ihm eine persönliche Beteiligung daran rechtsgenüglich nachgewiesen werden. – Wieso aber sollten Mafiosi und Terroristen nicht schon wegen ihrer nachweisbaren Zugehörigkeit z.B. zur Camorra oder zum IS in angemessener Weise bestraft werden können?
Wer gegen solche "Vorverlagerungen" der Strafbarkeit im Bereich der Schwerstkriminalität ankämpft, betreibt in der Regel keine Strafrechtsdogmatik, sondern Kriminalpolitik. Erfreulicherweise besteht für eine entsprechende Modernisierung und Verschärfung des Terrorismusstrafrechts nach schweizerischem Modell (vgl. dazu schon M. Forster, Kollektive Kriminalität, Das Strafrecht vor der Herausforderung durch das organisierte Verbrechen, Basel 1998) unterdessen ein weitgehender völkerrechtlicher Konsens (vgl. Art. 6 Abs. 1 und 8-9 des Übereinkommens des Europarates zur Verhütung des Terrorismus vom 16. Mai 2005, SEV Nr. 196, BBl 2018 6541 ff.).
Die im Entwurf des Bundesrates vorgeschlagene Änderung, bei der neuen Unterstützungsvariante die verbrecherische Zielsetzung der kriminellen Organisation nicht (nochmals) zu erwähnen (Art. 260ter Abs. 1 lit. b E-StGB), verdient Zustimmung: Zum einen wird diese Zielsetzung bereits bei der gesetzlichen Definition der (unterstützen) krimOrg ausreichend erwähnt; zum anderen hat die Bundesgerichtspraxis deutlich gemacht, dass die Unterstützung konkreter Verbrechen hier gerade nicht zu verlangen ist, weshalb der bisherige (renundante) Gesetzestext missverständlich wirkt.
Berechtigt scheint hingegen die Kritik (etwa des Anwaltsverbandes) am vorgeschlagenen Wegfall des Geheimhaltungs-Merkmals (Art. 260ter Abs. 1 E-StGB): Dass ein gesetzliches Tatbestandsmerkmal die Strafverfolgung "erschwere" (so das Hauptargument der Strafverfolger), ist vom Gesetzgeber gewollt und reicht als kriminalpolitisches Motiv einer Streichung (für sich alleine) nicht. Das bisherige Erfordernis der Geheimhaltung des Aufbaus und der personellen Zusammensetzung der krimOrg erklärt sich aus der (leider vielfach in Vergessenheit geratenen) Zielsetzung der Norm: Die Vorverlagerung der Strafbarkeit auf Beteiligung und Unterstützung ausserhalb der klassischen Regeln der Teilnahmedogmatik rechtfertigt sich nur für besonders gefährliche terroristische sowie (im engeren Sinne) mafiöse Gruppierungen, nicht aber für "gewöhnliche" Verbrecherbanden, bei denen die "Omertà" und die heimliche Unterwanderung (der legalen Wirtschaft und Politik) eine deutlich geringere Bedeutung spielen.
Sehr zu begrüssen ist wiederum die höhere Strafobergrenze (10 Jahre) für Terroristen (Art. 260ter Abs. 2 E-StGB) sowie das Mindeststrafmass (drei Jahre) für Mafiabosse bzw. Terroristen mit "bestimmendem Einfluss" (Abs. 3). Wenig einleuchtend scheint hingegen, wieso der Mafiaboss lediglich mit höchstens 5 Jahren Freiheitsstrafe bedroht werden soll, sofern ihm keine konkreten Verbrechen persönlich nachzuweisen sind (Abs. 2 ist allein auf terroristische krimOrg zugeschnitten).
Das schweizerische Terrorismus-Strafrecht weist leider weiterhin bedenkliche Lücken auf, denen der Entwurf des Bundesrates von 2018 zu wenig Rechnung trägt: Völlig zu übersehen scheint der Gesetzgeber das Problem der terroristischen Anschläge und Massenmorde von Einzeltätern und Kleingruppen. Diese werden von Art. 260ter StGB überhaupt nicht erfasst. – Zu erinnern ist hier beispielsweise an die 51 Morde von Christchurch im März 2019, die Lastwagen-Attentate im Juli bzw. Dezember 2016 in Nizza und Berlin (mit 86 bzw. 11 getöteten Menschen), das Bombenattentat am Boston Marathon 2013, die 2011 auf Utoya ermordeten 77 Kinder und Jugendlichen, die NSU-Mordserie 2000-2007 in Deutschland, oder an das Zuger Attentat von 2001, bei dem 14 Kantons- und Regierungsräte erschossen und zahlreiche weiteren Menschen zum Teil schwer verletzt wurden.
Nur wenig hilfreich und stark auslegungsbedürftig ist in diesem Zusammenhang der neu vorgeschlagene Art. 260sexies E-StGB: Wie schon der Bundesrat in seiner Botschaft bemerkt hat, könnten damit höchstens "kleinere Lücken" geschlossen werden: Zwar setzt diese Bestimmung keine terroristische Organisation voraus. Die dort unter Strafe gestellten Handlungen (Anwerben, Sich-Anleiten-Lassen/Anleiten, Reisen) müssen jedoch "im Hinblick auf die Verübung eines" (konkreten terroristischen) "Gewaltverbrechens" erfolgen. Die Tragweite der vorgeschlagenen Norm geht daher über die – bereits strafbaren – Vorbereitungshandlungen (Art. 260bis StGB) bzw. über Beihilfe zu Gewaltverbrechen (Art. 25 StGB) kaum hinaus.
Zudem ist nur schwer zu erkennen, wie die Schweiz damit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen nach Ratifikation des Übereinkommens des Europarates zur Verhütung des Terrorismus (vom 16. Mai 2005) vollständig nachkommen würde: Artikel 6 Absatz 1 dieses Übereinkommens verlangt ausdrücklich eine Strafnorm gegen Anwerbungen "für terroristische Zwecke". Eine solche Strafnorm ginge deutlich weiter als die vom Bundesrat (in Art. 260sexies Abs. 1 lit. a E-StGB) inkriminierte Anwerbung für ein konkretes terroristisches "Gewaltverbrechen" ("Begehung einer solchen Straftat oder die Teilnahme daran"). Schon die gezielte Anwerbung, sich z.B. dem IS anzuschliessen, muss nach dem Übereinkommen des Europarates unter Strafe gestellt werden (und nicht bloss die Anwerbung für konkrete Gewaltverbrechen des IS). In Art. 260sexies Abs. 1 lit. a E-StGB muss die fragliche verunglückte Wendung ("für die Begehung einer solchen Straftat oder die Teilnahme daran") daher ersetzt werden durch: "für terroristische Zwecke".
Im Übrigen drängt sich eine gezielte Ausweitung von Art. 260quinquies StGB (Terrorismusfinanzierung) auf: Gemäss der langjährigen Praxis des Bundesgerichtes stellt diese Norm die Finanzierung von terroristischen Einzeltätern und (wenig strukturierten) terroristischen Kleingruppen unter Strafe (die Finanzierung von terroristischen Organisationen im engeren Sinne fällt unter Art. 260ter StGB). – Es ist schlechterdings nicht einzusehen, weshalb die bewusste und massive logistische Unterstützung von hochkriminellen Einzelterroristen (wie Breivik usw.) oder terroristischen Kleingruppen (z.B. NSU) ausschliesslich in der Form der finanziellen Unterstützung strafbar sein sollte.
6. Januar 2020 / © Prof. Dr. Marc Forster
Mo
02
Sep
2019
Sogenannte soziale Netzwerke (von Anbietern wie Facebook, Google, Instagram, Snapchat usw.), grosse Online-Handelsplattformen (z.B. Alibaba, Ebay, Amazon usw.), abgeleitete Internettelefonie (z.B. über Whatsapp), Mailing- (z.B. Gmail von Google oder Outlook von Microsoft), Chat-/Messaging-, (Peer-to-Peer-)Videokommunikations- (z.B. über Skype oder Whatsapp) oder Cloud-Dienste werden zunehmend auch von Kriminellen genutzt. Leider gehören dazu regelmässig auch hochgefährliche Terroristen, mafiöse Organisationen und andere international tätige und gut vernetzte Verbrecher.
Zwei neue Forschungsarbeiten der Universität St. Gallen zeigen die gesetzlichen Lücken auf bei der strafprozessualen Überwachbarkeit wichtiger moderner Kommunikationskanäle (vgl. Laura Dusanek, Probleme der strafprozessualen Überwachung abgeleiteter Internetdienste wie Facebook, Skype oder Whatsapp – Lösungen im neuen BÜPF? MA SG 2019; Katja Allenspach, Revision des Überwachungsrechts: Eine Übersicht der bedeutendsten Änderungen, MA SG 2019). Bisher fehlt es dem Bundesrat bedauerlicherweise am politischen Mut zur dringend gebotenen Regulierung von Schweizer Tochter- und Vertriebsgesellschaften der grossen ausländischen IT-Konzerne:
Die Antwort auf die Frage, welche Internetdienste strafprozessual überwacht werden können (z.B. Telefonabhörung, Internet-Teilnehmerüberwachung usw.), ist komplex und ständigem technischem Wandel unterworfen. Sie hängt insbesondere vom verwendeten Dienst, von der Art der Verschlüsselung und vom verwendeten Kommunikationsgerät bzw. Internetzugang ab. Selbst die grossen ausländischen Internetdienste und Social Media (soweit sie überhaupt eine gesetzliche Mitwirkungspflicht bei schweizerischen Überwachungen nach dem BÜPF haben) sind teilweise technisch gar nicht in der Lage, auf "End-to-End"-verschlüsselte Kommunikationsinhalte (Gesprächsverkehr) ihres Dienstes zuzugreifen bzw. unverschlüsselte Daten zu liefern. Die gesetzlich stark regulierten Schweizer Internet-Zugangsprovider (wie Swisscom, Sunrise, Salt usw.) haben nur Zugriff auf die Registrierungs- und Identifikationsdaten bereits bekannter Anschlüsse sowie auf die "IP-Histories" (IP-Adressverläufe) von bestimmten Internetaktivitäten. Auch die Beschlagnahme unverschlüsselter (bereits "abgerufener") Kommunikationsinhalte auf Empfangsgeräten (Smartphones usw.) ist nur möglich, falls die Strafbehörden direkten Zugriff auf ein solche Geräte haben. Der höchstens subsidiär in Frage kommende Einsatz von GovWare (behördliche Software zur heimlichen Kommunikationsüberwachung) bildet ebenfalls kein Allheilmittel: Diese seit 1. März 2018 im Gesetz vorgesehene Überwachungsart ist sehr aufwändig und teuer; ausserdem setzt sie günstige Zugriffskonstellationen voraus (physischer Zugriff auf das Zielgerät oder heimliches Aufladen der GovWare per Internet, z.B. mittels präparierter E-Mail oder WLAN).
– Können Schwerkriminelle also in der Schweiz ungestört und ohne Überwachung über Internet kommunizieren und Verbrechen planen? Die beunruhigende Antwort lautet: in weiten Bereichen leider ja.
Die Problematik ist eine doppelte: Nicht nur fehlt es an einer klaren gesetzlichen Grundlage zum Durchgriff auf ausländische Datenverwalter grosser IT-Konzerne, Social Media und Online-Handelsplattformen, etwa über deren schweizerische Vertriebs- und Marketingfilialen. Hinzu kommt noch die technische Schwierigkeit, dass es bei verschlüsselten mobilen Internetdiensten (und damit im zentralen Bereich) weder für die schweizerische Strafbehörde, noch den technischen Dienst ÜPF, noch für den Schweizer Internet-Zugangsprovider ohne weiteres möglich ist, ohne Zutun des ausländischen Internetdienstes (oder aufwändige technische Zusatzvorkehren) auf die notwendigen verschlüsselten Kommunikationsdaten zu greifen.
Die Internet-Zugangsprovider sind zwar verpflichtet, die "IP-Histories" ihrer Kunden herauszugeben und entsprechende Auskünfte zur Identifizierung ihrer registrierten Internetkunden zu geben (Art. 22 BÜPF, Art. 14 aBÜPF). Auf verschlüsselte Chatverläufe und registrierte Benutzerdaten von Internetdiensten wie Facebook, Whatsapp, Google, Instagram, Snapchat, Skype usw. haben sie jedoch regelmässig keinen direkten Zugriff. Das neue BÜPF sieht daher eine Duldung möglicher Überwachungen durch alle – in der Schweiz ansässigen – "abgeleiteten Internetdienste" vor sowie eine Herausgabepflicht betreffend bei ihnen vorhandene Rand- und Identifikationsdaten (Art. 27 Abs. 1 und Art. 22 Abs. 1 und 3 BÜPF). Bei Schweizer Internetkommunikations-Anbietern, die Dienstleistungen von grosser wirtschaftlicher Bedeutung oder für eine grosse Benutzerschaft anbieten, bestimmt das Gesetz sogar noch, dass der Bundesrat inhaltliche Überwachungen (mit Verpflichtung zur Aufhebung eigener Verschlüsselungen der abgeleiteten Dienste) und Daten-Aufbewahrungspflichten vorsehen könne (Art. 27 Abs. 3 i.V.m. Art. 26 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 lit. c sowie Art. 22 Abs. 4 i.V.m. Abs. 2 BÜPF).
Der Bundesrat hat allerdings auf griffige gesetzliche Massnahmen, um die wichtigsten Provider mit Sitz bzw. Datenverwaltung im Ausland nach dem sogenannten Zugriffsprinzip zur Mitwirkung zu verpflichten, bisher bewusst verzichtet. Insbesondere will er keine Bestimmung einführen, wonach solche Dienstanbieter, die in der Schweiz regelmässig mit eigenen Niederlassungen Marketing betreiben, hier auch die Rand- und Identifikationsdaten der Schweizer Kunden verwalten (oder zumindest faktischen Zugriff auf die Daten haben) müssten. Nicht einmal Töchter von ausländischen IT-Giganten, welche bereits in der Schweiz ansässig sind und hier fleissig Schweizer Kundinnen und Kunden anwerben bzw. Marketing betreiben, möchte der Bundesrat in die Pflicht nehmen. Diese sind bisher nicht gesetzlich verpflichtet, sich über ihre Konzernmutter die Zugangsberechtigung für die Daten ihrer Schweizer Kundschaft zu beschaffen.
Nach bisheriger Ansicht des Bundesrates bestehe "kein Anlass dazu, dass Anbieterinnen, bloss weil sie abgeleitete Dienste bereitstellen, den gleichen Anforderungen wie die klassischen Fernmeldedienstanbieterinnen unterliegen" sollten. Anderslautende Schweizer Regelungen könnten "mangels Zuständigkeit gar nicht durchgesetzt werden". − Diese Argumentation überzeugt nicht. Geradezu verniedlichend und naiv wirkt die Ansicht des Bundesrates, marktbeherrschende Gosskonzerne wie Facebook oder Google würden "bloss" abgeleitete Dienste bereitstellen. Wenn ein ständig zunehmender Grossteil der Kommunikation über Produkte und Dienstleistungen dieser Konzerne läuft (z.B. Whatsapp, FB- und Instagram-Messenger, Google-Mails und -Chats oder Internettelefonie), darunter leider auch sehr viel anonyme Kommunikation mit kriminellem Hintergrund, dann drängt es sich im Gegenteil geradezu auf, diese Dienstleistungen einzubeziehen und wenigstens jene Daten (insbes. Daten, welche eine Identifizierung der Nutzer ermöglichen) zu beanspruchen, welche die Provider selber sammeln und verwalten. Der Schweizer Gesetzgeber ist auch durchaus dafür "zuständig", die Regeln zu bestimmen, nach denen Filialen von ausländischen Grossanbietern in der Schweiz Geschäfte betreiben und bewerben. In neueren Stellungnahmen des Bundesrates wird denn auch immerhin eingeräumt, dass grosse IT-Konzerne wirtschaftlich und technisch betrachtet die Funktion eigentlicher Fernmeldedienstleister innehaben. Eine förmliche Einstufung von grossen ausländischen Internetdiensten als "Fernmeldedienste" (im Sinne des BÜPF) durch den Dienst ÜPF (per "Merkblatt") löst den Konflikt mit dem völkerrechtlichen Territorialitätsprinzip aber in der Praxis nicht und ist auch rechtsstaatlich fragwürdig.
Nach den Ergebnissen der beiden (unabhängig voneinander erstellten) St.Galler Forschungsarbeiten hat die Revision des BÜPF an der bisherigen Rechtslage für grosse IT-Konzerne mit Datenspeicherung im Ausland grundsätzlich nichts geändert: Zwar ergibt sich eine gesetzliche Mitwirkungspflicht, wenn der Konzern "Dienste für sich in der Schweiz befindliche Personen" erbringt oder "sich gezielt an Personen in der Schweiz adressiert". Mitwirkungspflichtig sind jedoch nur jene Internetdienste, die einen Sitz oder eine Niederlassung in der Schweiz haben, welche die faktische oder rechtliche Kontrolle über die Daten ausüben. Faktische und rechtliche Kontrolle haben die jeweiligen Datenverwalter (z.B. FB Irland) bzw. die Konzernzentrale (z.B. FB USA). Für andere Tochterfirmen ausländischer IT-Giganten, also insbesondere reine Marketing- und Vertriebsfilialen in der Schweiz, gilt weiterhin die folgende Rechtslage:
Die Internationale Konvention zur Bekämpfung der Cyber-Kriminalität (CCC) orientiert sich noch stark am Territorialitätsprinzip. Dieses ist verhaftet im Nationalstaatendenken des 19. und 20. Jahrhunderts, welches noch von kontrollierbaren Staatsgrenzen mit bunt gestrichtenen "Schlagbäumen" und davor anhaltenden Postkutschen ausgeht. Eine solche internationalstrafrechtliche Sicht ist spätestens in Zeiten der grenzübergreifenden IT-Kriminalität schon fast rührend und hoffnunglos veraltet. Aufgrund des Territorialitätsprinzipes dürfen selbst die CCC-Signatarstaaten (z.B. die Schweiz) in den jeweiligen Partnerstaaten (z.B. den USA) keine direkten Datenerhebungen (auf nicht öffentlich zugänglichen Datenbanken) vornehmen. Einzelne regulatorische "Paradiese" für IT-Grosskonzerne wie Irland haben nicht einmal die (eher zahnlose) CCC ratifiziert. Wenn die Schweizer Strafbehörden ein Verbrechen aufdecken wollen, z.B. Terrorismus, Mord oder Kinderpornographie, welches mithilfe des Internets begangen oder vorbereitet wurde, müssen sie (gestützt auf die CCC) zunächst versuchen, die Schweizer Kundinnen und Kunden des betroffenen Internetdienstes (die allenfalls in den Kreis von Verdächtigen fallen könnten) um Zustimmung zur Datenerhebung (nach Art. 32 lit. b CCC) zu bewegen. Falls die Zustimmung (aus welchen Motiven auch immer) nicht erfolgt, kann noch versucht werden, die ausländische Datenverwaltung um Zustimmung zu bitten. Aus "Geheimnisschutz"- bzw. nahe liegenden Marketinggründen sind diese an einer freiwilligen Zusammenarbeit aber (verständlicherweise) meistens wenig interessiert.
Zwar wäre eine vom betroffenen Staat bewilligte grenzüberschreitende Datenerhebung mit dem Völkerrecht ("Territorialitätsprinzip") bzw. dem internationalen Strafrecht vereinbar. Eine solche Lösung setzt aber selbst nach der CCC auch noch eine Zustimmung der direkt betroffenen Kunden oder der ausländischen Datenverwaltung des betroffenen IT-Konzerns voraus. Falls eine solche freiwillige Datenherausgabe verweigert wird, bleibt der Strafbehörde nur noch der sehr langwierige und komplizierte Rechtshilfeweg.
Auch hier ergeben sich regelmässig Probleme. Selbst wenn Rechtshilfe geleistet wird, kommt sie oft zu spät, zumal die Daten-Aufbewahrungsvorschriften im Ausland oft lasch sind und die Verfahren oft viele Monate bzw. Jahre dauern. Bei Delikten wie z.B. Rassismus kommt noch dazu, dass ausländische Gerichte (insbesondere US-amerikanische oder irische Gerichte) die internationale Zusammenarbeit leider sogar in beunruhigendem Ausmass verweigern. Das kontinentaleuropäische Rechtsdenken bemüht sich um einen Ausgleich zwischen dem hochwertigen Grundrecht der Meinungsäusserungsfreiheit einerseits und dem notwendigen Schutz der betroffenen Menschen vor rassistischer und ehrverletzender Hetze und Verleumdung. Aus dieser Sicht trägt eine Verabsolutierung des "Freedom of (Hate) Speech" im angloamerikanischen und teilweise auch im skandinavischen Rechtskreis (Schweden hat die CCC ebenfalls noch nicht ratifiziert) Züge eines befremdlichen Grundrechtsfetischismus.
Einerseits darf ein Staat nicht einfach Zwangsmassnahmen auf ausländischem Hoheitsgebiet ergreifen. Anderseits muss er auf seinem Territorium sein Strafrecht durchsetzen können, auch gegenüber Personen und Gesellschaften, die im Inland wirtschaftlich tätig sind. Eine moderne Interpretation des Territorialitätsprinzips im Zeitalter des Cyberspace sollte daher an der faktischen wirtschaftlichen Betätigung ausländischer IT-Konzerne anknüpfen und damit einen gesetzlichen Zugriff auf dessen inländische Marketing- und Vertriebsfilialen zulassen.
Wie in den beiden St.Galler Forschungsarbeiten aufgezeigt wird, neigt auch die Praxis des Bundesgerichtes einem entsprechenden internationalstrafrechtlichen Zugriffsprinzip zu. Dem schweizerischen Gesetzgeber kann es nicht verwehrt sein, in der Schweiz domizilierte Vertriebs- und Marketingfilialen von ausländischen Diensten anzuweisen, sich die für eine ausreichende Mitwirkung (namentlich Nutzer-Identifizierung) benötigten Daten von ihrer Konzernzentrale oder von den ausländischen Datenverwaltern zu beschaffen. Dies müsste im BÜPF allerdings klar so geregelt werden. Dass ein angemessenes regulatorisches Vorgehen im Interesse der Rechtsstaatlichkeit und Verbrechensaufklärung durchaus möglich ist (solange die CCC noch keine Lösungen bringt), hat zum Beispiel Belgien bewiesen.
– Was müsste der schweizerische Gesetzgeber also tun, damit die Verfolgung von schweren Verbrechen wie Terrorismus, Drogenhandel oder Kinderpornographie nicht an der "Zustimmung" von Internet-Usern und ausländischen IT-Konzernen scheitert? Etwas mehr politischer Mut wäre gefragt. Die Vertriebs- und Marketinggesellschaften von ausländischen IT-Konzernen mit Sitz in der Schweiz müssten gesetzlich verpflichtet werden, sich den Datenzugang für ihre Schweizer Kunden (und die Berechtigung dazu) bei ihren ausländischen Muttergesellschaften zu beschaffen. – Sollte das bereits zu viel verlangt sein? Wird die internationalstrafrechtliche "Postkutsche" noch lange am Schlagbaum des veralteten Nationalstaatsdenkens angehalten?
2. September 2019 / © Prof. Dr. Marc Forster
Do
08
Nov
2018
Eine kürzlich an der Universität St. Gallen (Law School) erschienene Forschungsarbeit analysiert die Implikation von Schweizer Banken und Finanzintermediären, darunter Anwälten, in die Off-Shore-Aktivitäten der panamesischen Anwaltskanzlei Mossack Fonseca (Mossfon) im Lichte der sogenannten "Panama Papers". Konkret ging es insbesondere um die Gründung von zahlreichen "Briefkastenfirmen" bzw. nicht operativen Sitzfirmen sowie um treuhänderisch (bzw. über "Strohmänner") eröffnete und verwaltete Konten, Stiftungen und Gesellschaften ohne Deklaration der jeweils wirtschaftlich Berechtigten. Für die Vermittlung von (wirtschaftlich berechtigten) verdeckten Endkunden arbeitete Mossfon mit mehr als 14'000 "Intermediären" zusammen, darunter vielen Anwälten und Vermögensverwaltern, die zum grössten Teil aus Hongkong, Grossbritannien, der Schweiz und den USA stammten (vgl. Zoran Culjak, "Panama Papers" - Strafrechtliche und strafprozessuale Fragen mit besonderem Augenmerk auf die Grenzen des schweizerischen Anwaltsgeheimnisses, Masterarbeit Universität St.Gallen 2018, S. 4-11, zit. Untersuchung Panama Papers).
Die St. Galler Untersuchung erhellt Mossfons Verwicklungen in zahlreiche internationale Finanzskandale mit diversen "Politically Exposed Persons" (PEP), etwa beim dubiosen Firmennetzwerk von Cristina und Nestor Kirchner (Argentinien/USA-Nevada), bei den verdächtigen Eisenerz-Deals von Beny Steinmetz mit dem guineischen Diktator Lansana Conté (Guinea/Brasilien/Israel), bei der Beteiligung des zurückgetretenen isländischen Premierministers Sigmundur Gunnlaugsson an einer Gesellschaft auf den British Virgin Islands, bei den Korruptionsskandalen betreffend Petrobras und weitere beteiligte Firmen und Politiker (Brasilien), beim Korruptionsskandal um den ehemaligen pakistanischen Premierminister Nawaz Sharif (dubiose Immobiliengeschäfte in Grossbritannien), oder bei den Beteiligungen eines engen Freundes des russischen Präsidenten Vladimir Putin (nämlich des Musikers Sergej Roldugin) an Offshore-Gesellschaften, über die (gemäss den "Panama Papers" und darauf gestützen Medienberichten) hunderte Mio. USD aus Russland weggeschafft worden seien. Weitere Endkunden von Mossfon waren z.B. in Schmiergeldskandale verwickelte ehemalige Siemens-Manager, der ehemalige deutsche Geheimagent Werner Mauss, Angehörige des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, Angehörige von hohen Funktionären der chinesischen KP oder der ehemalige britische Ministerpräsident David Cameron (vgl. Untersuchung Panama Papers, S. 15).
Zu den Banken, die besonders intensiv mit Mossfon kooperierten, gehörten namentlich eine luxemburgische, zwei Schweizer Privatbanken, zwei Schweizer Grossbanken, zwei britische Finanzinstitute sowie eine französische und eine isländische Bank. Auffällig häufig betroffen waren Zweigniederlassungen diverser Banken in Luxemburg und auf den British Channel Islands. Sehr intensive und qualifizierte Kontakte zu Mossfon unterhielt namentlich auch die Deutsche Bank (vgl. S. 11 f.).
Laut Untersuchung war ein Schweizer Bürger als umtriebiger Juniorpartner bei Mossfon tätig. Nach Angaben der Eidgenössischen Steuerverwaltung können sodann rund 450 Endkunden (Personen und Gesellschaften) mit Sitz in der Schweiz mit den "Panama Papers" in Verbindung gebracht werden. Darunter finden sich mehrere hohe Funktionäre der FIFA (privatrechtlicher Verein mit Sitz in Zürich), etwa der aktuelle FIFA-Präsident Gianni Infantino (vgl. Untersuchung Panama Papers, S. 15 f.). Diverse Schweizer Finanzinstitute waren nicht nur in grossem Stil als Vermittler tätig, sondern führten teilweise auch direkt Bankkonten für verdeckte Mossfon-Endkunden (vgl. S. 15-18). Auch einige Schweizer Anwälte (insbesondere aus Genf und Zürich) tauchen in den "Panama Papers" als Vermittler und Verwalter von Offshore-Vehikeln auf oder als einschlägige Berater und Rechtsgeschäftsplaner (etwa bei Gründungen von Sitzgesellschaften).
Gemäss einer Stellungnahme der Meldestelle des Bundes für Geldwäschereiverdachtsfälle (MROS) haben seit den Medienberichten über die "Panama Papers" die Geldwäscherei-Verdachtsmeldungen stark zugenommen. Die Eidgenössische Finanzmarktausicht (FINMA) hat sodann bankenrechtliche Aufsichtsmassnahmen getroffen, indem sie bei ca. 20 Schweizer Banken vertiefte Abklärungen anordnete. Gegen die Gazprombank (Schweiz) hat sie wegen schweren Verstössen gegen das GwG (besonders im PEP-Fall Roldugin) sogar aufsichtsrechtliche Zwangsmassnahmen ergriffen (vgl. Untersuchung Panama Papers, S. 16-18).
Im Bereich der Vermittlung und besonders der Verwaltung von Offshore-Konstrukten deutet sich gemäss der St. Galler Untersuchung (gestützt auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtes und die neuere Literatur) eine deutliche Tendenz ab, den Schutz des Anwaltsgeheimnisses zu verneinen (besonders bei reinen "Briefkastenfirmen" und treuhänderischer Organtätigkeit) oder zumindest deutlich zu begrenzen. Die Rechtslage muss hier allerdings ‒ mangels klarer gesetzlicher Regelungen ‒ als vage und unübersichtlich bezeichnet werden, weshalb sich eine anwaltliche Tätigkeit mit Geheimnisprivileganspruch in diesen Bereichen zunehmend als heikle Gratwanderung erweist:
Gesellschaftsgründungen und andere Dienstleistungen, die sich auf die blosse standardisierte Erledigung von Formalitäten für "Briefkastenfirmen" und Scheinverwaltungen beschränken, fallen nicht unter den Schutz des Anwaltsgeheimnisses (vgl. Untersuchung Panama Papers, S. 38 f.). Auch bei Global- und Mischmandaten mit gewissen rechtsberatenden oder rechtsgeschäftlichen Elementen (z.B. Gesellschaftsgründung) einerseits und deutlichen Elementen der Vermögensverwaltung, Gesellschafts-Organtätigkeit, Vermögens- und Steuerberatung, Finanzproduktvermittlung oder Banken-Compliance anderseits, besteht eine hochproblematische Rechtsunsicherheit, die nach gesetzgeberischen Klärungen ruft (vgl. S. 47).
Bei der besonders folgenschweren Frage, welche anwaltlichen Tätigkeiten dem Geldwäschereigesetz (GwG) unterstehen und zu entsprechenden strafbewehrten Sorgfalts- und Meldepflichten führen, erweist sich die Rechtslage als nicht viel klarer: De lege lata gelten die anwaltliche Vermittlung, Gründung und Verwaltung von Offshore-Konstrukten zwar (per se) noch nicht als finanzintermediäre Tätigkeiten. Grosse Vorsicht ist jedoch geboten, wenn das "Startkapital" für die Gründung einer entsprechenden Sitzgesellschaft oder Stiftung über ein Konto des beteiligten Anwalts transferiert wird oder wenn dieser (nach dem Gründungsakt) die Gesellschaftsanteile in Form von Effekten (z.B. Aktien) über längere Zeit selber aufbewahrt. Als Finanzintermediäre gelten grundsätzlich auch Anwälte, die als Organe einer Offshore-Sitzgesellschaft bzw. eines Trusts (ohne eigentliche "kaufmännische" operative Wirtschaftstätigkeit) deren Vermögen bloss treuhänderisch (d.h. nach den Anweisungen des wirtschaftlich Berechtigten) verwalten bzw. ihren Zahlungsverkehr treuhänderisch organisieren. Dies kann im Einzelfall auch auf Immobiliengesellschaften zutreffen (vgl. Untersuchung Panama Papers, S. 42-45).
De lege ferenda dürfte (nicht zuletzt aufgrund der GAFI-Empfehlungen im die Schweiz betreffenden vierten Länderbericht von 2016) mittelfristig jede Mitwirkung von Anwälten bei der Errichtung oder Verwaltung von Offshore-Vehikeln als GwG-relevant eingestuft werden, insbesondere auch die ("rechtsgeschäftliche" und "rechtsberatende") Gründung von Offshore-Sitzgesellschaften.
Auch hier drängen sich gesetzgeberische Klärungen auf, zumal sich alle Anwälte, die in der finanzintermediären "Grauzone" tätig sind, einem schweren Dilemma von beruflichen Rechtspflichten aussetzen: Wenn sie Verdachtsgründe für Geldwäscherei nicht an die MROS melden, droht ihnen eine Strafverfolgung nach Art. 37 i.V.m. Art. 9 GwG (oder gar wegen Beihilfe zur Geldwäscherei). Wenn sie hingegen den Verdacht melden, droht ihnen Strafe wegen einer möglichen Verletzung ihres Berufsgeheimnisses (Art. 321 StGB) (vgl. Untersuchung Panama Papers, S. 45-47).
Umso mehr erstaunt es, dass einzelne Schweizer Anwälte offenbar weiterhin in der genannten "Grauzone" der Legalität als Offshore-"Intermediäre" tätig sind: Ende Juni 2018 (nach Abschluss der St. Galler Untersuchung und mehr als zwei Jahre nach Publikation der Panama Papers) sind weitere 1,2 Millionen E-Mails, Verträge und Firmendokumente von Mossfon aufgetaucht (sog. "Panama Papers 2"). Gemäss den dokumentierten Berichten eines international vernetzten Kollektivs investigativer Journalisten (ICIJ) ergebe sich daraus, dass einige Schweizer Anwälte, Vermögensverwalter und Treuhänder (insbesondere aus dem Kanton Genf), die schon über Mossfon zahlreiche Offshore-Vehikel betreuten, unterdessen mit einer anderen "einschlägigen" panamesischen Kanzlei im bisherigen Stil weiter ihre Geschäfte tätigen. Man darf darauf gespannt sein, ob und wie Politik, Strafbehörden und Berufsverbände auf entsprechende Informationen reagieren werden.
8. November 2018 / © Prof. Dr. Marc Forster
2. Nachtrag vom 10. September 2020:
Die Politik ist unterdessen wieder eingeknickt: Zwei im Parlament vertretenen Genfer Anwälten ist es (Anfang September 2020) gelungen, den Nationalrat zum Nichteintreten auf die "Lex Panama" zu bewegen (mit 107:89 Stimmen). Damit drohen dem Schweizer Dienstleistungs- und Finanzplatz und der überwältigenden Mehrheit der seriös arbeitenden Anwältinnen und Anwälte erhebliche Reputationsschäden, bloss weil ein paar "schwarze Schafe" unter ihnen weiter ungestört hochdubiose Offshore-Vehikel betreiben möchten. Die Schweizer Politik erweist sich als vergesslich und wenig lernfähig: Sie verhält sich wie vor 15 Jahren nach Ausbruch des Fiskalstreites USA-Schweiz, der bekanntlich zur Abschaffung des Bankgeheimnisses (im Fiskalverkehr mit dem Ausland) geführt hat. Politische und wirtschaftliche Selbstdemontage auf Druck von Partikulärinteressen (mit aggressiver Lobby) scheint eine typisch schweizerische Spezialität zu sein. Anders gesagt: Bei uns bestimmen die Böcke über die Gartenpflege.
1. Nachtrag vom 1. November 2019:
Die Politik hatte zunächst reagiert: Am 26. Juni 2019 verabschiedete der Bundesrat eine Botschaft (samt Entwurf) zur Änderung des GwG (BBl 2019 5451, sog. "Lex Panama"). Danach würden künftig auch für Anwälte gesetzliche Sorgfaltspflichten gelten, wenn sie als sogenannte "Beraterinnen" und "Berater" Dienstleistungen erbringen im Zusammenhang mit der Gründung, Führung oder Verwaltung von Sitzgesellschaften und Trusts. Sie wären sogar (neu) unter die geldwäschereigesetzliche Meldepflicht gefallen, wenn sie in einer (nicht berufstypischen) Geschäftstätigkeit als "Berater" Finanztransaktionen ausführen (vgl. Art. 2 Abs. 1 lit. c, Art. 8b und 8c, Art. 9 Abs. 1ter, 1quater und Abs. 2, Art. 9b Abs. 3, Art. 10a Abs. 5, Art. 11a Abs. 1-3, Art. 15, Art. 23 Abs. 5, Art. 30 Abs. 2 lit. a, Art. 32 Abs. 3, Art. 34 Abs. 1-2 und Art. 38 E-GwG; BBl 2019 5555-5565).
Fr
16
Mär
2018
Seit einigen Wochen berichten die Medien intensiv über das Mehrfach-Tötungsdelikt in Rupperswil, dem am 21. Dezember 2015 eine
Mutter, ihre beiden (13 bzw. 19 Jahre alten) Söhne und eine (21-jährige) junge Frau (Freundin des 19-Jährigen) zum Opfer fielen. Heute hat das Bezirksgericht Lenzburg das erstinstanzliche
Strafurteil gefällt: Es sprach den Beschuldigten Thomas N. schuldig des mehrfachen Mordes, der räuberischen Erpressung, der Geiselnahme, sexueller Handlungen mit
Kindern, der sexuellen Nötigung, strafbarer Vorbereitungshandlungen zu weiteren Morden sowie weiterer Delikte. Das Bezirksgericht verurteilte ihn zu einer
lebenslänglichen Freiheitsstrafe. Zudem erhält er eine ambulante Psychotherapie und wird er ordentlich verwahrt.
Angesichts der laut Bezirksgericht und Anklageschrift erdrückenden Beweislage gegen den beschuldigten Thomas N. (DNA-Spuren, Fingerabdrücke,
Geständnis usw.) geht allzu leicht vergessen, dass Polizei und Staatsanwaltschaft in den ersten Monaten nach der Bluttat noch völlig im
Dunkeln tappten und die Überführung mittels DNA-Spurenabgleich erst möglich wurde, nachdem die Ermittler Thomas N. als Verdächtigen hatten
identifizieren können. Die erfolgreiche Identifizierung des Beschuldigten (und damit das gesamte nachfolgende Beweisfundament) war aber wiederum erst aufgrund
einer digitalen "Rasterfahndung" mittels sogenannten "Antennensuchlaufs" zustande gekommen:
Bei der Rasterfahndung per Antennensuchlauf werden Verbindungs-Randdaten des mobilen Fernmeldeverkehrs von zunächst unbestimmt vielen (möglicherweise sehr vielen) Teilnehmern erfasst und (vorerst anonymisiert) abgeglichen, um aus den Randdaten der Mobilfunkantennen an den jeweiligen Tatorten und weiteren Ermittlungsergebnissen möglichst eine Schnittmenge von konkret verdächtigen Gerätebenutzern zu ermitteln (vgl. dazu Marc Forster, Antennensuchlauf und rückwirkende Randdatenerhebung bei Dritten, Bundesgerichtspraxis und gesetzliche Lücken betreffend Art. 273 und Art. 270 lit. b StPO, in: Jositsch/Schwarzenegger/Wohlers, Festschrift für Andreas Donatsch, Zürich 2017, S. 357 ff., 359 f.).
Im Fall Rupperswil war zunächst ermittelt worden, welche mobilen Fernmeldeanschlüsse in der Nähe des Tatortes im Tatzeitraum aktiv waren. Im Januar 2016 erhielt die Aargauer Kriminalpolizei die anonymisierten digitalen Rohdaten dieses Antennensuchlaufs. Es handelte sich zunächst um Zehntausende von Verbindungs-Randdaten bzw. registrierten Fernmelde-Aktivitäten sehr vieler mobiler Geräte. Aufgrund der Fachmeinung eines "Profilers" und weiteren Indizien ging die Polizei davon aus, dass die Täterschaft vermutlich selber in Rupperswil (oder naher Umgebung) wohnte. Um einen "Schnittmengen-Raster" herauszufiltern, wurde mit grossem Aufwand abgeklärt, welche der zahlreichen mobilen Geräte, die am Tatort und im Tatzeitraum aktiv waren, auch noch an anderen Antennenstandorten in Rupperswil regelmässig, d.h. über Monate hinweg, in Betrieb waren. Das waren dann nur noch wenige Geräte. In der Tat wohnte Thomas N. nur ca. 500 Meter vom Tatort entfernt. Und glücklicherweise war die Antennendichte in Rupperswil relativ hoch, so dass über die Antennen am Tatort und am Wohnort von Thomas N. eine Schnittmenge gebildet werden konnte (vgl. Forster, Antennensuchlauf, S. 358 f.).
Es besteht Grund zur Annahme, dass dieser Antennensuchlauf im Fall von Thomas N. weitere Opfer verhindert und einige Menschenleben gerettet hat:
Gemäss der 28 Seiten umfassenden Anklageschrift der Aargauer Staatsanwaltschaft habe der Beschuldigte sich schon bei der Bluttat vom 21. Dezember 2015 Zutritt zur Wohnung der Opfer verschafft, indem er sich mit einer gefälschten Visitenkarte als "Schulpsychologe Dr. Sebastian Meier" ausgegeben und ein weiteres gefälschtes Dokument (von ihm selbst verfasster vorgeblicher Brief einer Schulbehörde aus dem Kanton Aargau) vorgelegt habe. Bereits unmittelbar nach dem schweren sexuellen Missbrauch an einem der gefesselten Opfer, dem 13-jährigen Knaben, und nach der Tötung aller vier Opfer (per Kehlschnitt mit einem Messer) habe der pädosexuell veranlagte Thomas N. analoge Verbrechen an mindestens zwei weiteren Familien geplant und akribisch vorbereitet:
So habe der Beschuldigte nach dem gleichen Muster neue Briefe angefertigt, die vorgeblich von einer Schulbehörde
aus dem Kanton Solothurn bzw. einer Schulleiterin stammten. Am 27. Dezember 2015, sechs Tage nach der Bluttat, habe er im Internet nach einer Familie im Kanton Bern
recherchiert. In einem speziell angelegten Notizbuch habe er eigentliche "Fichen" angelegt über insgesamt
elf weitere Knaben, alle im Alter von ca. 11-14 Jahren. Darin habe er Photos der Knaben gesammelt und minutiös mit weiteren Informationen wie
Namen und Wohnorte ergänzt. Am 12. und 14. Januar 2016 habe er die von ihm ausspionierte Berner Familie auf deren
Festnetz-Telefonanschluss angerufen. Gemäss Anklage habe Thomas N. geplant, an dieser Familie (nach dem Muster von "Rupperswil") analoge Verbrechen zu begehen.
Damals tappte die Polizei hinsichtlich der Täterschaft noch vollständig im Dunkeln.
Ebenfalls Verbrechen nach dem gleichen Muster habe der Beschuldigte an einer weiteren Familie aus dem Kanton
Solothurn geplant und vorbereitet. Auch diese Familie habe er im Januar 2016 telefonisch angerufen (sich dabei aber am Apparat nicht gemeldet). Am 26. Januar 2016 habe er sich in das Wohnquartier der Familie begeben,
um deren Tagesablauf auszuspionieren. Damals befand sich die Polizei (gemäss ihren eigenen Medienmitteilungen) erst im Besitz von zehntausenden digitalen Rohdaten des Antennensuchlaufs. Die Identifikation eines Verdächtigen mittels der
technisch sehr aufwändigen hängigen Rasterauswertung war noch nicht erfolgt.
Am 11. Mai 2016 (unterdessen war er als Verdächtiger identifiziert) sei der Beschuldigte erneut in das Wohnquartier der Solothurner Familie gefahren. Wie bei der Bluttat von Rupperswil habe er im selben schwarzen Rucksack, den er schon damals verwendet habe, erneut die gefälschte Visitenkarte als "Schulpsychologe" bei sich getragen sowie ein gefälschtes Schreiben der Solothurner Schulbehörden. Ebenso habe er weitere Verbrechenswerkzeuge (vorbereitete Fesseln usw.) mitgeführt. Die Blutspuren seiner Opfer von Rupperswil am Rucksack habe er mit einem schwarzen Stift übermalt. Laut Anklageschrift habe er am 11. Mai 2016 von der Ausführung der geplanten und vorbereiteten neuen Verbrechen abgesehen. Am 12. Mai 2016 sei er verhaftet worden. Zu diesem Zeitpunkt habe sein Notizbuch die Namen von elf Knaben im Alter von 11-14 Jahren enthalten (vgl. dazu, mit Hinweisen auf die Anklageschrift, auch Neue Zürcher Zeitung vom 13. März 2018 S. 13; NZZ online vom 12. März 2018: "Ein zweites 'Rupperswil' konnte nur knapp verhindert werden").
Ohne Antennensuchlauf wäre Thomas N. vielleicht bis heute nicht identifiziert und gefasst worden.
Mit erheblicher Wahrscheinlichkeit wären aber -- zumindest laut Anklageschrift und erstinstanzlichem Strafurteil -- weitere Schwerverbrechen erfolgt, die Thomas
N. bereits akribisch vorbereitet habe: Am Tag vor seiner Verhaftung sei der Beschuldigte
bereits -- im wahrsten Sinne des Wortes -- vor der Tür weiterer anvisierter Opfer gestanden. Das Bezirksgericht hat den Beschuldigten daher auch wegen
strafbaren Vorbereitungshandlungen zu weiteren Morden und anderen Verbrechen verurteilt.
Das Bundesgericht hatte am 3. November 2011 in seinem Leitentscheid BGE 137 IV 340 die Rasterfahndung per Antennensuchlauf als grundsätzlich rechtmässige Untersuchungsmethode anerkannt (zu den Kriterien der Zulässigkeit dieser qualifizierten Randdatenerhebung des digitalen Fernmeldeverkehrs vgl. Forster, Antennensuchlauf, S. 359 f.). Da der Antennensuchlauf als Untersuchungsmassnahme nicht spezifisch und ausführlich im Gesetz geregelt ist, wurde das Bundesgericht für diesen Leitentscheid (in der juristischen Lehre) teilweise scharf kritisiert.
Leider hat es der Gesetzgeber auch in der am 1. März 2018 in Kraft getretenen letzten Revision des BÜPF und der StPO versäumt, eine klare gesetzliche Grundlage für den Antennensuchlauf (als qualifizierte Randdatenerhebung des digitalen Fernmeldeverkehrs) zu schaffen. Darauf ist in der Fachliteratur bereits ausdrücklich hingewiesen worden (vgl. Forster, Antennensuchlauf, S. 360).
Auch der Vorentwurf des
Bundesrates zur hängigen Teilrevision der StPO sieht keine Regelung des Antennensuchlaufs vor. Wenigstens soll die einfache Standort- und
Verkehrsranddatenerhebung bei Dritten (insbesondere Opfern von Delikten) spezifisch geregelt werden (vgl. Erläuternder Bericht EJPD zum VE StPO vom Dezember 2017, S. 38
Ziff. 2.1.41; zu diesem Revisionsvorschlag vgl. auch Forster, Antennensuchlauf, S. 360-367).
Dies betrifft allerdings eine andere Problematik.
Fazit: Pragmatische Gerichtsentscheide sowie kluge Ermittlungsstrategien von Kriminalpolizei und Strafbehörden können Menschenleben retten. Dies zeigt der Fall Rupperswil anschaulich. Bedauerlich ist, wenn in der Strafrechtsdoktrin das Bundesgericht faktisch für das Fehlen klarer gesetzlicher Grundlagen für digitale Überwachungen verantwortlich gemacht wird und nicht der dafür zuständige Gesetzgeber.
16. März 2018 / © Prof. Dr. Marc Forster
Do
06
Apr
2017
Derzeit wird öffentlich diskutiert, ob ein Facebook-User, der ein ehrverletzendes oder rassistisches Posting eines anderen Users mittels eines «Like» (Klick auf das «Daumen rauf»-Symbol) unterstützt, sich strafbar machen kann.
Die Ansicht, eine Strafbarkeit für den Absender des «Like» falle schon deshalb ausser Betracht, weil sein Verhalten von der Meinungsäusserungsfreiheit geschützt sei, geht am Strafrecht vorbei. Rassistische oder ehrverletzende Äusserungen und ihre Teilnahme daran sind von Gesetzes wegen gerade nicht von der Meinungsäusserungsfreiheit geschützt, sondern grundsätzlich strafbar (Art. 24-25, Art. 173 ff., Art. 261bis StGB).
Auch das Argument, ein Facebook-«Like» könne «mehrdeutig» sein bzw. sei nicht zwangsläufig als moralische Unterstützung gemeint, hilft wenig: Die strafrechtliche Relevanz eines Verhaltens ist nach objektivierten Kriterien zu prüfen. Die Behauptung, ein durchschnittlicher Facebook-User wisse nicht, was der «Like»-Button (bzw. das «Daumen rauf»-Symbol) bedeutet, erscheint wirklichkeitsfremd. Im Einzelfall wird ein Beschuldigter jedenfalls überzeugend darlegen müssen, inwiefern gerade er hier einem strafrechtlich relevanten «Irrtum» unterlegen sei bzw. das strafbare Posting gar nicht habe unterstützen wollen.
Aus strafrechtsdogmatischer Hinsicht stellt sich hier eine ganz andere Frage, nämlich die nach der Abgrenzung zwischen (strafloser) blosser Billigung einer Straftat und (strafbarer) psychischer Beihilfe (Art. 25 StGB) bzw. selbständigen Beihilfetatbeständen (des BT StGB). Die diesbezüglichen Kriterien sind nach herrschender Lehre und Praxis folgende:
Der psychische Gehilfe bestärkt den Täter seelisch in seinem Tatentschluss und erleichtert diesem damit die Durchführung der Straftat. Subjektiv muss der Gehilfe wollen oder zumindest in Kauf nehmen, dass er mit seinem unterstützenden Beitrag den Täter in dessen Tatentschluss (bzw. Dauertatverhalten) bestärkt (vgl. dazu Basler Kommentar StGB-Forster, Art. 25 N. 3). Zudem muss sich der Tatbeitrag des Gehilfen objektiv kausal auf den Erfolg der Haupttat auswirken; bloss versuchte Beihilfe ist nicht strafbar (BSK, Art. 25 N. 52). Die Unterstützung muss tatsächlich zur Straftat beitragen, ihre praktischen Erfolgschancen erhöhen und sich in diesem Sinne als kausal erweisen (sog. «Förderungskausalität»; BSK, Art. 25 N. 8).
Der Haupttäter muss aus dem Tatbeitrag somit einen konkreten praktischen Nutzen psychischer oder physischer Art ziehen, ansonsten fehlt es an einer Förderung der Haupttat. Blosse Billigung der Tat wäre noch keine psychische Gehilfenschaft (BSK, Art. 25 N. 10). Ein Facebook-«Like» kann die Haupttat auf zweifache Weise befördern: Erstens ist er dazu geeignet, den Urheber des Postings (Haupttäter) in seinem Tatentschluss bzw. Dauertatverhalten (Online-Halten des Postings) zu bestärken. Zweitens können «Likes» zudem zur weiteren Verbreitung der strafbaren Ehrverletzung oder rassistischen Hetze beitragen, indem andere User ermuntert werden, das Posting zu lesen (und evtl. ihrerseits zu liken und weiterzuverbreiten).
Primär ist bei den einzelnen in Frage kommenden Straftatbeständen jeweils zu prüfen, ob (über die
akzessorische Teilnahme, Art. 24-25 StGB, hinaus) ein selbständiger (täterschaftlicher) Beihilfetatbestand unter Strafe steht und erfüllt ist:
Beim Rassismustatbestand (Art. 261bis StGB) ist etwa an die Förderung rassistischer Propagandaaktionen oder an die öffentliche
Verbreitung rassistischer Ideologien zu denken (Abs. 2 und 3), bei Ehrverletzungen
an die Weiterverbreitung von übler Nachrede (Art. 173 Ziff. 1 Abs. 2 StGB). Diese selbständigen Beihilfetatbestände gehen der akzessorischen
Beihilfe als «leges speciales» vor
(BSK, Art. 25 N.
65). Auch der Versuch ist strafbar (BSK, Art. 25 N.
53).
Daraus ergibt sich (in den Grundzügen) folgendes Ergebnis:
Zu prüfen ist zunächst, ob ein ehrverletzendes oder rassistisches Posting einen selbständigen Beihilfetatbestand des BT StGB erfüllt. Akzessorische psychische Gehilfenschaft kommt (subsidiär) in Frage, wenn derjenige, der den «Like»-Knopf anklickt, will oder in Kauf nimmt, dass der Täter dadurch in seinem Tatentschluss (bzw. Dauertatverhalten) bestärkt wird. Zudem muss der «Like» das Dauerdelikt (objektiv) gefördert haben, d.h., er muss die Wahrscheinlichkeit erhöht haben, dass das Posting des Haupttäters weiter online bleibt bzw. weitere Beachtung findet.
Prof. Dr. Marc Forster, 6. April 2017
Mi
19
Okt
2016
Nach der mehrmals bestätigten
Rechtsprechung des Bundesgerichtes haben Beschuldigte, nachdem sie ein erstes Mal getrennt zur Sache befragt worden sind, grundsätzlich einen Anspruch auf Teilnahme an der Einvernahme von Mitbeschuldigten oder von Zeugen (Grundsatz der Parteiöffentlichkeit von Beweiserhebungen, Art. 147 Abs. 1 StPO). Vorbehalten ist ein
Ausschluss von der Teilnahme wegen Rechtsmissbrauchs (Art. 108 Abs. 1 lit. a StPO), etwa wenn der Beschuldigte die Teilnahme
dazu missbrauchen will, Einfluss auf Zeugen oder Mitbeschuldigte zu nehmen (Kollusion/Verdunkelung). Kein Rechtsmissbrauch liegt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes (und nach den Gesetzesmaterialien zur StPO) vor,
wenn lediglich eine prozesstaktisch legitime Anpassung des Aussageverhaltens des Beschuldigten droht: Dass der Beschuldigte sein weiteres Aussageverhalten den Aussagen von Mitbeschuldigten oder Zeugen anpassen
könnte (nachdem er ein erstes mal getrennt befragt wurde), lässt sein Teilnahmerecht nicht dahinfallen. Die Parteien dürfen ihre Verfahrensdispositionen der Entwicklung der Beweiserhebungen
anpassen.
In seinem Aufsatz in forumpoenale
2016 (Nr. 5
S. 281 ff., 287) vertritt Ulrich
Weder die
Ansicht, die betreffende Rechtslage sei im Lichte des Haftgrundes der Kollusionsgefahr (Art. 221 Abs. 1 lit. b StPO) "widersprüchlich und geradezu absurd". In Fällen mit Mitbeschuldigten sei es
"vor allem
die Gefahr der Beeinflussung, der
Absprache und der Anpassung von
Aussagen,
mit der welcher die Kollusionsgefahr
regelmässig begründet" werde. Wenn sich der Beschuldigte wegen Kollusionsgefahr in Haft befinde, aber trotzdem an Beweiserhebungen teilnehmen dürfe, könne dem Haftgrund "nur noch ungenügend
Rechnung getragen" werden. Dies sei "zweifelsohne widersprüchlich und grotesk".
Diesen Ausführungen ist zu widersprechen. Sie fussen auf einer Fehlinterpretation des Haftgrundes der Kollusionsgefahr. Falsch ist namentlich die Behauptung, die Gefahr einer prozesstaktischen "Anpassung von Aussagen" begründe bereits
einen Haftgrund
im Sinne der StPO:
Gemäss Art. 221 Abs. 1 lit. b StPO kolludiert ein Beschuldigter wenn er "Personen beeinflusst oder auf Beweismittel einwirkt, um so die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen". Damit ist insbesondere
die Beeinflussung von Zeugen oder Mitbeschuldigten gemeint oder die Manipulation bzw. Unterdrückung von Beweisunterlagen. Demgegenüber stellt die blosse Gefahr, dass ein
Beschuldigter seine eigenen
Aussagen den ihm bekannten Beweisergebnisen prozesstaktisch anpassen könnte (etwa den Aussagen anderer Befragter) nicht im Entferntesten einen Haftgrund dar. (Es erschiene sogar fraglich, ob hier überhaupt von "Kollusion" im Sinne der StPO gesprochen
werden könnte; das Gesetz meint mit der Beeinflussung von "Personen" andere Personen als den Beschuldigten, und mit der "Einwirkung auf Beweismittel" primär bestehende Beweisgegenstände.) Anders zu entscheiden hiesse, dass
praktisch jeder
Beschuldigte ohne weiteres
inhaftiert werden könnte, da grundsätzlich immer die Gefahr einer Anpassung an Beweiserhebungen (darunter Beweisaussagen Dritter) bestünde. Aber selbst in jenen Fällen, bei denen eine Beeinflussung von
Aussagen Dritter droht, liegt nach ständiger Praxis des Bundesgerichtes (und einhelliger Lehre) nicht automatisch ein Haftgrund vor. Zu verlangen sind
vielmehr konkrete
Indizien für eine erfolgte oder drohende Einflussnahme (vgl. zu dieser ständigen Praxis des Bundesgerichtes z.B. BSK StPO-Forster, Art. 221 N. 6-7).
Bei Art. 147 Abs. 1 StPO steht denn auch gar nicht die Gefahr im Vordergrund, dass der Beschuldigte die Aussagen von Mitbeschuldigten oder Zeugen (im Sinne von Kollusion) beeinflussen könnte: Würde der Beschuldigte
dies anlässlich seiner Teilnahme an Einvernahmen versuchen, hätte der die Einvernahme leitende Staatsanwalt (oder die Staatsanwältin) zunächst die Möglichkeit (und die Verpflichtung), Kollusionsversuche des Beschuldigten schon
im Ansatz aktiv zu
unterbinden. Falls der Beschuldigte sein Teilnahmerecht dennoch für Kollusionsversuche (weiter) missbrauchen würde, könnte die Staatsanwaltschaft ihn nötigenfalls von der Einvernahme ausschliessen (Art. 108 Abs. 1 lit. a StPO). Bei Art. 147 Abs. 1 StPO besteht die
einschlägige Gefahr nicht darin, dass der Beschuldigte andere Aussagen und Beweismittel verfälscht oder beeinflusst, sondern dass er seine eigenen künftigen Aussagen an das Aussageverhalten der Mitbeschuldigten prozesstaktisch anpasst. Hier überhaupt von "Kollusion" zu reden, erscheint schon
strafprozess-dogmatisch fragwürdig. Krass falsch wäre jedenfalls die Gleichsetzung des Haftgrundes der Kollusionsgefahr mit der Problematik der prozesstaktischen Anpassung von Beweisaussagen.
Nach der Regelung der StPO führt die blosse Gefahr, dass ein Beschuldigter seine Aussagen denjenigen von Mitbeschuldigten anpassen könnte, weder zu einem Haftgrund, noch zu einem Ausschluss bei den Einvernahmen. Umgekehrt führt Untersuchungshaft wegen Kollusionsgefahr auch nicht automatisch zu einem Ausschluss des Inhaftierten von jeglichen Beweiserhebungen: Dass
ein Beschuldigter in einem ganz anderen
Zusammenhang wegen Kollusionsgefahr in Haft ist (z.B. wegen telefonischer Zeugenbeeinflussung oder Unterdrückung von Beweisurkunden), rechtfertigt es nicht, ihm das Parteirecht auf
Teilnahme an der Einvernahme von Mitbeschuldigten zu verweigern. Vorbehältlich einer rechtsmissbräuchlichen Inanspruchnahme stehen die Verteidigungsrechte gerade auch den inhaftierten Beschuldigten zu.
Im Ergebnis erscheint mir nicht das Teilnahmerecht von Mitbeschuldigten gemäss Art. 147 Abs. 1 StPO "widersprüchlich und absurd", sondern, wenn schon, eine kurzschlüssige Vermischung des
Haftgrundes der Kollusionsgefahr mit der Problematik der prozesstaktischen Anpassung von Beweisaussagen.
Prof. Dr. Marc Forster/19. Oktober 2016
Mi
06
Apr
2016
In Medienberichten zu den "Panama Papers" wird behauptet, Schweizer Anwälte und Treuhänder dürften selbst Personen, gegen die international strafrechtlich ermittelt
wird, "helfen, schmutzige Vermögen zu
verschieben und sich hinter Offshore-Vehikeln zu verstecken" (Tages-Anzeiger und Der Bund vom 6. April 2016, als "Fazit" je auf S. 3, s.a. online). Dies, weil nur Finanzintermediäre dem GwG
unterstellt seien. Dieser Ansicht ist aus strafrechtlicher Warte zu widersprechen:
Zwar stimmt es, dass nur Finanzintermediäre (wie z.B. Banken) dem GwG direkt unterstellt sind. Auch der Straftatbestand der mangelnden Sorgfalt (oder der Verletzung von Meldepflichten) bei
Finanzgeschäften (Art. 305ter StGB) ist nur auf Finanz-intermediäre anwendbar (zur Bankencompliance s. Tamara Taube, Entstehung, Bedeutung und Umfang der Sorgfalts-pflichten der
Schweizer Banken bei der Geldwäscherei-prävention im Bankenalltag, Diss. SG 2013, pdf).
Nicht einfach übersehen werden darf dabei zunächst jedoch Art. 305bis Ziff. 1 i.V.m. Art. 25 StGB: Der Gehilfenschaft zu Geldwäscherei macht sich strafbar, wer
einen kausalen Tatbeitrag zu
Handlungen liefert, die geeignet sind, die Ermittlung der Herkunft, die Auffindung oder die Einziehung
von Vermögenswerten zu vereiteln, die, wie er weiss oder annehmen muss, aus einem Verbrechen oder aus einem qualifizierten Steuervergehen herrühren. Anwälte oder Treuhänder, die entsprechende logistische Vorkehren treffen, z.B. helfen, Tarnfirmen zu gründen, Strohmänner einzusetzen, Konten zu eröffnen oder
hohe Bargeldsummen zu transferieren usw., obwohl sie konkrete Hinweise auf einen entsprechenden deliktischen Hintergrund haben, können sich grundsätzlich strafbar machen. Die Bestechung von Amtsträgern zum Beispiel ist in der Schweiz schon seit langem
ein Verbrechen
(Art. 322ter-322octies StGB).
Auch qualifizierte
Steuer-vergehen (Art. 305bis Ziff. 1 und 1bis StGB) gelten jedenfalls seit dem 1. Januar 2016 als Vortaten der Geldwäscherei.
Falsch wäre sodann die Auffassung,
Anwälte könnten sich im Bereich ihrer sogenannten akzessorischen Geschäftstätigkeit (z.B. Verwaltungsratsmandate, Vermögensverwaltung, Inkassomandate usw.) auf
ihr Berufsgeheimnis (Anwaltsgeheimnis) berufen. Es gibt Fälle, bei denen Anwälte selbst als Finanzintermediäre akzessorisch tätig sind. Diese sind gesetzlich
verpflichtet, Geldwäschereiverdachtsfälle zu melden (Art. 9 Abs. 1 GwG) und sich einer Selbstregulierungsorganisation anzuschliessen (Art. 14
Abs. 3 GwG; BGE 132 II 103 E. 2.2 S. 105 f.). Auch fallen sie unter die Strafdrohung nach Art. 305ter StGB. Dies betrifft Anwälte, welche berufsmässig fremde Vermögenswerte annehmen oder aufbewahren
oder helfen, sie anzulegen oder zu übertragen (Art. 2 Abs. 3 GwG).
Geldwäschereiverdacht (i.S.v. Art. 305bis Ziff. 1 StGB und Art. 27 Ziff.
1 lit. c und e GwUe) kann insbesondere vorliegen, wenn eine auffällige Verknüpfung geldwäschetypischer Vorkehren besteht. Dies ist etwa der Fall, wenn hohe Geldbeträge über komplexe Kontenbewegungen unter zahlreichen involvierten Personen und Firmen in verschiedenen Ländern, darunter typischerweise sogenannte "Offshore"-Gesellschaften, verschoben wurden und für diese komplizierten
Transaktionen kein wirtschaftlicher Grund
ersichtlich ist. Auch ungewöhnliche Transaktionen mit hohen Bargeldbeträgen sind verdächtig oder Finanztransaktionen im konkreten Umfeld von massiven Korruptionsfällen (vgl. dazu M. Forster, in: Basler Kommentar Internationales Strafrecht, 2015, Art. 27 GwUe N. 9; derselbe, Internationale Rechtshilfe bei Geldwäschereiverdacht, ZStrR 2006, S. 274–294).
Prof. Dr. Marc Forster / 6. April 2016
Di
17
Nov
2015
A) Falsch ist zunächst die Annahme, Aufrufe zu terroristischer Gewalt auf Facebook und ähnlichen sozialen Netzwerken seien nicht strafbar: Anders als die öffentliche Aufforderung zu Verbrechen oder Gewalt
(Art. 259 StGB) oder (bei den meisten Tatbestandsvarianten) der Rassismustatbestand (Art. 261 StGB) setzt der Straftatbestand der Unterstützung einer kriminellen Organisation (Art. 260ter Ziff. 1
Abs. 2 StGB) keine "öffentlichen" Aeusserungen voraus.
Analoges gilt für das am 1.1.2015 (dringlich) in Kraft gesetzte
Bundesgesetz über das Verbot der Gruppierungen "Al-Qaïda" und "Islamischer Staat" sowie verwandter Organisationen (SR 122). Danach wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder
Geldstrafe bestraft, wer sich auf dem Gebiet der Schweiz an einer der genannten Gruppierungen oder Organisationen beteiligt, sie personell oder materiell unterstützt, für sie oder ihre Ziele
Propagandaaktionen organisiert, für sie anwirbt oder ihre Aktivitäten auf andere Weise fördert.
B) Unzutreffend ist auch die Ansicht, die Urheber strafbarer anonymer Aeusserungen auf privaten oder öffentlichen Internetseiten könnten durch die Strafverfolgungsbehörden leicht identifiziert werden: Wenn z.B. Urheber von Facebook-Postings oder von
Aeusserungen auf öffentlich zugänglichen Webseiten mit den Inhabern der Web-Accounts identisch sind oder wenn die Urheber der Posts sich nicht anonym äussern, können die Strafverfolgungsbehörden die Verdächtigen regelmässig identifizieren. Bei
allen anonymen Aeusserungen auf Netzwerken hingegen, deren Daten (IP-Histories usw.) in den USA gespeichert werden (z.B. Facebook, Google usw.),
ist es den Schweizer (und anderen
nichtamerikanischen) Strafverfolgungsbehörden aus technischen Gründen nicht möglich, die Urheber zu eruieren. Dafür braucht es mühsame Rechtshilfegesuche an die USA, welche die Strafverfolgung sehr erschweren (vgl. dazu meinen
unten angefügten Aufsatz in der Festschrift zum Schweizerischen Juristentag 2015).
C) Naiv ist schliesslich auch der
Glaube, die Geheimdienste (oder Strafverfolgungsbehörden) hätten die Kommunikation der terroristischen Attentäter von Paris leicht überwachen können: Verschlüsselte mobile
Internetkommunikation (z.B. Internettelefonie, Whatsapp, Skype) kann derzeit nur mittels "Staatstrojanern" bzw. Spezialsoftware (GovWare) überwacht werden, die zudem auf die Kommunikationsgeräte
von verdächtigen Personen (zuerst) eingeschleust werden müssen. Dies ist bei hunderten bzw. tausenden von verdächtigen Personen im präventiven Vorfeld von
Attentaten praktisch gar nicht
möglich; zudem
wäre es mit enormen Kosten
verbunden.
Daraus erklärt sich auch, weshalb nicht einmal der französische Geheimdienst in der Lage war, die Pariser Attentate und die damit verbundene Kommunikation der Täter und Komplizen (sehr
wahrscheinlich über verschlüsseltes mobiles Internet) zu überwachen. Die Gegner der in der Schweiz hängigen Gesetzesrevision zu den Ueberwachungsmassnahmen scheinen diese Zusammenhänge entweder
noch nicht zu kennen oder nicht wahrhaben zu wollen.
Prof. Dr. Marc Forster / 17.
November 2015
Nachtrag vom 19.11.15: Gemäss den Medienmitteilungen der
Pariser Staatsanwaltschaft haben die Attentäter noch bis unmittelbar vor den Anschlägen vom 13.11.15 miteinander über Mobiltelefone kommuniziert. Aufgrund der
nachträglich ermittelten GPS-Daten bzw. der Antennennstandorte eines in der Nähe des Bataclan sichergestellten Handys konnte die Polizei die konspirative Wohnung in Saint-Denis ausfindig machen,
welche am 18.11.15 von der Polizei gestürmt wurde (mit zwei getöteten und acht verhafteten Terrorverdächtigen).
Do
15
Okt
2015
Es ist einfach nur traurig. Da hetzt ein politischer Extremist in der Schweiz aus rassistischen Motiven systematisch gegen die Armenier, indem er
den historisch belegten Genozid leugnet bzw. rechtfertigt und das Gedenken der Opfer und ihrer Nachkommen lächerlich zu machen versucht. Und der Europäische Gerichtshof findet, ein Staat wie die
Schweiz, der solches Verhalten unter Strafe stellt und angemessen mit einer Geldstrafe büsst, verletze die Menschenrechte. Das Tolerieren von rassistischer Hetze gehöre eben -- so der EGMR in
seinem heutigen Entscheid in zweiter Instanz -- zu einem "demokratischen Rechtsstaat". Dies unterscheide ihn von "Diktaturen" und "totalitären Systemen". Der EGMR behauptet, es gebe "keinen
Konsens" über den Völkermord an den Armeniern. Damit führt er die Öffentlichkeit in die Irre: Er unterschlägt, dass es bloss an einem politischen Konsens (leider) bisher fehlt.
Das ist aber juristisch völlig unerheblich. In der Schweiz werden keine Urteile aufgrund politischer Anschauungen gefällt, sondern aufgrund von wissenschaftlichen Fakten. Unter ernstzunehmenden
Historikern (dazu gehören weder Herr Perinçek noch andere dubiose Hobby- bzw. Auftrags-Historiker) sind die wesentlichen Fakten zum Armenier-Genozid nicht umstritten. Nur wenig
tröstlich ist, dass das Urteil selbst unter den Richtern der Grossen Kammer des EGMR sehr umstritten war: Es fiel mit 10 zu 7 Stimmen zugunsten des
Genozidleugners aus.
Das Zeichen, das der EGMR offenbar aus politischer Rücksichtnahme setzt, ist fatal. Rassistische Hetze gehört nicht unter den Schutz der Menschenrechte gestellt, sondern strafrechtlich verfolgt.
Dass die in den Augen der EGMR-Richtermehrheit offenbar "totalitäre" und "meinungsäusserungsfeindliche" Schweiz dies tut, erfüllt mich als Staatsbürger und Jurist mit Stolz. Erfreulicherweise
beschreitet die Schweiz diesen Weg nicht ganz alleine: Andorra, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Malta, Mazedonien, die Slowakei, Slowenien, Ungarn, Zypern und die Schweiz stellen
nicht nur das Leugnen des Holocaust unter Strafe, sondern das rassistisch motivierte öffentliche Leugnen sämtlicher Genozide. -- Könnte es sein, das kleinere Staaten in diesem
Punkt ein besonders sensibles kriminalpolitisches Gespür unter Beweis stellen?
Marc Forster, 15.10.2015
Mi
27
Mai
2015
In einem Interview vom 27.05.2015 mit dem Tagesanzeiger.ch/Newsnet zu den Verhaftungen von sieben hochrangigen FIFA-Funktionären und zur
Aktenbeschlagnahmung am FIFA-Sitz in Zürich durch die Bundesanwaltschaft (BA) äussert Prof. Mark Pieth sein Erstaunen darüber, dass sich die Schweizer Justiz von
den USA habe "einspannen" lassen. Es handle sich um eine "Kombination aus der schweizerischen und der US-Justiz". Die "Initiative" sei dabei "von den USA" ausgegangen. -- Dieser
Einschätzung ist teilweise zu widersprechen:
Die BA ist nicht erst auf Initiative der USA (und schon gar nicht aufgrund des amerikanischen Festnahmeersuchens gegen FIFA-Funktionäre) aktiv geworden. Die USA verfolgen (laut Medienmitteilung ihres Justizministeriums) primär jahrzehntelange Bestechung von FIFA-Funktionären bei der Vergabe von Medien-, Vermarktungs- und Sponsoringrechten. Das Auslieferungsersuchen (präziser: das Festnahmegesuch) an die Schweiz betrifft diese Korruptionsvorwürfe der US-Justiz. Separat dazu hatte die BA aber bereits eine eigene (Schweizer) Strafuntersuchung eingeleitet wegen mutmasslichen Straftaten im Zusammenhang mit der Vergabe der WM-Turniere 2018 an Russland und 2022 an Qatar. Die FIFA hat diesbezüglich am 18. November 2014 selber Strafanzeige bei der BA eingereicht. Nach Medienmitteilungen der BA gehe es hier primär um ungetreue Geschäftsbesorgung zum Nachteil der FIFA. Zutreffend ist, dass die US-Strafverfolgungsbehörden und die BA ihre separaten Strafuntersuchungen koordinieren und sich (im Rahmen der völkerrechtlichen Regelungen) gegenseitig Rechtshilfe gewähren (insbes. Auslieferungen, Kontensperren, Herausgabe von Geschäfts- und Bankunterlagen).
Das neue Korruptionsstrafrecht (mit der vorgeschlagenen Neuregelung der Privatkorruption als
Offizialdelikt des StGB), welches ab nächster Woche im Parlament beraten wird, dürfte für die genannten Untersuchungen in den USA und der Schweiz keine
Auswirkungen mehr haben: Für die Strafbarkeit sind die Strafnormen im Zeitpunkt der untersuchten Delikte massgeblich. Die beidseitige Strafbarkeit (als
Voraussetzung für eine allfällige Auslieferung oder Aktenherausgabe an die USA) bestimmt sich grundsätzlich nach den geltenden Strafnormen im Zeitpunkt des Rechtshilfeersuchens.
Das neue Recht wird insofern zu spät kommen.
Prof. Dr. Marc Forster, 27. Mai 2015 ©
Nachtrag zum neuen Privatkorruptionsstrafrecht:
In seinem Urteil 1C_143/2016 vom 2. Mai 2016 (BGE-Publikation) hat das Bundesgericht bestätigt, dass bei Privatbestechung das Auslieferungserfordernis der
beidseitigen Strafbarkeit gestützt auf die (damals noch anwendbaren) Bestimmungen des
UWG (Art. 4a) grundsätzlich erfüllt war. Das
Strafantrags-Erfordernis des UWG liess die beidseitige Strafbarkeit nicht dahinfallen. Knapp zwei Monate nach diesem Urteil, nämlich am 1. Juli 2016, sind die
neuen StGB-Bestimmungen über Privatkorruption in Kraft getreten (Art. 322octies und novies StGB). Diese sind nun zwar als Offizialdelikte ausgestaltet, aber
lediglich als Vergehen, sodass Geldwäscherei an Privatkorruptionsgeld weiterhin nicht strafbar ist. Wenn die Bestechungshandlungen (wie meist
üblich) nicht in der Schweiz erfolgen, besteht auch praktisch keine Strafverfolgungszuständigkeit der schweizerischen Justiz. Ein weiteres schwer verständliches
Schlupfloch findet sich auch noch in Art. 322decies Abs. 1 lit. a StGB: Wenn die FIFA (oder eine andere "gefährdete" Organisation oder Gesellschaft) die
Privatbestechung seiner Mitarbeiter und Funktionäre "vertraglich genehmigt", ist diese straflos...
Prof. Dr. Marc Forster, 5. Oktober 2016 ©
Mo
05
Jan
2015
In letzter Zeit häufen sich Stellungnahmen der Bundesan-waltschaft (BA), die auf eine juristische Fehleinschätzung von Art. 260ter StGB (Strafbarkeit
der Unterstützung bzw. Beteiligung an einer kriminellen Organisation) schliessen lassen. Schon an einer Medienkonferenz von Ende August 2014 liess der Bundesanwalt verlauten,
die «blosse Mitgliedschaft» bei einer mafiösen Organisation sei in der
Schweiz «nicht strafbar», weshalb
bei italienischen Rechtshilfeersuchen an die
Schweiz Probleme (mit dem Rechtshilfeerfordernis der beidseitigen Strafbarkeit) entstünden. Laut
Medienberichten vom 4. und 5. Januar 2015 («NZZ am Sonntag») doppelte die BA kürzlich im gleichen Sinne nach: Laufende Untersuchungs- verfahren wegen «blosser Mitgliedschaft» würden künftig von
der BA automatisch eingestellt. Ein Strafverfahren werde nur noch durchgeführt, «wenn Hinweise auf konkrete Unterstützungshandlungen für eine mafiöse Organisation» vorliegen («Tages-Anzeiger» vom 5. Januar 2015, S. 3). Laut Bundesanwalt Michael Lauber reiche «die reine Mitgliedschaft bei einer kriminellen Organisation für eine Verurteilung nicht aus».
Darin sei sich sich «die herrschende Lehre einig». Es brauche den «Nachweis, dass die Beschuldigten die Organisation konkret in ihrer
kriminellen Aktivität unterstützt haben» (http://www.nzz.ch/nzzas/nzz-am-sonntag/wir-machen-keine-abenteuer-mehr-1.18454252).
Dieser mehrfach in den Medien verbreitete Standpunkt
der BA erscheint juristisch und kriminalpolitisch sehr bedenklich und lässt auf eine grundsätzliche Fehleinschätzung der Rechtslage schliessen.
Die Beteiligung an einer mafiösen Organisation (Art.
260ter Ziff. 1 Abs. 1 StGB) ist keineswegs eine Art «geringere» Form der organisierten Kriminalität. Eher trifft das Gegenteil
zu: Ein Mitglied einer kriminellen Organisation zu sein, ist mindestens so strafwürdig, wie die (blosse) punktuelle Unterstützung (Art. 260ter
Ziff. 1 Abs. 2 StGB) durch einen
aussenstehenden Helfer. Beide Varianten werden denn auch vom Gesetz unter den gleichen
Strafrahmen gestellt. Für
überführte Mafiamitglieder dürfte das konkrete Strafmass in der Regel sogar höher ausfallen als für
(jedenfalls nicht sehr wichtige) blosse Unterstützer. Mir ist kein Strafrechtsexperte bekannt, der nur die konkrete Unterstützung der Mafia, nicht aber die «blosse» Mitgliedschaft als strafbar
ansehen würde. Von einer entsprechenden «herrschenden Lehre» (im Sinne der Ausführungen der BA) kann noch viel weniger die Rede sein.
Wie den neusten Medienberichten indirekt zu entnehmen ist, könnte die irreführende Aussage der BA eine bewusste Provokation sein,
um politische Unterstützung für eine Verschärfung der StPO
zu generieren: Die vorgeschlagenen schärferen Instrumente (Verweigerung der
Verteidigung der ersten Stunde, Verweigerung einer nachträglichen Mitteilung der Telefonüberwachung usw., s.
«Tages-Anzeiger» vom 5. Januar 2015, S. 3)
werfen rechtsstaatliche Bedenken auf und dürften auf politischen Widerstand stossen. «Absurd» (so die Einschätzung von Ex-Staatsanwalt Paolo Bernasconi) sind die
aktuellen Regelungen keineswegs, auch nicht in Fällen mit Mafiabezug und auch nicht vor dem durchaus zutreffenden Hintergrund, dass der rechtsgenügliche
(beweisrechtliche) Nachweis einer Mafia-Mitgliedschaft oft schwierig
ist. Wenig sachgerecht erscheint in dem Zusammenhang auch, dass die BA und Teile der
Medien Einstellungen von Untersuchungen (z.B. mangels ausreichenden Beweisen) offenbar als peinliche «Niederlage» missverstehen, anstatt
sie als eine mögliche gesetzliche Erledigungsvariante von sorgfältigen rechtsstaat- lichen Untersuchungen zu erkennen. Die Mentalität, in heiklen Fällen lieber gar nicht erst anzuklagen,
als einen Freispruch zu «riskieren», ist vom US-amerikanischen kompetitiven Rechtsdenken
und von sachfremdem medialem Druck auf die
BA geprägt und dem schweizerischen Strafverfahrensrecht wesensfremd.
Prof. Dr. Marc Forster, 5. Januar 2015
Mi
22
Jan
2014
Nach Medienberichten, die auf der Auswertung von «Offshore-Leaks»-Daten durch das International Consortium of Investigative
Journalists (ICIJ) mit Sitz in
Washington gründen, waren Schweizer Grossbanken in den Jahren 2005/2006 in Geschäfte mit engen Fami- lienangehörigen des damaligen chinesischen Premierministers invol- viert. Dabei handelt es
sich um sogenannte «Politically Exposed Per- sons» (PEPs), für die strenge bankenaufsichtsrechtliche und straf- rechtliche Sorgfaltsregeln gelten.
Die für die Schweiz geltende aktuelle Definition von PEP findet sich in Art. 2 lit. a der (2010 erlassenen) Geldwäschereiverordnung der
FINMA (GwV, SR 955.033.0). PEPs sind Personen
mit prominenten
öffent- lichen Funktionen im Ausland, wie etwa Staats- und Regierungs- chefs oder hohe Politiker und Amtsträger, sowie
auch Unternehmen und dritte Personen, etwa
Familienangehörige oder wirtschaftlich Be- vollmächtigte (bzw. enge Geschäftspartner), die solchen Personen er- kennbar nahe stehen. PEP-Geschäftsbeziehungen
sind für die Banken mit erhöhten Haftungs- und Reputationsrisiken verbunden. Dies besonders dann, wenn es sich um
Angehörige von Machthabern aus Staaten mit hohen Korruptionsraten (oder massiven rechtsstaat- lichen Defiziten) handelt.
Eine Verpflichtung der Banken zu entsprechenden Abklärungen und Vorsichtsmassnahmen bei der
Aufnahme und Pflege von PEP-Ge-schäftsbeziehungen besteht nicht erst seit 2010. Schon 1998 (nach Bekanntwerden der grotesken Korruptionsfälle
Mobutu und Abacha) entschied die damalige Eidgenössische Bankenkommission, die
Sorgfaltsvorschriften von Geschäftsbeziehungen mit PEPs zu vertiefen. Ende 2001 verabschiedete der Basler Ausschuss (Basel Committee on Banking Supervision of the Bank for International Settlements) Mindeststandards zur Kundenidentifizierung. Die Schweiz (vertreten durch FINMA und Nationalbank) war an der Ausarbeitung dieser Standards
massgeblich beteiligt und initiierte beispielsweise die Regel, dass Geschäftsbeziehungen mit PEPs nur mit Zustimmung des obersten
Geschäftsführungsorgans eingegangen werden dürfen. 2002 wurden die einschlägigen überarbeiteten Wolfsberg-Prinzipien (unter
Mitwirkung u.a. von UBS und CS) verabschiedet. 2003 übernahm die Schweiz die 40 Empfehlungen der FATF zur Geldwäscherei-
prävention, darunter auch die Empfehlung Nr. 6 betreffend PEPs (Erkennung von PEP-Kundenbeziehungen, Bewilligung durch die
oberste Geschäftsführung, zusätzliche Abklärungen in Bezug auf die Herkunft der Vermögenswerte sowie
fortlaufende Überwachung der Geschäftsbeziehungen zu PEPs). Künftig werden der
PEP-Begriff und die betreffenden Sorgfaltspflichten direkt im Geldwäschereigesetz (GwG, SR
955.0) definiert und geregelt sein (vgl. Botschaft des Bundesrates zur Umsetzung der 2012 revidierten Empfehlungen der FATF, BBl 2014, 605 ff., 620
ff.).
Bei den in den Medien dargelegten Geschäftsverbindungen von Grossbanken mit nahen Angehörigen des damaligen chinesischen Premierministers waren besonders strenge
Compliance-Regeln zu beachten. Dies umso mehr, als der Premierminister (zwischen 2003 und
2013) aktiv im
Amt war. Solche Geschäftsverbindungen fallen Compliance-rechtlich in die höchste Risikoklasse. Im Fall «China-Leaks» stellt sich primär die Frage, ob die Banken die detaillierten Sorgfaltsvorschriften eingehalten haben, welche der Prüfung (und periodischen Vergewisserung) dienen, dass die angelegten Vermö- genswerte und betreuten
Geschäfte legaler
Herkunft und Ausrichtung sind. Die Prüfung, ob dabei aufsichtsrechtliche Vorschriften verletzt wurden, obliegt der
FINMA.
Geschäftsbeziehungen mit PEPs gelten in jedem Fall
als Kundenkon- takte mit erhöhtem Risiko (Art. 12 Abs. 3 GwV). Abzuklären hat die Bank namentlich, ob ihre Vertragspartei an den eingebrachten Vermö- genswerten
wirtschaftlich berechtigt ist, die Herkunft der einge- brachten Vermögenswerte, der Verwendungzweck abgezogener
Vermögenswerte, die Hintergründe und die Plausibilität grösserer Zahlungseingänge, der Ursprung des
Vermögens der Vertragspartei und
der wirtschaftlich berechtigten Person, die berufliche oder geschäftliche Tätigkeit
der Vertragspartei und der wirtschaftlich
berechtigten Person, ob es sich bei der Vertragspartei oder der wirtschaftlich berechtigten Person um eine PEP handelt, und bei juristischen Personen, wer diese faktisch
beherrscht (Art. 14 Abs. 2 GwV). Das oberste
Geschäftsführungsorgan der Bank (oder mindestens eines seiner Mitglieder) entscheidet
über die Aufnahme von Geschäftsbeziehungen mit PEPs und alljährlich
über deren Weiterführung (Art. 18 Abs. 1 lit. a GwV).
Wenn die Verantwortlichen es unterlassen, die Identität des wirtschaftlich Berechtigten mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt
abzuklären, machen sie sich (nach Art. 305ter Abs.
1 StGB) strafbar. Die Sorgfaltsmassstäbe werden in Art. 3-8 des Geldwä- schereigesetzes sowie in der GwV
konkretisiert (insbes. betreffend PEPs). Falls sich aufgrund der gebotenen Abklärungen ein Verdacht auf Geldwäscherei ergibt, indem die eingebrachten Vermögenswerte z.B. aus Korruption oder ungetreuer Amtsführung stammen könnten, ist die Bank verpflichtet, eine Verdachtsmeldung an die Meldestelle des Bundes zu erstatten (Art. 9 GwG) und die betroffenen Vermögenswerte zu sperren (Art. 10 GwG). Bei Widerhandlung gegen diese Verpflichtungen droht den Verantwortlichen ein Strafverfahren wegen Geldwäscherei (Art. 305bis StGB), mangelnder Sorgfalt bei Finanzgeschäften (Art. 305ter Abs. 1 StGB), Verletzung der Meldepflicht (Art. 37 GwG) und anderen
Delikten.
© 22.01.2014 / Prof. Dr. Marc Forster
Siehe zum Fall «China-Leaks» auch Handelszeitung
online vom 22.1.2014.
Mi
18
Dez
2013
Der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat mit seinen Urteilen schon mehr als einmal Kopfschütteln und
Ratlosigkeit bei Schweizer Juristen ausgelöst. Mit seinem Entscheid in Sachen Dogu Perincek ist die
Qualität und Überzeugungskraft der EGMR-Rechtsprechung an einem bisher unerreichten Tiefpunkt angelangt. Das Urteil wird Rassisten, Geschichts-Revisionisten und politische Hetzer hoch erfreuen.
Es wird sie ermuntern, historisch belegte Völkermorde an Minderheiten und Ethnien öffentlich, systematisch und auf diffamierende Weise zu leugnen oder zu rechtfertigen. Bemerkenswert ist auch,
dass ausgerechnet jene politischen Kreise in der Schweiz das Urteil loben, welche dem Völkerrecht sonst keinen besonderen Stellenwert beimessen wollen und «fremde Richter», insbesondere
europäische, ablehnen.
Die Rechtsgrundlage:
Im Jahre 1994 bestätigte die Schweizer Stimmbevölkerung mit einem Anteil von fast 55% die
Strafnorm gegen Rassismus. Damit schuf die Schweiz die Grundlage für eine Ratifizierung des Anti-Rassendiskriminierungsabkommens der UNO (vgl. z.B.
Marc Forster,
Die Korrektur des strafrechtlichen Rechtsgüter- und Sanktionenkataloges im gesellschaftlichen Wandel, Habil. 1995, ZSR 1995, 1-178, S. 157-161). Die Gegner der
Referendumsvorlage hatten unter anderem befürchtet, negative Stammtisch-Äusserungen gegen Ausländer könnten strafrechtlich verfolgt werden. Die Meinungsäusserungsfreiheit werde damit untergraben.
Strafbar macht sich unter anderem, wer öffentlich eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion herabsetzt oder aus einem dieser Gründe Völkermord oder andere Verbrechen gegen die
Menschlichkeit leugnet, gröblich verharmlost oder zu rechtfertigen sucht (Art. 261bis Abs. 4 StGB). Dass in den Jahren 1915 und
1916 zwischen (mindestens) 300'000 und 1,5 Millionen armenische Kinder, Frauen und Männer einer systematischen ethnischen Vertreibung sowie Massentötungen durch Verantwortliche des Osmanischen
Reichs zum Opfer gefallen sind, wird praktisch von keinem ernstzunehmenden Historiker in Abrede gestellt. Am 16. Dezember 2003 anerkannte der Schweizer Nationalrat offiziell den Völkermord an den
Armeniern. Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden im Übrigen in Art. 264 und 264a StGB näher definiert.
Der Fall Perincek:
Wie Medienberichten entnommen werden kann, handelt es sich bei Dogu Perincek um einen
extremistischen türkischen Nationalisten. Er wurde im August 2013 (u.a. wegen Verschwörung und Putschplänen gegen die
demokratisch gewählte türkische Regierung) von einem türkischen Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt und befindet sich heute im Gefängnis. Offenbar als Reaktion auf den Entscheid des
Nationalrates vom 16. Dezember 2003 liess Perincek im Mai, Juli und September 2005 (in Lausanne,
Opfikon und Köniz) öffentliche Veranstaltungen durchführen, an denen er wiederholt den Genozid an den Armeniern in
Abrede stellte. Zwar räumte er ein, dass Massaker und
Deportationen stattgefunden hätten. Er rechtfertigte diese
aber als «legitime Kriegshandlungen» und mit der Behauptung, die Armenier hätten ihrerseits analoge
Massaker und Deportationen an Türken begangen. Im Jahr 2007 verurteilte die Waadtländer Justiz Perincek wegen Rassen- diskriminierung
zu einer bedingten Geldstrafe von Fr. 9'000.--, einer Busse von Fr. 3'000.-- und einer Genugtuungsleistung von Fr.
1'000.-- zugunsten eines gemeinnützigen Vereins (Association Suisse-Arménie). Das Schweizerische Bundes- gericht bestätigte die Verurteilung mit Urteil vom 12. Dezember 2007 (Urteil 6B_398/2007 =
Pra 2008 Nr. 134 S. 838 ff.). Der EGMR verurteilte die Schweiz deswegen am 17. Dezember 2013 wegen Verletzung der Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 10
EMRK).
Die Argumente des EGMR:
Der EGMR argumentiert, Perincek habe die Massaker und Deportationen nicht geleugnet, sondern zu rechtfertigen versucht. Seine Ausführungen enthielten auch historische, juristische und politische Elemente.
Der EGMR übersieht zunächst, dass das Schweizer Strafrecht auch das (haltlose und rassistisch motivierte) Rechtfertigen
von Völkermord ausdrücklich unter Strafe stellt. Sodann besteht für die Behauptung, die Armenier hätten 1915-1916 ihrerseits Hundertausende Türken deportiert und getötet,
nicht der geringste Nachweis, geschweige denn ein wissenschaftlicher Konsens unter Historikern. Mit seinen Behauptungen versuchte Perincek, den
Opfern
des Genozids auf diffamierende Weise die Schuld an den von ihnen erlittenen Verbrechen zuzuschieben. Dies ist eine für extreme Rassisten und Revisionisten
geradezu typische Argumentationsstrategie. Dass das Schweizer Strafrecht auch das (haltlose und diffamierende)
Rechtfertigen von Völkermord unter Strafe stellt, ist ausdrücklich zu begrüssen. Der Entscheid des EGMR scheint dadurch geprägt, dass in einigen Ländern, insbesondere in skandinavischen,
osteuropäischen und anglosächsischen, revisionistische und rassistische Hetzereien nicht oder nur in geringerem Ausmass strafbar sind. Dies ist aber ein
politisches
Thema und lässt die Schweizer Antirassismus-Strafnorm keineswegs als menschenrechtswidrig erscheinen.
Der EGMR findet, Perincek habe weder die Armenier herabgewürdigt, noch zu Rassenhass oder Gewalt aufgerufen oder die öffentliche Ordnung ernsthaft gefährdet. Auch hier wedelt der
Gerichtshof begriffsjuristischen Staub auf, anstatt zwischen grundrechtlichen, strafrechtlichen
und kriminal- politischen Fragestellungen zu differenzieren:
Die Einschätzung des EGMR, Perincek habe die Armenier und deren Andenken an Hunderttausende Verfolgte und Getötete nicht öffentlich herabgewürdigt, ist schon aus den oben genannten Gründen
abzulehnen. Wer die Tatsachen verdreht und Opfer zu Tätern macht,
diffamiert und verhöhnt die Opfer aufs Gröbste. Hinzu kommt, dass Perincek agitatorisch, polemisch und aggressiv aufgetreten ist. Seine öffentliche Vortragstournee in drei verschiedenen Gemeinden in der
deutschen und französischen Schweiz war offensichtlich als bewusste Provokation inszeniert. Perincek leugnete und verdrehte historische Fakten zu propagandistischen (nationalistischen) Zwecken.
Seine reisserischen Auftritte mussten auf die in der Schweiz lebenden Armenier beleidigend, diffamierend und hetzerisch wirken.
Mit dem Hinweis, er habe nicht direkt zu Rassenhass oder Gewalt aufgerufen, argumentiert der EGMR erneut am Wortlaut der Schweizer Antirassismus-Strafnorm vorbei: Eine Verurteilung wegen Leugnens
oder Rechtfertigens von Völkermord setzt nicht voraus, dass der Täter (auch noch) zu Rassenhass oder gar zu Gewalt aufhetzt. Es genügt, dass er durch seine rassistisch-nationalistisch motivierte
Diffamation der Opfer den öffentlichen Frieden ernsthaft verletzt. Wer in der Schweiz zu Gewalt gegen Menschen oder
Sachen auffordert, wird schon nach Art. 259 Abs. 2 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren (oder Geldstrafe) bestraft. Der EGMR scheint mit den Normen des StGB offenbar wenig vertraut zu
sein. Der Umstand, dass die Schweizer Rassismus-Strafnorm nicht bloss den Aufruf zu Rassenhass und Gewalt unter Strafe stellt, sondern auch das diffamierende öffentliche Leugnen und Rechtfertigen
von Völkermord, ist sehr zu begrüssen. Dass einige europäische Länder (noch) keine identische Regelung haben, lässt die Schweizer Gesetzgebung nicht als menschenrechtswidrig erscheinen.
Auch der Unterschied, den der EGMR zum (seiner Ansicht nach durchaus strafbaren) Leugnen oder Rechtfertigen des Holocaust
sehen will, überzeugt nicht. Er beruft sich darauf, dass es keinen politischen Konsens
zum Genozid an den Armeniern gebe, da ihn «nur» 20 von 190 Staaten anerkannt hätten. Eine solche Argumentation stellt die Aufgabe des Strafrichters auf den Kopf: Bei der Anwendung der
Strafbestimmungen gegen Genozid (Art. 264 StGB) und Leugnen von Genozid (Art. 261bis Abs. 4 StGB) muss der Strafrichter
beurteilen, ob nach den historisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen von einem Völkermord auszugehen ist. Die
Frage, welche Staaten und Behörden aus politischen Überlegungen die historischen Fakten offiziell anerkannt haben, kann dabei keine massgebliche Rolle spielen. In einem demokratischen Rechtsstaat muss rassistische Genozidleugnung auch dann strafbar sein können, wenn
gewisse Länder noch Mühe bekunden, Rassismus konsequent zu bekämpfen oder (sie betreffende) historische Fakten aufzuarbeiten. Und selbst politisch hat ein grosser Teil der europäischen bzw.
westlich-demokratischen Staaten den Genozid an den Armeniern offiziell anerkannt. Historisch-wissenschaftlich ist er
genauso wenig bestreitbar wie der Holocaust.
Bei seiner Auffassung, die Verurteilung Perinceks zu einer bedingten Geldstrafe und einer Busse erscheine unverhältnismässig, verkennt der EGMR wiederum das Schweizer Sanktionenrecht.
Eine Freiheitsstrafe droht Perincek nur, wenn er die Busse nicht zahlt oder rückfällig wird. Ausserdem mischt sich der EGMR appellatorisch-kleinlich in die Strafzumessung der zuständigen
Strafgerichte ein.
Schlussfolgerung - wenn der kriminalpolitische Schwanz mit dem menschenrechtlichen Hund wedelt:
Es sind keine juristischen Gründe ersichtlich, weshalb Schweizer Gerichte nicht weiterhin Art. 261bis Abs. 4 StGB anwenden und rassistische Straftäter wie Dogu Perincek konsequent bestrafen
sollten. Der demokratische Rechtsstaat hat im Gegenteil die grundrechtliche Verpflichtung,
menschenverachtenden öffentlichen Rassismus strafrechtlich zu verfolgen. Dies gilt auch für revisionistische
öffentliche Agitationen, die unter dem Deckmantel der «Meinungsäusserungsfreiheit» daherkommen und die wissenschaftlich belegten Tatsachen zu verbiegen suchen (vgl.
z.B. Forster, Habil., a.a.o., S. 161). Dass der EGMR das rassistische Leugnen von Völkermord demgegenüber unter
den Schutz der Menschenrechte stellen möchte, ist eine bedauerliche juristische Fehlleistung, die fast schon an Zynismus
grenzt. Die Analyse der Urteilsgründe lässt darauf schliessen, dass hier kriminalpolitische Überlegungen und Prägungen im Vordergrund standen und nicht echte Motive des Grundrechtsschutzes. Ein Weiterzug des Urteils an die Grosse Kammer des EGMR durch die Schweiz
drängt sich geradezu auf.
©
18.12.2013 / Prof. Dr. Marc Forster
Nachtrag: Im März 2014 hat der Bundesrat entschieden, das EGMR-Urteil an
die Grosse Kammer weiterzuziehen.
Di
02
Jul
2013
Fr
13
Jul
2012
Nachdem das Bundesgericht dazu grünes Licht gegeben hat, wurden
die Empfänger von Schmiergeldern in der Höhe
von 160 Millionen Franken an FIFA-Funktionäre durch die Staatsanwaltschaft Zug bekannt gegeben. Zwar vertritt die überwiegende Lehre (darunter Daniel Jositsch und Mark Pieth) die
Auffassung, dass die Wahrnehmung einer öffentlichen Aufgabe durch Private, selbst durch Funktionäre eines ökonomisch und politisch mächtigen privatrechtlichen Vereins wie die
FIFA, grundsätzlich nicht vom Korruptionsstrafrecht des
schweize-rischen StGB erfasst sei
(vgl. z.B. Fabian Steuri, Strafbarkeit und internationale Rechtshilfe in Korrup-tionsfällen - Unter
besonderer Berücksichtigung der Vergabe von Grossveranstaltungen durch internationale Sportverbände, Masterarbeit Universität St. Gallen, 2011, S. 37, 42). Dies ist jedoch aus kriminalpolitischen
Gründen (des Rechtsgüterschutzes und der Gleichbehandlung von strafwürdigem Verhalten) hoch problematisch und wird von diffusen wirtschafts-, standort-, sport- und fiskalpolitischen Motiven beeinflusst. Bei Olympiaden, Fussball-WM und -EM
usw. handelt es sich um politische, wirtschaftliche, soziale und sportkulturelle Grossanlässe von internationaler öffentlicher Bedeutung und Tragweite. Spitzenfunktionäre von IOC, FIFA, UEFA usw. haben enorme wirtschaftliche Macht und massiven politischen
Einfluss, vergleichbar nur mit
sehr hohen staatlichen Funktionären. Das IOC hat sogar Beobachterstatus bei der UNO. Es liesse sich durchaus die These vertreten, dass mit der Vergabe, Planung und Durchführung dieser
internationalen Grossanlässe (funktional und gesamtbetrachtend) eine staatliche Aufgabe wahrgenommen wird. Das in der Lehre eingebrachte Kriterium, für eine Anwendung des Korruptionsstrafrechts müsse zwangsläufig eine
offizielle Vergabe durch den
Staat an die privatrechtliche
Organisation erfolgen, erscheint künstlich bzw. als juristische "Hintertür". Das Kriterium lässt sich dogmatisch und mit der Teleologie des Korruptions-strafrechts jedenfalls nur schwer
begründen. Stossend sind denn auch diverse damit verbundenen Wider-sprüche, wonach die fraglichen Organisationen z.B. aus steuerrechtlicher Sicht privilegierten "öffentlichen Zwecken" dienen sollen, aus
strafrechtlicher Sicht hingegen nicht. Auch die
faktische Staatshaftung für die Veranstaltungskosten (Defizitgarantien usw.)
oder paradiplomatische
Privilegien sprechen für eine
staatliche Aufgabe. Die kriminalpolitisch unhaltbare Rechtslage ruft jedenfalls de lege ferenda nach rascher Korrektur.
Prof.
Dr. Marc Forster, 13. Juli 2012 ©
Di
16
Aug
2011
Bernard Bertossa kommentiert (in Semaine Judiciaire 2011 Bd. I S. 286 f.) den kürzlich publizierten BGE 137 IV 13: Der Haftgrund
der Wiederholungsgefahr (nach Art. 221 Abs. 1 lit. c der neuen StPO) verlangt unter ande- rem, dass der Beschuldigte "bereits
früher gleichartige Straftaten verübt" hat. Der Haftgrund der Ausführungsge- fahr (Art. 221 Abs. 2
StPO) setzt voraus, dass eine Per- son damit gedroht hat, ein schweres Verbrechen auszu- führen.
Das Bundesgericht hatte einen Fall zu beurteilen, wo dem Beschuldigten ein untersuchtes Tötungsdelikt zur Last gelegt wurde. Aufgrund des psychiatrischen Gutach- tens musste zwar befürchtet werden, dass
der Beschul- digte (weitere) schwere Delikte dieser Art verüben könn- te. Er hatte jedoch weder eine entsprechende "Drohung" geäussert, noch hatte er (über das erst zu untersuchen- de
Tötungsdelikt hinaus) bereits gleichartige Vortaten ver- übt. Aufgrund einer "systematisch-teleologischen" Ausle- gung (bzw. Gesetzeslückenfüllung) gelangte das Bundes- gericht zur Ansicht, dass
bei akut zu befürchtenden wei- teren Schwerverbrechen ausnahmsweise vom Vortaten-
erfordernis abgesehen werden könne.
Bernard
Bertossa scheint den Entscheid zu begrüssen ("on respire") und kritisiert (etwas sarkastisch) das vom Gesetzgeber eingeführte
Vortatenerfordernis bei schwe- ren Verbrechen. ("Il n'est pas certain que les victimes du troisième crime auraient apprécié!") Gleichzeitig will
Ber-
tossa die Ursache der verunglückten gesetzlichen Fas- sung ausfindig gemacht haben: - Die Zürcher... Was ihn übrigens nicht verwundere. ("Si on peine à comprendre de tels
égarements, on en connaît au moins l'origine. Sans surprise, c'est dans l'ancien code de procédure pé- nale du canton de Zurich que l'on trouve, au paragraphe 58 al. 1 ch. 3, une disposition de
même nature.")
Hier irrt Kollege Bertossa allerdings.
Vielleicht hatte er eine schon etwas ältere Ausgabe der Zürcher StPO zur Hand. Jedenfalls kannte schon die Zürcher StPO (seit 2005) bei
Schwerverbrechen den Haftgrund der soge- nannten qualifizierten
Wiederholungsgefahr (§ 58 Abs. 1 Ziff. 4), welche (im Gegensatz zur von Bertossa
zitierten einfachen Wiederholungsgefahr, § 58 Abs. 1 Ziff. 3) kei- ne
bereits verübten Vortaten voraussetzte (nachzule- sen z.B. in BGE 135 I 71 E. 2.4
S. 73). Der Eidgenössi- sche Gesetzgeber hat es versäumt, eine entsprechen- de
qualifizierte Wiederholungsgefahr als Haftgrund in der neuen StPO einzuführen. Um die stossendsten Folgen abzuwenden, sah sich das Bundesgericht zu delikaten Auslegungsmanövern gezwungen.
Soviel zur "Ehrenrettung der Zürcher". (Der Blogger ist Thurgauer.) Für den Eidgenössischen Gesetzgeber (und zwangsläufig für die Gerichte) sieht es weniger günstig aus: Leider ist
Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO noch in weiteren Teilen ziemlich verunglückt (mehr dazu in: Basler Kom- mentar StPO-Forster, Art. 221 N. 10-13, sowie im unten angefügten Aufsatz in der ZStrR/pdf,
downloadbar).
Prof. Dr. Marc Forster, 16. August 2011. ©
Zu den daraus resultierenden
politischen Vorstössen siehe aktuell (Sommer 2013) auch:
http://www.20min.ch/schweiz/news/story/Auch-gefaehrliche-Ersttaeter-sollen-kuenftig-in-U-Haft-16233974
–
Mo
22
Apr
2024
Wichtiger Haftgrund bei Schwerverbrechen, keine klare
gesetzliche Grundlage
Die 2011 in Kraft getretene Eidgenössische StPO wies bis vor Kurzem eine gravierende Lücke bei den strafprozessualen Haftgründen auf. Vor 2011 hatten diverse kantonale Strafprozessgesetze noch den Haftgrund der sogenannten «qualifizierten» Wiederholungsgefahr vorgesehen (z.B. § 58 Abs. 1 Ziffer 4 StPO/ZH): Im Gegensatz zur einfachen Wiederholungsgefahr (Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO) konnte danach bei drohenden schweren Gewaltverbrechen vom sogenannten Vortatenerfordernis abgesehen werden. Das heisst, es musste mit der Anordnung von Untersuchungshaft nicht abgewartet werden, bis neben dem «bloss» untersuchten Schwerverbrechen bereits gerichtliche Verurteilungen zu weiteren ähnlichen Delikten vorlagen. Dieser wichtige Haftgrund geriet beim Erlass der Eidgenössischen StPO (2011) in Vergessenheit. Möglicherweise hatte der Gesetzgeber damals fälschlich angenommen, dass der spezifische neue Haftgrund der Ausführungsgefahr (Art. 221 Abs. 2 StPO) auch alle bisherigen Fälle der qualifizierten Wiederholungsgefahr abdeckte.
Notstandsrechtliche Lückenfüllung durch das Bundesgericht
und Legalitätsprinzip
In seiner anschliessenden Rechtsprechung ist das Bundesgericht zum Schluss gekommen, dass es qualifizierte Haftfälle gibt, bei denen die Anordnung von Untersuchungshaft möglich sein muss, ohne dass bereits Verurteilungen zu schweren Gewaltdelikten vorliegen. In BGE 137 IV 13 hat das Bundesgericht auf eine entsprechende gravierende Gesetzeslücke hingewiesen. Das Bundesgericht hat erwogen, dass es «vernünftigerweise nicht in der Absicht der Legislative gelegen» haben könne, bei einem mutmasslich bereits verübten und erneut akut drohenden schweren Gewalt- oder Sexualverbrechen auf die Möglichkeit einer strafprozessualen Inhaftierung zu verzichten, nur weil der Beschuldigte nicht bereits früher schon wegen ähnlichen Schwerverbrechen gerichtlich verurteilt worden war (bestätigt in BGE 143 IV 9 E. 2.3.1).
In der Fachliteratur ist seit 2012 darauf hingewiesen worden, dass eine solche Abweichung vom Gesetzeswortlaut allerdings vor dem Hintergrund des Legalitätsprinzips (Art. 36 Abs. 1 BV) rechtsstaatlich hochproblematisch war und ein entsprechender neuer Haftgrund (wieder) ausdrücklich im Gesetz zu verankern sei (vgl. Marc Forster, ZStrR 2012, S. 341 f.). Im Dezember 2012 reichten daraufhin Isabelle Moret und Daniel Jositsch entsprechende parlamentarische Vorstösse ein. Im Juni 2023 hat das Parlament schliesslich eine Teilrevision der StPO verabschiedet, darunter einiger haftrechtlicher Bestimmungen. Unter anderem verankerte es neu den Haftgrund der «qualifizierten» Wiederholungsgefahr, Art. 221 Abs. 1bis StPO, im Gesetz. In der Bundesversammlung ist diesem Haftgrund kein Widerstand erwachsen. Die Bestimmung trat am 1. Januar 2024 in Kraft (vgl. zur Reformgeschichte Marc Forster, Basler Kommentar StPO, 4. Aufl. 2023, Art. 221 N. 15b).
Neuer Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr
Die gesetzliche Regelung in Art. 221 Abs. 1bis StPO ist wie folgt ausgestaltet: Lit. a setzt eine untersuchte qualifizierte Anlasstat voraus, nämlich den dringenden Verdacht, dass die beschuldigte Person durch ein Verbrechen oder ein schweres Vergehen die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer Person schwer beeinträchtigt hat. Das Vorliegen einer einschlägigen Vortat ist demgegenüber nicht erforderlich. Lit. b verlangt aber zusätzlich, als Prognoseelement, die ernsthafte und unmittelbare Gefahr, dass die beschuldigte Person ein gleichartiges, schweres Verbrechen verüben werde.
Leitentscheid des Bundesgerichtes zum neuen Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr
In seinem zur amtlichen Publikation bestimmten ersten Grundsatzurteil zu Art. 221 Abs. 1bis StPO, 7B_155/2024 vom 5. März 2024, hat das Bundesgericht einige Fragen zur Auslegung der neuen Bestimmung geklärt und insbesondere geprüft, ob sich gegenüber der bisherigen Rechtsprechung zum Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr eine Praxisänderung aufdrängen könnte:
Grad der Rückfallgefahr, «umgekehrte Proportionalität» gegenüber der Schwere der drohenden Verbrechen
Im vom Bundesgericht beurteilten Fall eines untersuchten vorsätzlichen Tötungsdeliktes hatte die Verteidigung die These vertreten, der neue Art. 221 Abs. 1bis lit. b StPO verlange eine «sehr ungünstige» Rückfallprognose. Der Umstand, dass das psychiatrische Gutachten beim Beschuldigten eine «bloss» mittelgradige Rückfallgefahr für neue schwere Gewaltverbrechen festgestellt habe, genüge nach neuem Recht nicht mehr. Dies ergebe sich aus dem gesetzlichen Erfordernis einer «ernsthaften und unmittelbaren Gefahr» neuer Schwerverbrechen. Diesbezüglich könne an der bisherigen einschlägigen Bundesgerichtspraxis nicht mehr festgehalten werden. Das Bundesgericht ist dieser Argumentation nicht gefolgt:
Es erwog Folgendes: Art. 221 Abs. 1bis lit. b StPO verlange als Prognoseelement die ernsthafte und unmittelbare Gefahr, dass die beschuldigte Person ein gleichartiges «schweres Verbrechen» verüben werde. Zwar sei in der bisherigen einschlägigen Bundesgerichtspraxis nicht wörtlich vom Erfordernis einer «ernsthaften und unmittelbaren» Gefahr (von neuen Schwerverbrechen) die Rede gewesen. Es habe in diesem Sinne aber schon altrechtlich eine restriktive Haftpraxis bestanden, indem das Bundesgericht ausdrücklich betont habe, qualifizierte Wiederholungsgefahr komme nur in Frage, wenn das Risiko von neuen Schwerverbrechen als «untragbar hoch» erscheint (BGE 143 IV 9 E. 2.3.1; 137 IV 13 E. 3 f.). Bei der konkreten Prognosestellung werde auch weiterhin dem Umstand Rechnung zu tragen sein, dass bei qualifizierter Wiederholungsgefahr Schwerverbrechen drohen. Bei einfacher und qualifizierter Wiederholungsgefahr sei von einer sogenannten «umgekehrten Proportionalität» zwischen Deliktsschwere und Eintretenswahrscheinlichkeit auszugehen (BGE 146 IV 136 E. 2.2; 143 IV 9 E. 2.8-2.10). Der kantonalen Vorinstanz sei darin zuzustimmen, dass bei ernsthaft drohenden schweren Gewaltverbrechen auch nach neuem Recht keine sehr hohe Eintretenswahrscheinlichkeit verlangt werden könne. Die richterliche Prognosebeurteilung habe sich dabei auf die konkreten Umstände des Einzelfalles zu stützen (BGE 7B_155/2024 vom 5. März 2024, E. 3.6.2).
Im beurteilten Fall stufte das Bundesgericht es als bundesrechtskonform ein, dass die Vorinstanz eine ausreichend erhebliche (ernsthafte und unmittelbare) Wahrscheinlichkeit für neue schwere Gewaltverbrechen bejahte. Das Obergericht habe dabei namentlich der im psychiatrischen Gutachten festgestellten «mittelgradigen» Rückfallgefahr Rechnung tragen dürfen, der gutachterlich diagnostizierten psychischen Auffälligkeit und Unberechenbarkeit des Beschuldigten, der besonderen (gewaltexzessiven) Brutalität des ihm zur Last gelegten Tötungsdeliktes, seiner auffälligen Vorliebe für Waffen, insbesondere Messer, Schlagstöcke und Elektroschockgeräte, der von ihm in Internet-Chats geäusserten weiteren Gewaltbereitschaft, seiner Affinität für sadistische Darstellungen von brutaler Gewalt oder auch den vom Obergericht dargelegten Anzeichen für eine massive Suchtmittelproblematik des Beschuldigten (BGE 7B_155/2024 vom 5. März 2024, E. 3.6.3).
Unmittelbare Sicherheitsgefährdung bei qualifizierter Wiederholungsgefahr
Weiter hatte die Verteidigung geltend gemacht, es fehle im beurteilten Haftfall an einer unmittelbaren Sicherheitsgefährdung durch die drohenden neuen Delikte. Bei der «Unmittelbarkeit» handle es sich um ein «neues gesetzliches Kriterium», das eine Praxisänderung erforderlich mache. Auch dieser Argumentation folgte das Bundesgericht nicht. Die in Art. 221 Abs. 1bis lit. a StPO genannten Anlasstaten, nämlich Verbrechen und schweren Vergehen, mit denen die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer Person schwer beeinträchtigt wird, würden vom Gesetzgeber bereits de lege als unmittelbar sicherheitsgefährdend eingestuft. Im Gegensatz zur einfachen Wiederholungsgefahr (Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO, neue Fassung ebenfalls in Kraft seit 1. Januar 2024) verlange der Wortlaut von Art. 221 Abs. 1bis lit. a StPO denn auch keine (zusätzliche) «unmittelbare Sicherheitsgefährdung» (BGE 7B_155/2024 vom 5. März 2024, E. 3.7).
22. April 2024 / © Prof. Dr. Marc Forster, RA
Do
02
Nov
2023
Die WHO treibt auf zwei Ebenen einen transnationalen Rechtsrahmen voran, zur Pandemiebekämpfung und zur Vorsorge gegenüber – breit und unklar definierten – "globalen Gesundheitsnotständen". Zum einen soll ein neuer WHO-Vertrag zur Pandemievorsorge abgeschlossen werden. Die Entscheidung, diesen neuen Vertrag auszuhandeln, wurde im Dezember 2021 auf der zweiten Sondersitzung der Weltgesundheitsversammlung (WHA) getroffen. Zweitens wird der bereits seit 2002 bestehende multilaterale Vertrag zur Regelung von "globalen Gesundheitsnotständen" überarbeitet. Der Beschluss, diesen Prozess einzuleiten, wurde von der WHA im Mai 2022 gefällt. Nach dem Fahrplan der WHO sollen diese neuen Rechtsgrundlagen von den Vertragsstaaten und WHO-Gremien im Mai 2024 bewilligt werden.
Diese folgenreiche Entwicklung des transnationalen Rechtsrahmens zur Bekämpfung von Pandemien und sogenannten "globalen Gesundheitsnotständen" stösst bei Expertinnen und Experten der Grundrechte und des Medizinrechts auf grosse Bedenken. Sie rufen dringend zu einer offenen Debatte auf. Zu hoffen ist, dass dieser offene faktenbasierte Diskurs nicht vom WHO-spezifischen organisierten "Pre-Bunking" unterdrückt und gestört werden wird (Zensur und Diskreditierung von unliebsamen, nach Meinung von WHO-Funktionären angeblich irreführenden Informationen in Medien und elektronischen Foren).
In der hier beigefügten Analyse der Global Health Responsibility Agency werden zusammengefasst folgende Tendenzen der WHO-Bestrebungen kritisiert ("Die Pandemiegesetzgebung der WHO: Besorgniserregende Verhandlungen von internationaler Tragweite, Oktober 2023, Autorin: Dr. Amrei Müller, © 2023 Global Health Responsibility Agency, S. 47 f.):
Erstens werden die besonderen Befugnisse der WHO, einen globalen Gesundheitsnotstand (PHEIC) auszurufen und "den Staaten medizinische und nicht-medizinische Gegenmassnahmen zu empfehlen, erheblich zunehmen".
Zweitens "werden in Zukunft über das geplante globale Bioüberwachungssystem große Mengen an biologischem Material- und Genomsequenzdaten gesammelt und ausgetauscht. Dies erhöht nicht nur die Wahrscheinlichkeit der Entdeckung neuer oder wiederauftretender Erreger mit (angeblichem) PHEIC-/Pandemiepotenzial, sondern schafft auch Anreize für hochgefährliche Gain of Function-Forschung".
Drittens "soll die präventive Forschung und Entwicklung zu Krankheitserregern mit PHEIC-/Pandemiepotenzial erheblich ausgeweitet werden, insbesondere die Forschung und Entwicklung von mRNA-basierten Impfstoffen".
Viertens "soll die rasche Notfallzulassung von PHEIC-/Pandemieprodukten im internationalen und regionalen Recht sowie in den nationalen Rechtsordnungen aller WHO-Mitgliedstaaten ermöglicht werden".
Fünftens "wird die WHO teilweise in eine Agentur umgewandelt, die die weltweite Produktion, Beschaffung und Verteilung von PHEIC-/Pandemieprodukten" leitet und koordiniert, "wobei die WHO-Mitgliedstaaten verpflichtet sein werden, ihre eigenen Produktions- und Verteilungsnetze für solche Produkte auf- und auszubauen".
Sechstens "wird ein biomedizinisches System für die Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs unter Verwendung digitaler Gesundheitspässe über weltweit interoperable Digitalplattformen aller Wahrscheinlichkeit nach Realität werden".
Siebtens "sollen die Staaten in ihre Gesundheitsinfrastruktur investieren, damit sie in der Lage sind, die von der WHO empfohlenen medizinischen und nicht-medizinischen PHEIC-Gegenmassnahmen, einschließlich Massenimpfkampagnen, durchzuführen". Dabei dürften "große Teile staatlicher Gesundheitsbudgets für die Prävention, Vorbereitung und Reaktion auf PHEIC/Pandemien ausgegeben werden" müssen, "besonders in Staaten mit geringem Einkommensniveau".
Achtens "wird das weltweite ‚Pre-Bunking‘ und ‚De-Bunking‘ – einschließlich direkter Zensur – von durch die WHO definierten Fehlinformationen oder Desinformationen über Erreger und Krankheiten, die einen PHEIC bzw. eine Pandemie verursachen, voraussichtlich erheblich zunehmen".
Die Verabschiedung und Umsetzung dieser von der WHO-Doktrin inspirierten Reformvorschläge, "wird daher wahrscheinlich
weltweit weitreichende negative Folgen für die Gesundheit und den Menschenrechtsschutz haben. Sie werden die Rechte und
Pflichten der Staaten aushöhlen, nationale Gesetze und Politiken im Gesundheitsbereich festzulegen und umzusetzen, die den
vorrangigen Gesundheitsbedürfnissen der Bevölkerung entsprechen und die Menschenrechte auf Gesundheit, Privatsphäre, Meinungsfreiheit, körperliche Unversehrtheit, Leben und Freiheit von Folter oder unmenschlicher oder
erniedrigender Behandlung respektieren und gewährleisten."
Ausserdem werden sie "die undurchsichtige Durchmischung des öffentlichen und privaten Sektors in internationalen Gesundheitsinstitutionen wie der WHO vorantreiben, indem sie philanthropischen Stiftungen, multinationalen Unternehmen und öffentlich-privaten Partnerschaften immer mehr Einfluss auf die globale Pandemiepolitik (und damit Macht) verleihen. Dies bringt nicht nur zusätzliche Interessenkonflikte für die WHO mit sich und erhöht die Möglichkeiten für Profitmacherei in PHEIC-/Pandemiesituationen durch diese privaten Akteure. Es führt auch zu einer weiteren Streuung der internationalen Verantwortlichkeiten und verhindert damit die Einrichtung wirksamer Rechenschaftsmechanismen für Schäden, die durch globale Pandemie-/PHEIC-Präventions- und Reaktionsprogramme verursacht werden. Die Reformen schaffen zudem Anreize für hochgefährliche Gain of Function-Forschung. Nicht zuletzt wird die Umsetzung dieser Reformen immense (öffentliche) Ressourcen benötigen".
Vor diesem Hintergrund ruft die Global Health Responsibility Agency dringend auf "zu einer offenen und umfassenden Debatte über die geplanten Änderungen des Vertrags zur Regelung von "globalen Gesundheitsnotständen" und zum geplanten neuen WHO-Pandemievertrag und ihre weitreichenden Auswirkungen in allen WHO-Mitgliedstaaten". Dies müsse "ein erster Schritt sein, um die besorgniserregenden Verhandlungen von internationaler Tragweite und ihre potenziell weitreichenden negativen Folgen für die menschliche Gesundheit und den Menschenrechtsschutz weltweit zu stoppen".
(Dokument hochgeladen von Prof. Dr.iur. Marc Forster/2.November 2023)
Do
07
Sep
2023
Strafbewehrte Impfobligatorien
Auf dem Höhepunkt der Corona-Epidemie haben vereinzelte Länder allgemeine oder partielle Impfobligatorien eingeführt, mit denen die Bevölkerung unter Strafdrohung zu Prophylaxe-Anstrengungen gegen die Lungenkrankheit Covid-19 bewegt werden sollte. In Europa hat Deutschland eine einrichtungsbezogene
Impfpflicht (Bundeswehr, Spitäler und Pflegeeinrichtungen) eingeführt, Österreich sogar ein generelles strafbewehrtes Impfobligatorium, Italien (das 2019/20 von
der Coronawelle besonders stark betroffen war) eine Impfpflicht für ältere Menschen ab 50 Jahren. Griechenland sah für über 60-jährige Ungeimpfte konfiskatorische
Dauerbussen von monatlich EUR 100.-- vor. In der Schweiz wurden Forderungen nach einem Corona-Impfobligatorium vor allem in den Medien erhoben. Die deutsche Bundesregierung hat sich noch im April 2022 (bereits unter der Dominanz der Omikron-Variante) vergeblich darum bemüht, ein allgemeines Impfobligatorium zu legiferieren; Österreich
hat seine allgemeine strafbewehrte Impfpflicht zunächst beschlossen und dann 2022 wieder sistiert.
Grundrechtliche Problematik
Bei aller berechtigter gesundheitspolitischer Besorgnis (teilweise begleitet von grosser medialer Aufregung) muss aus rechtsstaatlicher Warte bedacht werden, dass ein strafbewehrtes Corona-Impfobligatorium massive grundrechtliche Konsequenzen nach sich zöge. Die Menschen könnten nicht mehr frei wählen, welche Pharmaprodukte ihnen zu welchem Zweck in den Körper gespritzt werden; für die freie Ausübung ihrer diesbezüglichen elementaren Grundrechte würde ihnen sogar eine Bestrafung drohen. In Österreich z.B. waren massive kumulierbare Geldstrafen von mehreren tausend Euro vorgesehen. Ein solcher Schwersteingriff in die elementaren Grundrechte bedarf einer äusserst sorgfältigen juristischen Legitimationsprüfung und Interessenabwägung. Das muss besonders bei neuartigen Pharmaprodukten gelten, im vorliegenden Fall mRNA-Präparaten, die erst provisorisch und ohne klinische Doppelblindstudien zugelassen waren, bei denen noch wenig Erfahrungen betreffend immunologische Langzeitfolgen und unerwünschte Nebenwirkungen hatten gesammelt werden können und für deren massenweisen Einsatz die Produzenten auch noch jegliche Haftung ablehnten.
Interdisziplinäre Untersuchung an der Universität St.Gallen
Die Coronakrise hat die ganze Welt ab 2019 sehr massiv und unvorbereitet getroffen. Auch in der Schweiz hat sie die Justiz vor grosse Herausforderungen gestellt, die sie in unserem Land rasch und inhaltlich zumeist massvoll und überzeugend löste (vgl. dazu Marc Forster, Strafrecht, Justiz und Menschenrechte in Zeiten von Covid-19, SJZ 2020, S. 451 ff.). Demgegenüber hat sich die Rechtswissenschaft (im gesamten deutschsprachigen Raum) zur Problematik der Corona-Massnahmen nicht gerade mit "Lorbeeren" überhäuft. Als eine der (ziemlich überschaubaren) positiven Ausnahmen sei hier die pionierhafte Untersuchung von Silvia Behrendt/Amrei Müller genannt (auf: Jusletter vom 20. Dezember 2021 und 24. Januar 2022). Soeben ist auch ein Forschungsbeitrag der Universität St. Gallen erschienen, welcher aus rechtsmedizinisch-juristischer Perspektive die Grundrechtskonformität einer strafbewehrten Corona-Impfpflicht untersucht (Fabienne Gmünder, Masterarbeit Uni SG 2023). Interdisziplinäre Forschungsleiter waren der Rechtsmediziner Prof. Dr.med. Roland Hausmann und der Strafrechtler Prof. Dr.iur. Marc Forster.
Resultate
Die St.Galler Untersuchung unterscheidet zwischen den tatsächlichen Gegebenheiten unter der Dominanz der Delta-Variante des
SARS-CoV-2-Virus (mit ihren für den Krankheitsverlauf von Covid-19 ebenfalls besonders gefährlichen Vorläuferinnen bis ca. Herbst 2021) und der seither dominanten
Omikron-Variante. Aus juristisch-rechtsmedizinischer Sicht ist diese Differenzierung wichtig, da sich unter den Gesichtspunkten der Geeignetheit, Notwendigkeit und Zumutbarkeit
eines Impfobligatoriums diverse Parameter und Erkenntnisse verändert haben. Der Forschungsbeitrag kommt zum Schluss, dass ein
generelles Impfobligatorium selbst unter der Delta-Variante grundrechtswidrig (gewesen) wäre (MA S. 45 f., 55). Angesichts möglicher (wenn auch seltener)
schwerer Nebenwirkungen und "Impfschäden" und der deutlich selteneren schweren Krankheitsverläufe bei jungen Personen, wird eine strafbewehrte Impfpflicht für
junge Menschen als unverhältnismässig eingestuft (S. 46, 55). Unter dem Einfluss einer relativ gefährlichen Virusvariante (Delta und ähnliche)
wird hingegen ein partielles gesetzliches Impfobligatorium für professionelles Pflegepersonal, das in engem Körperkontakt mit betagten oder
gesundheitlich besonders vulnerablen Personen steht, für zumutbar und
vertretbar angesehen. Ebenso wird für gefährliche Varianten eine Impfpflicht für betagte Personen ins Auge gefasst. Allerdings räumt die Untersuchung ein, dass es
verfassungsrechtlich und kriminalpolitisch schwierig wäre, für den schweren grundrechtlichen Eingriff einer strafbewehrten Impfpflicht ein nichtdiskriminierendes
und sachlich überzeugendes Alters- und Vulnerabilitätskriterium festzulegen.
Eignung der "Impfung"
Zentral ist die juristische Prüfung der Verhältnismässigkeit eines (allgemeinen oder partiellen) Impfobligatoriums. Bei der Eignung der Massnahme ist zunächst zu untersuchen, welches gesetzgeberische Ziel mit einer mRNA-Impfung gegen Covid-19 realistischerweise erreichbar ist. Eine sterilisierende Impfung im engeren Sinne (wie etwa gegen Masern) ist im Falle des Coronavirus nicht möglich. Vielmehr schützt die Impfung (nur aber immerhin) vor schweren Verläufen und sie hemmt auch in gewissem Umfang die Übertragbarkeit des Virus. Im Fokus steht daher als realistisches Ziel die Vermeidung einer grossen Welle von schweren Erkrankungen mit der Folge einer drohenden Überlastung der Spitäler (vgl. MA S. 39). Gestützt auf die bisherigen medizinischen Forschungsresultate zur Wirksamkeit der mRNA-"Impfung" zeigt sich dabei folgendes Bild:
Der Impfstoff von Pfizer-BioNTech gegen SARS-CoV-2-Infektionen (und auch
spezifisch gegen Varianten) lässt bei vollständig geimpften Erwachsenen innerhalb von sechs Monaten nach. Tartof et al. stellten fest, dass die
Wirksamkeit gegen Nicht-Delta-Varianten einen Monat nach vollständiger Impfung bei 97% lag und nach fünf Monaten auf bis zu 67% abfiel. Für die
Delta-Variante belief sich die Wirksamkeit einen Monat nach vollständiger Impfung auf 93%, sank jedoch nach fünf Monaten auf 53%. In zahlreichen Studien wurde
nachgewiesen, dass Antikörper, die durch Impfungen hervorgerufen werden, insb. die jüngsten Virusvarianten weniger effektiv neutralisieren können. Eine US-amerikanische Studie von
Weinberger zeigt, dass die Wirksamkeit der mRNA-Impfstoffe gegen eine Infektion mit SARS-CoV-2 nach 8 Monaten von über 90% auf 70-80% abfällt; jedoch bleibt die
Wirksamkeit gegen Hospitalisierung nahezu konstant bei rund 90%. Personen, die mehr als sechs Monate zuvor zwei Dosen mRNA-Impfstoff erhalten haben, sind besser
gegen Delta als gegen Omikron geschützt, wobei die dritte Dosis die Schutzwirkung gegen Hospitalisierung auf 94% (Delta) bzw. 90% (Omikron) erhöht (vgl. MA S.
13).
Was die Nebenwirkungen des "Spikens" betrifft, hatte der Generaldirektor der
WHO noch in einer offiziellen Pressemitteilung vom 1. Dezember 2021 sämtliche Sicherheitsbedenken, die sich aus einer grossen Anzahl von Verdachtsmeldungen an die
Frühwarn-Datenbank VigiAccess über Nebenwirkungen nach der COVID-19-Impfung ergeben haben, mit Hinweis auf die hohen Impfraten rundweg zurückgewiesen. Demgegenüber hat SWISS-MEDIC in der
Zeitspanne vom 1. Januar 2021 bis zum 22. Februar 2023 Verdachtsmeldungen von unerwünschten Wirkungen der COVID-19-Impfungen in der Schweiz ausgewertet. Insgesamt wurden 16'855
Verdachtsfälle gemeldet, wobei 10'365 (61.5%) als nicht schwerwiegend und 6'490 Verdachtsfälle (38.5%) als
schwerwiegend eingestuft wurden. Verabreicht wurden in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein 16'981'243 Impfdosen. Daraus ergibt sich eine Melderate von 0.99 pro 1'000
verabreichten Dosen (MA S. 14 f.). Hier ist allerdings noch zusätzlich einer nicht unerheblichen Dunkelziffer Rechnung zu tragen. Jedenfalls erscheint es nicht ohne weiteres
garantiert, dass impfende Ärzte und Medizinalpersonal auch alle schweren Verdachtsfälle melden, zumal die damit verbundenen Haftungsfragen und
strafrechtlichen Probleme (etwa Fragen zur ausreichenden Aufklärung und zur rechtswirksamen Einwilligung) juristisch noch ungeklärt erscheinen.
Bedenklich wirkt sich aus juristischer Sicht aus, wenn vorher gesunde Menschen ohne schweres Covid-19-Erkrankungsrisiko erst nach einer behördlich empfohlenen oder gar gesetzlich obligatorischen Impfung schwerwiegend anderweitig erkranken. In den meisten skandinavischen Ländern wurde die Impfung von jungen Männern aufgrund zahlreicher Myokarditis-Verdachtsfälle ab Frühling 2021 sukzessive gestoppt. Weitere schwere (wenn auch seltene) Nebenwirkungen aus der medizinischen Praxis (wie z.B. Schlaganfälle, Gürtelrosen, allergische Schocks, Karzinom-Rezidive usw.) bilden noch Gegenstand von internationalen Untersuchungen.
Erforderlichkeit
Weiter untersucht der Forschungsbeitrag (unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit des Grundrechtseingriffes), welche medizinischen Notlage mit einem Impfobligatorium gebannt werden soll und ob dafür auch mildere Massnahmen ausreichen könnten. Die Virusvarianten bis Delta (dominant bis ca. Sommer 2021) brachten das Gesundheitssystem (2019-2020) nahe an seine Belastungsgrenzen. Seit Omikron (ca. Herbst 2021) haben sich die massgeblichen Fakten merklich verändert. Zum einen sind deutlich weniger schwere Verläufe zu verzeichnen, sodass wegen Covid-19 kein Gesundheitsnotstand in den Notfallstationen der Spitäler auftrat. Zum anderen sind auch die Behandlungsmöglichkeiten für schwere Erkrankungen unterdessen deutlich verbessert worden, zumal Erfahrungen gesammelt und medizinische Fortschritte erzielt werden konnten. Als mildere Massnahmen (im Vergleich zum Impfobligatorium) bieten sich – zumindest seit der Dominanz von Omikron – etwa ein Testobligatorium und ein Quarantäne-Obligatorium für positiv Getestete an, wie sie unter der Geltung der Covid-19-Gesetzgebung bereits vorübergehend zur Anwendung kamen (MA S. 42 f.).
Die St.Galler Untersuchung berücksichtigt auch Studien zur Impfbereitschaft der Bevölkerung. Das Vertrauen der Schweizerinnen und Schweizer in ihre Institutionen ist im internationalen Vergleich zwar generell hoch. Eine hohe Bereitschaft zur freiwilligen Corona-Impfung hängt aber, neben vertrauenswürdigen und wirksamen Impfstoffen, auch noch wesentlich davon ab, dass ausreichend und objektiv über die Vor- und Nachteile der Impfung informiert wird. Nicht nur in der Schweiz haben die verantwortlichen Behörden nur sehr spärlich und vage über potenzielle Nebenwirkungen informiert, auch als bereits bekannt war, dass Corona-Impfungen zu schweren Nebenwirkungen führen können. Laut einer dänischen Studie kann eine transparente Kommunikation, die auch negative Aspekte nennt, zwar die Akzeptanz der Impfung etwas schmälern, jedoch stärkt sie gleichzeitig das Vertrauen in die Gesundheitsbehörden und wirkt der Verbreitung von sogenannten "Verschwörungstheorien" entgegen. Fraglich erscheint, ob es überhaupt zielführend sein kann, mittels massivem indirektem Zwang (bis hin zum Ausschluss vom kulturellen und sozialen Leben) bzw. unter Androhung von Bussen oder anderen Nachteilen die Willensfreiheit der Bevölkerung bei der Frage von Impfungen beeinflussen zu wollen (MA S. 16 f., mit Hinweisen auf Hehli und Vokinger/Rohner).
Zumutbarkeit
Als entscheidend für die Frage der grundrechtlichen Zulässigkeit eines Impfobligatoriums erweist sich das Kriterium der Zumutbarkeit (sog. "Zweck-/Mittel-Relation" bzw. Verhältnismässigkeit im engeren Sinne). Zunächst ist zu prüfen, in welches Grundrecht eingegriffen wird: Die medizinische Selbstbestimmung und das Recht, selber entscheiden zu dürfen, welche Substanz man wann in den Körper gespritzt erhält, gehört zum Kernbereich der Menschenrechte. Ein Impfobligatorium greift aber nicht nur in die körperliche sondern auch in die geistige Unversehrtheit des Menschen ein; sie umfasst das Recht, Situationen eigenständig zu bewerten und in Übereinstimmung mit dieser Bewertung zu handeln (MA S. 20, u.a. mit Hinweis auf Zeder). Die Durchführung einer Impfung ist nur dann gestattet, wenn zuvor eine ausführliche Aufklärung des Impflings erfolgt ist und dieser daraufhin seine Zustimmung zur Durchführung der Impfung erteilt hat (MA S. 21). Dabei ist auch auf mögliche Nebenwirkungen einer Impfung hinzuweisen. Nach herrschender Lehre und Praxis läge ohne eine solche Einwilligung in einen invasiv-medizinischen Eingriff (sog. "informed consent") sogar – per se – eine strafbare Körperverletzung vor.
Besonders heikel wirkt sich vor diesem grundrechtlichen Hintergrund sogenannter indirekter staatlicher Zwang aus. Dazu gehörten der zeitweise komplette Ausschluss von Nichtgeimpften – selbst mit negativen Corona-Tests – vom sozialen und kulturellen Leben (etwa Bibliotheken, Theater, Fitnesszentren, Schwimmbäder, Gottesdienste, Kinos, Restaurants, Bars oder Diskotheken). In Deutschland wurde 2G sogar an einigen Hochschulen eingeführt. Dass die Studierenden an Freiburger (Ue./Schweiz) Hochschulen die Testkosten (mit monatelangen Tests als Zulassungsvoraussetzung) selber bezahlen mussten, hat das Bundesgericht als verfassungswidrig eingestuft. Die St.Galler Untersuchung äussert auch Kritik an den vom Bundesrat im Dezember 2021 eingeführten 2G-Regeln. Im Klartext bedeutete 2G, dass infizierte und kranke (aber "geimpfte") Personen ungehindert und ohne Tests Diskotheken, Bars und Gottesdienste besuchen konnten, während mit grosser Wahrscheinlichkeit gesunde (negativ auf das Coronavirus getestete) Ungeimpfte ausgeschlossen wurden. Diese kontraproduktive (wenn nicht gar gefährliche) Regelung wurde zwar im Namen einer angeblichen "Epidemiebekämpfung" erlassen; ihr erkennbarer Zweck erschöpfte sich jedoch in der zusätzlichen Verschärfung des gesellschaftlichen Drucks auf Ungeimpfte bzw. in deren sozialer Stigmatisierung.
Beim Kriterium der (partiellen) Zumutbarkeit einer strafbewehrten Impfpflicht ist zu unterscheiden, welche Bevölkerungsgruppen zu dem medizinisch-gesellschaftlichen Notstand, der durch mRNA-Impfungen realistischerweise vermieden werden soll, besonders stark beitragen. Primär sind dies betagte und gesundheitlich vulnerable Menschen. Gleichzeitig profitieren diese (statistisch gesehen) aber auch individuell mehr vom Impfschutz, da sie ohne Impfung besonders stark von schweren Krankheitsverläufen betroffen sind (MA S. 42). Kinder und junge Menschen hingegen haben im Durchschnitt deutlich weniger schwere Krankheitsverläufe. Hinzu kommt noch, dass bei jungen Menschen statistisch auffällig viele erhebliche Nebenwirkungen auftreten, weshalb (etwa ab Frühling 2021) die Corona-Durchimpfung junger Menschen in Skandinavien praktisch eingestellt wurde. Das Verhältnis zwischen Nutzen und Risiko wird für Junge auch noch dadurch verschlechtert, dass erstens (in eher seltenen Einzelfällen) sogar schwere Impfschäden auftreten können (MA S. 42) und zweitens die noch nicht ausreichend erforschten Langzeitwirkungen für Junge eine grössere Bedeutung haben als für betagte Menschen.
Fazit
So sehr eine vorsichtige und restriktive Pandemiepolitik im Zeitraum 2020-21 grundsätzliches Verständnis verdient hat, müssen
massiver indirekter Impfzwang, behördlich-mediale Desinformationen, fragwürdige 2G-Regelungen und strafbewehrte
Impfobligatorien (ab ca. Herbst 2021) aus rechtsmedizinischer und rechtswissenschafticher Warte kritisch analysiert und bewertet werden. Den
Grundrechten ist auch – und gerade – in "pandemisch-phobischen Zeiten" Nachachtung zu verschaffen. Als mühsam erkämpfte zivilisatorische Errungenschaften sind
sie zu wertvoll, um auf Worthülsen einer "Schönwetterpolitik" und wohlklingende Stichworte für Festreden reduziert zu werden (kritisch zum diesbezüglichen Grundrechtsrelativismus in einer phobisch mediatisierten Gesellschaft s. Marc Forster, Kriminalpolitik und
Kriminalpraxis vor alten und neuen Herausforderungen, in: Genillod et al. [Hrsg.], SAK-Tagung Interlaken 2021, Bd. 39, Basel 2022, S. 3 ff., 12 f.).
© Prof. Dr. Marc Forster / 7. September 2023
Do
23
Mär
2023
Am 1. Januar 2024 wird das revidierte Entsiegelungsrecht in Kraft treten (nArt. 248-248a StPO; im Parlament verabschiedet am 17. Juni 2022, vgl. BBl 2022 1560, S. 8 f.). Das Kernproblem des bisherigen Rechts bildeten die lange Verfahrensdauer bzw. das Missbrauchspotential für Verfahrensverschleppungen. Zur Beschleunigung der Entsiegelungsverfahren sollen künftig insbesondere die restriktivere Definition der siegelungsfähigen Aufzeichnungen und Gegenstände sowie Vorschriften zur Straffung des Verfahrens beitragen.
Mit der Ausdehnung der Siegelungsberechtigung und der Verfahrensteilnahme auf Drittpersonen, welche nicht Inhaberinnen der sichergestellten Aufzeichnungen und Gegenstände sind, aber eigene geschützte Geheimnisrechte (aufgrund von Art. 264 Abs. 1 StPO) anrufen können, wird die betreffende Praxis des Bundesgerichtes in der StPO verankert. Als Beispiel sei der Fall eines Arztes genannt, in dessen Praxis Patientenunterlagen sichergestellt werden.
Nach der neuen Regelung kann primär der Arzt als Inhaber der Aufzeichnungen und Träger des Berufsgeheimnisses die Siegelung beantragen (nArt. 248 Abs. 1 Satz 1 StPO). Da für die Staatsanwaltschaft (StA) aber erkennbar ist, dass hier eigene höchstpersönliche, intime Geheimnisse die mitbetroffenen Patientinnen und Patienten tangiert sind, hat die StA diesen als berechtigten Personen ebenfalls Gelegenheit zu geben, die Siegelung zu verlangen (nArt. 248 Abs. 2 StPO). Dies muss zumindest dann gelten, wenn der Arzt selber kein Siegelungs-begehren gestellt hat. Soweit die Patienten entsprechende eigene Geheimnis-rechte (Arzt- und Patientengeheimnis) geltend machen, sind sie als berechtigte Personen zu behandeln und im Entsiegelungsverfahren als Parteien beizuziehen (nArt. 248a Abs. 3 und Abs. 5 StPO). Falls erst das Entsiegelungsgericht erkennt, dass hier neben dem Arzt (als Inhaber) auch die Patienten selbstständig berechtigt sind, so sind Letztere über das Siegelungsbegehren des Arztes zu informieren (nArt. 248a Abs. 2 StPO) und als berechtigte Personen ins Verfahren beizuziehen.
Gemäss der klaren Regelung von nArt. 248 Abs. 2 StPO hat die StA auch den eigenständig berechtigten Drittpersonen, im Beispiel also den mitbetroffenen Patientinnen und Patienten, Gelegenheit zu geben, die Siegelung zu verlangen. Selbst wenn erst das Entsiegelungsgericht erkennt, dass sie (betreffend Patien-tengeheimnisse) berechtigt sind, müssen sie noch nachträglich zum Entsiegelungsverfahren beigezogen werden (nArt. 248a Abs. 2-5 StPO). Es fragt sich, ob dieser selbstständige Rechtsschutz auch für Klienten von Anwälten gelten muss. Nach der im hier vertretenen Auffassung ist dies jedenfalls dann zu bejahen, wenn der Anwalt als Inhaber kein Siegelungsbegehren gestellt hat. Die mitbetroffenen Klienten können eigene Interessen an der Wahrung des Anwaltsgeheimnisses haben (die den Anwalt nicht tangieren). Sofern der Anwalt ein Siegelungs-begehren stellt, ist er als Inhaber an den bei ihm sichergestellten Aufzeichnungen "berechtigt" und kann auch die Interessen seiner Klientschaft wahren. Da die neue Regelung diesbezüglich die bisherige Praxis des Bundesgerichtes abbildet, ist daraus keine spürbare Beschleunigung und Vereinfachung des Verfahrens zu erwarten.
Auch die dreitägige Frist für das Siegelungsbegehren des Inhabers oder der Inhaberin (nArt. 248 Abs. 1 Satz 2 StPO) trägt nur wenig zur gesetzgeberisch angestrebten Verfahrensbeschleunigung bei. Schon nach der bisherigen Rechtsprechung war das Siegelungsbegehren grundsätzlich innert wenigen Tagen zu stellen.
Von erheblicher (normativer) Bedeutung ist die vom Parlament bewusst vorgenommene Einschränkung der möglichen Siegelungsgründe und Durchsuchungshindernisse. Der Siegelung – und damit einem möglichen Durchsuchungs-hindernis im Verfahren nach nArt. 248 f. StPO – unterliegen nach der im Parla-ment verabschiedeten Fassung nur noch Aufzeichnungen oder Gegenstände, die "aufgrund von Art. 264 StPO nicht beschlagnahmt" werden dürfen. Einer Entsiegelung und Durchsuchung können somit künftig nur noch die (allgemeinen) gesetzlichen Zwangsmassnahmenhindernisse von Art. 197 StPO in Verbindung mit einem besonderen Beschlagnahmehindernis gemäss Art. 264 Abs. 1 StPO entgegen stehen. Zwar wurde diese Einschränkung der gesetzlichen Siegelungs-gründe im Gesetzgebungsverfahren ausführlich diskutiert (vgl. Botschaft 2019, S. 6750 f.; Votum BR Keller-Sutter, AB NR 2021 S. 618) und in der Literatur teilweise kritisiert. Der Gesetzgeber hat sich jedoch in Kenntnis dieser Einwände und Gegenvorschläge für die restriktive Lösung (gemäss Expertengruppe NR 2021) entschieden.
Zeugnis- und Aussageverweigerungsrechte ausserhalb der Berufs- und Amtsgeheimnisse nach Art. 264 Abs. 1 lit. a und c-d StPO bilden somit künftig keine möglichen Entsiegelungshindernisse mehr. Das gilt etwa für alle Zeugnis- und Aussageverweigerungsrechte ausserhalb von Art. 170-173 StPO, nämlich solche aufgrund persönlicher Beziehungen gemäss Art. 168 f. StPO, für den nemo tenetur-Grundsatz (Art. 113 Abs. 1 StPO), das Bankkundengeheimnis oder für allgemeine Geschäfts- und Fabrikationsgeheimnisse. Falls kein Siegelungsgrund (geschütztes Geheimnisinteresse) nach Art. 264 Abs. 1 StPO angerufen werden kann, bildet auch der akzessorische Einwand der Untersuchungsrelevanz bzw. der fehlenden Verhältnismässigkeit (Art. 197 Abs. 1 lit. c StPO) kein Entsiegelungs-hindernis. Das Entsiegelungsverfahren dient nicht der allgemeinen Prüfung der der Verhältnismässigkeit von Zwangsmassnahmen, sondern dem Geheimnis-schutz im Hinblick auf die Durchsuchung von Aufzeichnungen und Datenträgern (Art. 246 StPO). Dies gilt schon nach der ständigen bisherigen Praxis des Bundesgerichtes. Die allgemeinen Zwangsmassnahmen-voraussetzungen von Art. 197 StPO sind folglich nur bei Substanziierung von gesetzlich geschützten Geheimnissen (zusätzlich) zu prüfen. Auf ein Entsiegelungsgesuch ist hingegen (mangels gültigem Siegelungsbegehren) nicht einzutreten, falls keine gesetzlich geschützten Geheimnisrechte wenigstens kursorisch angerufen wurden. Falls sich erst nach Substanziierung und näherer Prüfung im Entsiegelungsverfahren ergibt, dass keine Geheimnisse gemäss Art. 264 Abs. 1 StPO tangiert sind, ist das Entsiegelungsgesuch gutzuheissen.
Auch hier sind die praktischen Auswirkungen der Revision eher gering, da schon nach bisheriger Rechtsprechung die primären Entsiegelungshindernisse von Art. 197 Abs. 1 i.V.m. Art. 264 Abs. 1 StPO stark im Vordergrund standen. Weder das Bankkundengeheimnis (BankG, mit Vorbehalt der strafrechtlichen Beweiserhe-bung) noch der nemo tenetur-Grundsatz (mit Einschränkung in Art. 113 Abs. 1 Satz 3 StPO) wurden in der Praxis als Entsiegelungshindernisse anerkannt. Neben den besonderen gesetzlichen Zeugnis- und Aussageverweigerungsrechten (Berufs- und Amtsgeheimnisse) nach Art. 264 Abs. 1 lit. a und c-d StPO verbleiben somit praktisch nur noch für den Persönlichkeitsschutz relevante Privat-geheimnisse, nämlich persönliche Aufzeichnungen und Korrespondenz der beschuldigten Person, als möglicher Siegelungsgrund (Art. 264 Abs. 1 lit. b StPO). Diese Privatgeheimnisse sind allerdings noch gegenüber dem jeweiligen Strafver-folgungsinteresse abzuwägen.
Gestützt auf den Entwurf 2019 und den Vorschlag der Rechtskommission des Nationalrates (2021) wird das Zwangsmassnahmengericht neu auch im erstin-stanzlichen Gerichtsverfahren für Entsiegelungen zuständig sein. Zwar erscheint es inkonsequent, dass im Berufungsverfahren (nArt. 248a Abs. 1 lit. b StPO spricht etwas erratisch von "den anderen Verfahren") die Verfahrensleitung des Berufungsgerichts zuständig bleibt. Die betreffende Kritik in Teilen der Literatur ist allerdings in die Revision nicht eingeflossen.
Grössere Auswirkungen auf die Beschleunigung und Verfahrensstraffung wird nArt. 248a StPO nach sich ziehen. Absatz 3 der Bestimmung sieht vor, dass die berechtigte Person schriftliche "Einwände gegen das Entsiegelungsgesuch" innert einer nicht erstreckbaren (gesetzlichen) Frist von 10 Tagen vorzubringen hat. Da in der bisherigen Praxis solche Fristen oft mehrmals und über mehrere Wochen und Monate hinweg richterlich erstreckt wurden, trägt diese neue Bestimmung zur Beschleunigung bei. Analoges gilt grundsätzlich auch für die gesetzliche Entscheidungsfrist von ebenfalls 10 Tagen (nach Eingang der Stellungnahme) in "spruchreifen" Fällen (Abs. 4), das heisst, wenn keine richterliche Triage der gesiegelten Aufzeichnungen nötig ist und auch sonst kein zwingender sachlicher Grund für eine mündliche Entsiegelungsverhandlung vorliegt. Bei solchen Entscheidungsfristen stellt sich allerdings regelmässig die Frage nach deren blossem Ordnungscharakter bzw. nach den Folgen einer Missachtung der Frist, insbesondere in sachlich begründeten Fällen. Analog zu den Entscheidungsfristen bei Haftverfahren wird eine sachlich begründete und massvolle Überschreitung der Frist nicht ohne weiteres zur Rückgabe der gesiegelten Aufzeichnungen an die Inhaber führen.
Die weiteren Fristvorschriften (von nArt. 248a Abs. 5 StPO) betreffend Durch-führung einer Entsiegelungsverhandlung innert 30 Tagen (nach Eingang der Stellungnahme in nicht "spruchreifen" Fällen) und den "unverzüglichen" Entsie-gelungsentscheid (nach durchgeführter Verhandlung) werden die erstinstanz-lichen Verfahren in der Regel ebenfalls deutlich beschleunigen. Auch die 30-Tages-Frist und die Vorschrift eines "unverzüglichen" Entscheides (innert Tagen bis wenigen Wochen) dürften allerdings blossen Ordnungscharakter in dem Sinne haben, dass ihre Missachtung bzw. massvolle Überschreitung in sachlich begrün-deten Fällen nicht (per se) zur Rückgabe der gesiegelten Aufzeichnungen führt.
In einem neuen Forschungsbeitrag der Universität St. Gallen wird der Reformweg des Entsiegelungsrechts analysiert, vom Vorentwurf 2017 der Expertengruppe BJ, über den darauf gestützten Entwurf des Bundesrates (2019) und die Änderungsvorschläge der Rechtskommission des Nationalrates (2021) bis zur Schlussabstimmung der Räte am 17. Juni 2022 (vgl. Andrina Singenberger, Probleme des Entsiegelungsrechts im Lichte der Revision StPO, Masterarbeit Uni SG, November 2022, S. 37 f.). Dabei werden die bisherige Rechtslage, Kritik und Revisionsvorschläge der Fachliteratur sowie die erfolgte Reform einer kritischen Würdigung unterzogen (vgl. dazu MA S. 36-60).
© Prof. Dr. Marc Forster, RA / 23. März 2023
Nachtrag:
Beschwerde ans Bundesgericht in Entsiegelungssachen auch nach neuem Recht (nArt. 248a StPO, nArt. 80 Abs. 2 BGG):
Wegen einer irrtümlichen Äusserung in einem Teil der Materialien ist in Fachkreisen die Frage aufgeworfen worden, ob nach Inkrafttraten der neuen StPO weiterhin die Beschwerde an das Bundesgericht gegen Entsiegelungs-entscheide der Zwangsmassnahmengerichte zulässig ist. Die Frage ist eindeutig zu bejahen:
Herr B. Stadelmann (Bundesamt für Justiz) äusserte sich anlässlich der Sitzung der nationalrätlichen Kommission für Rechtsfragen vom 8./9. Oktober 2020 missverständlich ("ein Verzicht auf das Prinzip der "double instance" - was bedeutet, dass ein Entsiegelungsentscheid des Zwangsmassnahmengerichts endgültig ist und nicht an das Bundesgericht weitergezogen werden kann"). Der Irrtum wurde in den Beratungen der Bundesversammlung leider teilweise kolportiert (Votum von Frau NRin C. Markwalder).
Die betreffenden Äusserungen beruhen auf einem juristischen Missverständnis. Die "double instance" nach Art. 80 Abs. 2 Satz 3 BGG
bezieht sich auf den kantonalen Instanzenzug. Schon nach jetzigem Recht sagt das Gesetz, dass es keine kantonale Beschwerdeinstanz braucht und die direkte Beschwerde ans BGer
zulässig ist, wenn das ZMG "als einzige kantonale Instanz entscheidet". Die neue Fassung (nArt. 80 Abs. 2 BGG) spricht von "letzten kantonalen Instanzen" und sieht weitherhin
vor, dass es (ausnahmsweise) keine kantonale Rechtsmittelinstanz braucht, wenn kantonale Instanzen "nach der Strafprozessordnung als einzige kantonale Instanz entscheiden". Das
trifft auf Entsiegelungsentscheide des ZMG auch nach neuem Recht weiterhin zu (nArt. 248a Abs. 4 StPO: "endgültig").
Damit hat sich für den Weiterzug von Entsiegelungsentscheiden des ZMG an das BGer nach neuem BGG nichts geändert. Auch aus den Materialien ergibt sich im Gesamtkontext deutlich, dass das
Parlament beim Entsiegelungsrecht den bisherigen Instanzenzug vom ZMG an das BGer beibehalten wollte. In früheren Entwürfen (VE 2017, Entwurf 2019) war sogar noch vorgeschlagen
worden, zusätzlich den doppelten kantonalen Instanzenzug vorzuschreiben, um das BGer indirekt etwas zu entlasten. Die Beschwerde ans BGer abzuschaffen, war hingegen nie
vorgesehen. Die Aussage, wonach ein "Verzicht auf die double Instance" bedeute, "dass ein Entscheid des ZMG endgültig" sei "und nicht an das BGer weitergezogen werden" könne, ist juristisch
falsch und verkennt das Prinzip der double instance. Dieses bezieht sich auf den kantonalen Instanzenzug. Wenn im Sinne von nArt. 80 Abs. 2 BGG und nArt. 248a StPO auf die double instance
verzichtet wird, fällt nicht die BGG-Beschwerde ans BGer dahin, sondern die StPO-Beschwerde an eine kantonale Beschwerdeinstanz. Diese Rechtslage bestand schon nach bisherigem Recht und wird auch
nach neuem Recht so bleiben. Alles andere widerspräche dem klaren Wortlaut des Gesetzes, der BGer-Praxis und den Materialien.
© Prof. Dr. Marc Forster, RA / 21. April 2023
Do
20
Okt
2022
Am 6.10.2022 ist die Referendumsfrist gegen die Revision der Eidg. Strafprozessordnung unbenutzt abgelaufen. Von der Öffentlichkeit und den Medien fast unbemerkt, hat das Parlament am 17.6.2022 den umstrittenen und äusserst knapp ausgefallenen Entscheid gefällt, das bisherige Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft gegen die Haftentlassung von hochgefährlichen oder stark fluchtgefährdeten Beschuldigten abzuschaffen (BBl 2022 1560, 7). Nur noch die beschuldigte Person wird (ab Inkrafttreten der neuen Bestimmungen) die Anordnung oder Verlängerung von Untersuchungs- und Sicherheitshaft anfechten können.
Bisherige Rechtslage und Praxis
Die Strafprozessordnung sieht in Art. 222 gegen die Anordnung, Verlängerung und Aufhebung von Untersuchungs- oder Sicherheitshaft eine Beschwerdemöglichkeit der verhafteten Person vor. Zur Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft sprach sich Art. 222 StPO bisher nicht aus. Diese ergibt sich allerdings klar aus Art. 111 Abs. 1 i.V.m. Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 BGG. Das Bundesgericht interpretierte daher Art. 222 StPO von 2011 bis heute nicht als «qualifiziertes Schweigen» des Gesetzgebers und bejahte eine Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft (BGE 147 IV 123, 124 f. E. 2.2; 138 IV 92, 94 E. 1.1; 137 IV 22, 23 E. 1.2–1.4; 137 IV 87, 89 E. 3; 137 IV 230, 232 E. 1; 137 IV 237, 240 E. 1.2; 137 IV 340, 345 E. 2.3.2. vgl. Forster, Jusletter 26.3.2018, N 2–19; Micheroli/Tag, Jusletter 16.5.2022, N 11–51). Auch nach Erlass des neuen Art. 222 StPO am 17.6.2022 hat das Bundesgericht – bis zum künftigen Inkrafttreten der Revision – an seiner bisherigen Rechtsprechung festgehalten (vgl. z.B. Bundesgerichtsurteil 1B_441/2022 vom 13.9.2022, E. 2).
Ein fragwürdiger kriminalpolitischer Zufallsentscheid
Mit der StPO-Teilrevision vom 17.6.2022 beschränkt der Gesetzgeber das Haft-Beschwerderecht nach Art. 222 StPO nun «einzig» auf die inhaftierte Person. Folglich strich er auch die sich aus Art. 111 Abs. 1 i.V.m. Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 BGG ergebende Legitimation aus dem Gesetz (BBl 2022 1560, 17). Dieser Abschaffung des Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft war ein heftiges kriminalpolitisches Tauziehen im Parlament vorausgegangen: Sowohl der Vorentwurf (2017) als auch der Entwurf (2019) des Bundesrates sahen noch eine ausdrückliche Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft vor (Botschaft, BBl 2019, 6794; vgl. Forster, Jusletter 2018, N 14; Micheroli/Tag, Jusletter 2022, N 4 f.). Die Rechtskommission des Nationalrates hat mit einer hauchdünnen Zufallsmehrheit (13:12) eine Abschaffung des Haft-Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft – sowohl nach StPO als auch nach Bundesgerichtsgesetz – vorgeschlagen. Der Nationalrat ist diesem Vorschlag (als Erstrat) am 18.3.2021 gefolgt, mit dem ebenfalls sehr engen Resultat von 98:89 Stimmen (AB 2021 N 613 f.; vgl. Micheroli/Tag, Jusletter 2022, N 6–8). Der Ständerat folgte dem Nationalrat am 14.12.2021 nicht. Die «Chambre de réflexion» wollte das Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft beibehalten (AB 2021 S 1361 f., 1370, 1372; vgl. Micheroli/Tag, Jusletter 2022, N 9). Im Rahmen der Differenzbereinigung (ab 14.1.2022) und anlässlich seiner zweiten Beratung am 2.3.2022 hielt der Nationalrat aber an seinem Entscheid fest (AB 2022 N 75; vgl. Micheroli/Tag, Jusletter 2022, N 10). Bei der Schlussabstimmung vom 17.6.2022 wurde der Vorschlag des Nationalrats von der Bundesversammlung angenommen.
Systemwidrigkeiten und Risiken
Welchen Risiken die sehr knappe Parlamentsmehrheit damit die Bürgerinnen und Bürger aussetzt, wird künftig die Praxis zeigen müssen (vgl. dazu Forster, Jusletter 26.3.2018, N 1–13; Micheroli/Tag, Jusletter 16.5.2022, N 11–51). Der in der Revision von 2022 erfolgte Ausschluss der Staatsanwaltschaft von der StPO-Haftbeschwerde ist im Übrigen mehrfach systemwidrig: Sogar in der Verwaltungs-Strafrechtspflege ist die Untersuchungsbehörde zur Haftbeschwerde ausdrücklich legitimiert (Art. 51 Abs. 6 VStrR; vgl. Basler Kommentar VStrR [2020]-Graf, Art. 51 N 98–104). Nur schwer einzusehen ist sodann, weshalb die Staatsanwaltschaft gemäss Art. 231 Abs. 2 lit. b StPO beantragen kann, Haftentlassungen – ausgerechnet – des erkennenden erstinstanzlichen Strafgerichtes korrigieren zu lassen (durch die Verfahrensleitung des Berufungsgerichtes), während Haftentlassungen der Zwangsmassnahmengerichte für die Staatsanwaltschaft (nach Art. 222 StPO) unanfechtbar sein sollen. Angesichts der ebenfalls ablehnenden Haltungen der Expertengruppe (VE), des Bundesrates, des Bundesgerichtes und des Ständerates haben faktisch eine Stimme Mehrheit in der Rechtskommission des Nationalrates bzw. 9 Stimmen Mehrheit im (anwaltlich dominierten) Nationalrat zu diesem fragwürdigen kriminalpolitischen Ergebnis geführt.
20. Oktober 2022 / © Prof. Dr. Marc Forster, RA
Fr
06
Mai
2022
Die Ausführungsgefahr ist ein hoch interessanter und kriminalpolitisch umstrittener Haftgrund. Viele Verteidiger und gewisse Hochschuldozierende
monieren, dass es sich um Präventivhaft handle, die eher ins Polizeirecht (präventive Gefahrenabwehr) gehöre als ins Strafprozessrecht (repressive Untersuchung
und Verfolgung von Straftaten). Die Praktiker der Strafjustiz weisen darauf hin, dass der Haftgrund zwar eher selten zur Anwendung gelangt, in der Praxis jedoch unverzichtbar
erscheint.
-- Wie sind die gesetzlichen Haftgründe konzipiert und inwiefern stellt Haft wegen Ausführungsgefahr (Art. 221 Abs. 2 StPO)
Präventivhaft dar?
Ein Blick auf Art. 221 StPO zeigt, dass alle anderen gesetzlichen Haftgründe von Abs. 1 neben einem sogenannten "besonderen" Haftgrund
(Flucht-, Kollusions- und Wiederholungsgefahr, lit. a-c) zusätzlich den dringenden Tatverdacht eines bereits begangenen Verbrechens oder Vergehens voraussetzen. Man spricht hier
auch vom "allgemeinen" Haftgrund des dringenden Tatverdachts, der in den Fällen von Abs. 1 immer vorliegen muss. Die Ausführungsgefahr in Abs. 2 ist demgegenüber ein
selbstständiger Haftgrund, der keinen dringenden Tatverdacht eines bereits verübten Deliktes (notwendigerweise) voraussetzt. In den Fällen von Abs. 2 kann somit Haft zulässig sein,
obwohl in strafrechtlicher Hinsicht noch "nichts passiert" ist, das bereits untersucht werden könnte. Das Gesetz drückt sich in Abs. 2 dementsprechend anders aus als in Abs. 1: Anstatt von
einer "beschuldigten Person" (Abs. 1) spricht Abs. 2 bloss von einer "Person"; wenn noch keine mutmassliche Straftat passiert ist, kann auch niemand förmlich beschuldigt sein. Ausserdem spricht
Abs. 2 von "Haft" und nicht von Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft. Gemeint ist damit Präventivhaft; wenn keine Straftat untersucht wird und keine mutmassliche Sanktion zu
sichern ist, kann auch keine Untersuchungs- oder Sicherheitshaft vorliegen.
-- Welche Fälle werden von Art. 221 Abs. 2 StPO erfasst und wieso ist dieser Haftgrund in der Kriminalpraxis unentbehrlich?
Der klassische Anwendungsfall einer Präventivhaft wegen Ausführungsgefahr sieht exemplarisch wie folgt aus: Der wegen Gewaltdelikten vorbestrafte X
sagt seinem Kumpel Y, er werde seine (Xs) Freundin umbringen, da sie ihn betrogen habe. X schildert dem Y detailliert und glaubhaft, wie er das Opfer zu töten plant. Y geht zur Polizei und meldet
dort, was X ihm gesagt hat. Eine Untersuchungshaft gestützt auf Art. 221 Abs. 1 lit. a-c StPO ist hier nicht möglich, da noch kein Delikt (kein dringender Tatverdacht) vorliegt, das untersucht
werden könnte. Das Verhalten von X, der gegenüber Y lediglich ankündigt, er werde eine dritte Person töten, ist noch keine Straftat, die verfolgt werden könnte. Wenn die Staatsanwaltschaft
Präventivhaft beantragt und der Haftrichter zum Schluss kommt, es sei ernsthaft zu befürchten, dass X seine Drohung wahrmachen könnte, wird der Haftrichter Präventivhaft anordnen. Diese dauert
dann so lange, bis ein Psychiater abgeklärt hat, ob X aus psychiatrischer Sicht gefährlich ist und töten könnte. Wenn die Prognose sehr ungünstig ist, wird Fürsorgerischer Freiheitsentzug wegen
Fremdgefährdung gegen X angeordnet werden; Untersuchungshaft ist nicht möglich, da kein Delikt vorliegt. Wenn die Prognose nicht sehr ungünstig ist, wird X aus der Präventivhaft entlassen werden,
allenfalls gegen Ersatzmassnahmen für Haft (z.B. Verbot, sich der bedrohten Person zu nähern, ambulante Psychotherapie, fürsorgerische Massnahmen usw.).
Es gibt noch einen Spezialfall der Ausführungsgefahr, den einzelne Anwälte und Anwältinnen zum Anlass nehmen zu behaupten, Präventivhaft sei
überflüssig: Im oben geschilderten "klassischen" Fall liegt keine Straftat vor, weil X eine Tötung gegenüber Y ankündigt und nicht gegenüber dem anvisierten potenziellen Opfer. Falls X seine
Freundin direkt mit dem Tod bedroht und diese (wegen der Ernsthaftigkeit der Drohung) in Schrecken oder Angst versetzt wird, läge bereits eine strafbare Drohung (Art. 180 StGB) vor. In diesem
Fall könnte also bereits eine Strafuntersuchung gegen X wegen mutmasslicher Drohung eröffnet werden. Trotzdem müsste auch hier oft auf Präventivhaft (Abs. 2) zurückgegriffen werden und nicht auf
einen besonderen Haftgrund nach Abs. 1: Untersuchungshaft nach Abs. 1 lit. a-c würde nämlich neben dem dringenden Tatverdacht von Drohung auch noch den Nachweis von Fluchtgefahr, Kollusionsgefahr
oder Wiederholungsgefahr voraussetzen. Diese besonderen Haftgründe sind nicht ohne weiteres erfüllt. Wenn aber X seine Freundin mit dem Tod bedroht und zudem ernsthaft zu befürchten ist, er werde
seine Drohung wahr machen, rechtfertigt sich Präventivhaft nach Abs. 2.
-- Kriminalpolitische Würdigung, Alternativen, Praxis zur Ausführungsgefahr, Bedeutung von psychiatrischen
Gutachten
Präventivhaft wegen Ausführungsgefahr wird relativ selten angeordnet. Der Haftgrund ist heikel, da hier eine Person "bloss" wegen schwersten
Drohungen inhaftiert wird, die noch nicht zwangsläufig strafbar sein müssen. Allerdings sieht auch das Zivilrecht (ZGB) bei schwerer Selbst- oder Drittgefährdung einen möglichen gerichtlich
verfügten Freiheitsentzug vor (bis die Gefährdung therapeutisch behoben ist und in den Grenzen des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes). Insofern stellt Art. 221 Abs. 2 StPO eine diffus-hybride
Haftart dar zwischen Strafprozess-, Polizei- und zivilem Fürsorgerecht. Nach der Einschätzung vieler erfahrener PraktikerInnen und Dozierenden braucht es aber weiterhin die Möglichkeit einer
Präventivhaft in solchen Fällen. Der Gesetzgeber will die Ausführungsgefahr in der hängigen StPO-Revision denn auch (nach den bisherigen Entwürfen) beibehalten. Teile der Anwaltschaft kämpfen
kriminalpolitisch dagegen an. Eine andere Frage ist die, ob diese Konstellation dem Zivilrichter überlassen werden könnte, der über Fürsorgerischen Freiheitsentzug nach ZGB
entscheidet. In den Fällen, wo bereits strafbare Drohungen zu untersuchen sind, wäre eine solche Überlappung von Zuständigkeiten zwischen Straf- und Zivilbehörden allerdings
heikel. Und für die Betroffenen macht es im Ergebnis wenig Unterschied, ob nun ein Straf- oder ein Zivilrichter über den Freiheitsentzug entscheidet.
Die heutigen gesetzlichen Hürden für die Anordnung von Präventivhaft und die Gerichtspraxis nach StPO sind ziemlich streng. Es muss ein schweres
Verbrechen, etwa ein Tötungsdelikt, ein schweres Sexualdelikt oder schwere Körperverletzung, ernsthaft drohen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes ist bei der Annahme von
Ausführungsgefahr besondere Zurückhaltung geboten. Das Bundesgericht verlangt eine sehr ungünstige Risikoprognose. Es verlangt hingegen nicht, dass der Drohende bereits konkrete
Anstalten getroffen haben müsste, um das angedrohte schwere Verbrechen zu verüben. Zum Beispiel muss er sich noch keine Tatwaffe zwangsläufig beschafft haben. Entscheidend ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Ausführung aufgrund einer
Gesamtbewertung der persönlichen Verhältnisse sowie der Umstände als sehr hoch erscheint. Dabei ist auch dem psychischen Zustand der drohenden Person bzw. ihrer Unberechenbarkeit oder Aggressivität und allfälligen Vorstrafen
Rechnung zu tragen. Je schwerwiegender das ernsthaft angedrohte
schwere Verbrechen ist, desto eher rechtfertigt sich grundsätzlich, im Rahmen einer sorgfältigen Risikoprüfung, die Präventivhaft.
Wenn der Haftrichter z.B. sieht, dass jemand "bloss" aus Verzweiflung,
unter Drogeneinfluss oder aus grober Fahrlässigkeit schwer gedroht hat, die Ausführung aber nach den konkreten Umständen nicht sehr wahrscheinlich erscheint, wird er auf Präventivhaft verzichten,
allenfalls Ersatzmassnahmen anordnen oder den Fall dem Zivilrichter (häusliche Gewalt, Prüfung von Fürsorgerischer Unterbringung oder anderen fürsorgerischen Massnahmen) übergeben. Wenn der
Haftrichter hingegen schwere Bedenken hat und die Ernsthaftigkeit nicht ausreichend ausschliessen kann, wird er ein psychiatrisches Vorabgutachten zur Gefährlichkeitsprognose
einholen. Dieses sollte innert einigen Wochen bis wenigen Monaten erstellt werden. Oft fallen diese Gutachten allerdings etwas vage aus, weil erstens die Beurteilung "ad hoc" (ohne längere
therapeutische Erfahrung) schwierig ist und zweitens die forensischen PsychiaterInnen die "Verantwortung" auf beide Seiten hin nicht sehr gerne übernehmen. Regelmässig muss der Haftrichter daher
eine sehr heikle Abwägung vornehmen zwischen den Risiken für das bedrohte Opfer und den Freiheitsrechten der drohenden Person.
6. Mai 2022 / © Prof. Dr. Marc Forster
Mi
19
Mai
2021
– Ist das neue Gesetz über präventive Massnahmen gegen "terroristische Gefährder" (PMT) sachlich notwendig oder rechtsstaatlich bedenklich? Könnte es auch militante Klimaschützer/innen oder rabiate Corona-Demonstrierende treffen? Welche Strafnormen treten am 1. Juli 2021 bereits in Kraft? Über was wird am 13. Juni 2021 noch abgestimmt? Wohin geht die weitere Entwicklung?
– Was kommt am 1. Juli 2021?
Gegen die vom Parlament (im September 2020) verabschiedeten strafrechtlichen und rechtshilferechtlichen Normen zur Terrorismusbekämpfung ("Vorlage 1") ist kein Referendum ergriffen worden. Die betreffenden Normen treten bereits am 1. Juli 2021 in Kraft (gemäss dem bundesrätlichen Entscheid vom 31. März 2021). Dabei handelt es sich insbesondere um die revidierte Strafnorm von Art. 260ter StGB gegen kriminelle und terroristische Organisationen und um den neuen Art. 260sexies StGB gegen die Anwerbung, Ausbildung und Reisetätigkeit (insbesondere von sogenannten "Jihadisten") im Hinblick auf terroristische Straftaten. Hinzu kommt eine neue Strafnorm in Art. 74 Abs. 4 des Nachrichtendienstgesetzes (NDG, SR 121) gegen die Beteiligung an einer (nach Art. 74 Abs. 1 NDG) verbotenen Organisation oder Gruppierung und gegen ihre personelle oder materielle Unterstützung, insbesondere durch Organisieren von Propaganda oder Anwerbung für sie und durch sonstiges Fördern ihrer Aktivitäten. Am 1. Juli 2021 in Kraft treten wird auch der neue Art. 80d-bis IRSG betreffend vorzeitige Übermittlung (noch vor Erlass einer Rechtshilfe-Schlussverfügung) von Informationen und Beweismitteln an ausländische Strafbehörden und weitere gesetzliche Anpassungen (insbes. Ergänzungen in der StPO betreffend Bundesgerichtsbarkeit für Art. 260ter und sexies StGB sowie Art. 74 Abs. 4 NDG; vgl. BBl 2020 7893 ff.).
– Über was wird im Juni 2021 noch an der Urne abgestimmt?
Gegen das vom Parlament am 25. September 2020 ebenfalls verabschiedete Bundesgesetz über präventive polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT) ist hingegen das Referendum ergriffen worden. Darüber wird am 13. Juni 2021 abgestimmt ("Vorlage 2"):
Gegen sogenannte terroristische Gefährderinnen und Gefährder (Art. 23e des revidierten BWIS, SR 120) können vom Fedpol, unter den gesetzlich geregelten Voraussetzungen (Art. 23f-q BWIS), präventive polizeiliche Massnahmen verfügt bzw. beantragt werden, nämlich eine Melde- und Gesprächsteilnahmepflicht (Art. 23k BWIS), ein Kontaktverbot mit gewissen Personen (Art. 23l BWIS), eine lokale Aus- und Eingrenzung (Art. 23m BWIS), ein Ausreiseverbot (Art. 23n BWIS), ein Hausarrest ("Eingrenzung auf eine Liegenschaft", Art. 23o-p BWIS) sowie eine (nicht geheime) elektronische Randdaten-Überwachung bzw. Lokalisierung über Mobilfunk, zur Sicherung des Vollzuges solcher Massnahmen (Art. 23q BWIS). Die Melde- oder Gesprächsteilnahmepflicht, das Kontaktverbot, die Aus- oder Eingrenzung, das Ausreiseverbot sowie die Mobilfunk-Randdaten-Überwachung (elektronische Lokalisierung) kann gegen terroristische Gefährderinnen und Gefährder ab deren vollendetem 12. Altersjahr angeordnet werden, der Hausarrest ab dem 15. Altersjahr (Art. 24f BWIS). Der Hausarrest ist vom Zwangsmassnahmengericht zu bewilligen (Art. 23p Abs. 1 BWIS); er ist auf drei Monate begrenzt und kann zwei mal (um jeweils maximal drei weitere Monate) verlängert werden (Art. 23o Abs. 5 BWIS). Die Massnahmenentscheide können mit Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht angefochten werden (Art. 24g BWIS; vgl. BBl 2020 7742 ff.).
– Was wartet zusätzlich noch in der gesetzgeberischen Pipeline?
Nicht zu vergessen ist schliesslich noch eine dritte Reformvorlage mit unmittelbaren Bezügen zur Terrorismusbekämpfung, zu der kürzlich die Botschaft des Bundesrates vom 5. März 2021 publiziert worden ist (BBl 2021 738): Im PCSC-Abkommen mit den USA und im Abkommen mit der EU zur Beteiligung an "Prüm" (inklusive Eurodac-Protokoll EU-Schweiz-Liechtenstein) geht es um die Erweiterung des justiziellen Informationsaustausches zu Zwecken der Strafverfolgung (also nicht nur polizeiliche Zusammenarbeit und Prävention) bzw. um neue Möglichkeiten der akzessorischen Rechtshilfe im Bereich der Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität. Die Abkommen sollen insbesondere die gegenseitige Abgleichung von Fingerabdrücken, DNA-Profilen und Fahrzeugregistrierungen ermöglichen (vgl. Entwürfe der beiden Bundesbeschlüsse in BBl 2021 739 und 741).
Zur strafrechtlichen "Vorlage 1" (in Kraft ab 1. Juli 2021):
Art. 260ter StGB stellt das Unterstützen der Tätigkeit von terroristischen Organisationen (und die Beteiligung an solchen) unter Strafe, Art. 260sexies StGB ähnliche Unterstützungshandlungen (wie Art. 74 Abs. 4 NDG gegen das Anwerben, Ausbilden oder Reisen) im Hinblick auf terroristische Straftaten. Angesichts dieser Normen-Überschneidungen wird die Gerichtspraxis abgrenzen müssen, welche Gruppierungen nicht terroristisch (im Sinne des StGB) aber verboten (im Sinne des NDG) sind (keine Anwendbarkeit von Art. 260ter StGB, aber Anwendbarkeit von Art. 74 Abs. 4 NDG), und welche Unterstützungshandlungen nicht im Hinblick auf konkrete terroristische Gewaltverbrechen erfolgen (keine Anwendbarkeit von Art. 260sexies StGB, aber mögliche Anwendbarkeit von Art. 74 Abs. 4 NDG gegen verbotene Gruppierungen). Gemäss NDG verboten werden können auch Gruppierungen, die nicht alle Tatbestandselemente einer terroristischen Organisation (Art. 260ter Abs. 1 lit. a Ziff. 2 StGB) erfüllen. Da die "Vorlage 1" die Strafbarkeit nach dem bisherigen befristeten "IS-/Al-Qaïda-Gesetz" (AS 2014 4565, AS 2018 3345) abdeckt, wird dieses aufgehoben, sobald der Bundesrat die dort anvisierten Gruppierungen und Organisationen für verboten erklärt hat (vgl. Anhang Ziff. I zum Bundesbeschluss vom 25.9.2020, BBl 2020 7893; Art. 74 Abs. 1 NDG). Bis dahin bleibt das IS-Gesetz längstens bis Ende 2022 in Kraft (letzte Verlängerung durch das Parlament).
Keine Privilegierung von "Mafiabossen"
Zu begrüssen ist die Korrektur, die das Parlament am bundesrätlichen Entwurf von Art. 260ter StGB vorgenommen hat: Nach dem Entwurf hätte die neue Strafobergrenze von zehn Jahren Freiheitsstrafe nur für die Unterstützung und Beteiligung an einer terroristischen Organisation gegolten (vgl. BBl 2018 6529). Für Mafiabosse (denen sonst regelmässig keine eigenen konkreten Verbrechen nachzuweisen sind) wäre hingegen eine deutlich tiefere Strafobergrenze von lediglich fünf Jahren vorgesehen gewesen (vgl. die Kritik in meinen Blog vom 6. Januar 2020). Die vom Parlament im September 2020 verabschiedete gesetzliche Fassung korrigiert diese Unstimmigkeit.
Problematik terroristischer Einzeltäter und Kleingruppen
De lege ferenda bestehen allerdings noch Lücken bei der Verfolgung von terroristischen Anschlägen und Massenmorden von Einzeltätern und Kleingruppen. Zu erinnern ist insbesondere an den Terroranschlag in Wien vom 2. November 2020 (mit vier Toten und 23 teils schwer Verletzten), an die 51 Morde von Christchurch im März 2019, die Anschlagsserie in London zwischen März und September 2017 (14 Tote und 146 Verletzte), die Lastwagen-Attentate im Juli bzw. Dezember 2016 in Nizza und Berlin (mit 86 bzw. 11 getöteten Menschen), das Bombenattentat am Boston Marathon 2013 (3 Tote, 264 Verletzte, darunter viele Schwerverletzte), die 2011 auf Utoya ermordeten 77 Kinder und Jugendlichen, die NSU-Mordserie 2000-2007 in Deutschland (neun Tote), oder an das Zuger Attentat von 2001, bei dem 14 Kantons- und Regierungsräte erschossen und zahlreiche weiteren Menschen zum Teil schwer verletzt wurden. Terroristische Einzeltäter und Kleingruppen, die den Organisationstatbestand nicht erfüllen, werden von Art. 260ter StGB nicht erfasst, Art. 260quinquies StGB stellt lediglich ihre Finanzierung unter Strafe, nicht aber deren anderweitige, bewusste und massive logistische Unterstützung (abgesehen von der kausalen Beihilfe zu einem konkreten Verbrechen). Ob Art. 260sexies StGB und Art. 74 Abs. 4 NDG, die auf Jihad-Unterstützer zugeschnitten sind, hier praxistaugliche gesetzliche Grundlagen bringen werden, erscheint eher fraglich.
Zur präventiv-polizeilichen "Vorlage 2": PMT,
Volksabstimmung vom 13. Juni 2021:
Als "terroristische Gefährder/innen" gelten nach dem PMT (Referendumsvorlage zum revidierten BWIS, SR 120, BBl 2020 7741 ff.) Personen, bei denen "aufgrund konkreter und aktueller Anhaltspunkte davon ausgegangen werden muss, dass sie oder er eine terroristische Aktivität ausüben wird" (Art. 23e Abs. 1 BWIS). Die Vorlage definiert "terroristische Aktivitäten" als "Bestrebungen zur Beeinflussung oder Veränderung der staatlichen Ordnung, die durch die Begehung oder Androhung von schweren Straftaten oder mit der Verbreitung von Furcht und Schrecken verwirklicht oder begünstigt werden sollen" (Art. 23e Abs. 2 BWIS).
Die Problematik des Terrorismusbegriffes
Die "Terrorismusdefinition" von Art. 23e BWIS erscheint im Lichte der bundesgerichtlichen (strafrechtlichen) Praxis etwas gar weit gefasst. Das Bundesgericht legt den Fokus auf die besonders schwere Gewaltverbrechen (wie z.B. Bombenattentate, Tötungsdelikte, schwere Brandanschläge, Flugzeugentführungen usw.), die sich nicht ausschliesslich gegen staatliche Polizei- und Militärkräfte richten, sondern regelmässig – und gerade – auch gegen beliebige zivile Opfer und zivile Anschlags-Ziele (z.B. öffentliche Verkehrsmittel wie Züge oder Flugzeuge). Diese Fokussierung auf zivile Opfer ist im Terrorismusstrafrecht sehr wichtig, da die Justiz sonst (bei schweren Delikten gegen Militär- und Polizeikräfte bzw. bei bürgerkriegsähnlichen Konflikten) regelmässig vor ein schweres Dilemma gestellt wird, das den Terrorismusbegriff ad absurdum zu führen droht: Bekanntlich gefallen sich autoritäre Machthaber und exzessiv gewalttätige staatliche Regimes sehr oft darin, praktisch alle Oppositionellen in ihrem Land als "Terroristinnen und Terroristen" zu bezeichnen und zu verfolgen, teilweise sogar (mit Auslieferungsersuchen) bis ins Ausland (vgl. dazu Marc Forster, in: Basler Kommentar Internationales Strafrecht, 2015, Art. 3 IRSG N. 7-11). In gewissen Staaten sind (neben Politiker/innen) namentlich Journalist/innen, die kritisch über staatliche Gewalt und Unterdrückung von Minderheiten berichten, von diesem internationalstrafrechtlichen Missbrauch und der Politisierung des Terrorismusbegriffes betroffen. Ohne eine konsequente Fokussierung auf systematische Gewalt gegen Zivilpersonen und auf das Verbreiten von Furcht und Schrecken in der Zivilbevölkerung läuft die Justiz Gefahr, dass sie einseitig Partei ergreifen muss gegen Bürgerkriegsparteien oder gegen legitime Freiheitskämpfer, die sich gegen Willkürherrschaft und schwere systematische Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Regimes wehren (derzeit zum Beispiel in Burma).
Terrorismusbegriff im PMT
Zwar erscheint die Definition der "terroristischen" Aktivitäten (in Art. 23e BWIS) unter diesem Gesichtspunkt etwas unbestimmt. Der rechtspolitische Vorwurf, die PMT-Vorlage erlaube eine extensive Ausdehnung der präventiven Massnahmen (gegen terroristische Gefährder/innen) auf legitime politische Aktivist/innen und Demonstrierende in der Schweiz, ist jedoch unbegründet: Erstens müssen "Bestrebungen zur Beeinflussung oder Veränderung der staatlichen Ordnung" vorliegen, "die durch die Begehung oder Androhung von schweren Straftaten oder mit der Verbreitung von Furcht und Schrecken verwirklicht oder begünstigt werden sollen" (Art. 23e Abs. 2 BWIS). Zweitens muss "aufgrund konkreter und aktueller Anhaltspunkte davon ausgegangen werden" können, dass Gefährder/innen eine solche "terroristische Aktivität ausüben" werden (Art. 23e Abs. 1 BWIS). Und drittens müssen – neben den besonderen (qualifizierten) Voraussetzungen von Art. 23k-q BWIS – als allgemeine gesetzliche Voraussetzung noch zusätzlich sämtliche Subsidiaritäts-Kriterien von Art. 23f Abs. 1 BWIS kumulativ erfüllt sein.
Besonders einschneidende präventive Zwangsmassnahmen – wie etwa der "Hausarrest" nach Art. 23o BWIS – setzen die Hürden noch deutlich höher, als sie bereits in den allgemeinen Grundsätzen von Art. 23e und 23f BWIS verankert sind: Ein Hausarrest setzt nämlich "konkrete und aktuelle Anhaltspunkte" dafür voraus, dass von terroristischen Gefährder/innen eine "erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter ausgeht, die nicht anders (als durch Hausarrest) abgewendet werden kann" (Art. 23o Abs. 1 lit. a BWIS). Aber es kommt hier noch eine zusätzliche Voraussetzung dazu: Selbst bei Erfülltsein dieses qualifizierten Erfordernisses ist der Hausarrest nur möglich, wenn zuvor eine mildere Zwangsmassnahme (etwa ein Kontaktverbot, eine Rayonauflage oder ein Reiseverbot) angeordnet worden ist und der Gefährder oder die Gefährderin dagegen verstossen hat (Art. 23o Abs. 1 lit. b BWIS). Der Hausarrest muss zudem richterlich bewilligt werden (Art. 23p BWIS).
– Hausarrest gegen Klimaschützer und Corona-Demonstrierende?
Juristisch unbegründet erscheinen somit Befürchtungen (von vermeintlichen oder echten "Expert/innen" des Terrorismus-Straf- und Polizeirechts), wonach politische Aktivist/innen, etwa militante Klimaschützer/innen, die z.B. Fassaden beschmieren oder vorübergehend Filialen von Banken oder anderen Unternehmen besetzen (Hausfriedensbruch, Nötigung, Sachbeschädigung), als "terroristische Gefährder/innen" eingestuft und von Hausarresten betroffen werden könnten. Dafür findet sich in Art. 23e-q BWIS keine sachliche Grundlage. Wenn der Zwangsmassnahmenrichter allerdings konkrete und aktuelle Anhaltspunkte sieht, dass von gefährlichen und extrem gewaltbereiten politischen Extremist/innen eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter ausgeht, nachdem bereits angeordnete mildere Präventivmassnahmen nichts gefruchtet haben (Art. 23o Abs. 1 BWIS), ist gegen einen präventiven Hausarrest von verhältnismässiger Dauer rechtsstaatlich kaum etwas einzuwenden. Dies umso weniger, als die Strafprozessordnung bei ernstlicher Ausführungsgefahr für ein schweres Verbrechen sogar die Anordnung von Untersuchungshaft in einem Gefängnis (und mit einem sehr restriktiven Vollzugsregime) ermöglicht, und zwar auch präventiv, nämlich gegen Gefährder/innen, die nicht zwangsläufig bereits ein Delikt begangen haben müssen (Art. 221 Abs. 2 StPO). Der einschlägigen Praxis der Strafbehörden und den Lageberichten von Polizei und Staatsschutz lässt sich entnehmen, dass in der Schweiz wohnhafte radikalisierte Jihad-Sympathisant/innen (der sogenannten "dritten Generation") leider zunehmend jünger werden. Dass bereits 15-Jährige terroristische Gefährder/innen (unter den genannten restriktiven Voraussetzungen) von Hausarrest betroffen sein können (Art. 24f Abs. 2 BWIS), trägt dieser bedauerlichen Entwicklung Rechnung.
– Grundrechtswidriger "Sündenfall" oder notwendige gesetzliche Reform in Zeiten hoher terroristischer Bedrohung?
Das PMT ist im Übrigen die logische kriminalpolitische Konsequenz aus äusserst tragischen Erfahrungen mit diversen terroristischen Schwerverbrechern (Terroranschläge von Paris, London, Nizza, Berlin, Wien usw.), deren hohe Gefährlichkeit zwar bereits vor den Terroranschlägen polizeilich erkannt worden war, gegen die aber (mangels bereits verfolgbarer schwerer Delikte) keine gesetzliche Grundlage für geeignete präventive Polizeimassnahmen bestand. Die Vorlage schliesst diese Lücke im schweizerischen Terrorismus-Polizeirecht.
19. Mai 2021 / © Prof. Dr. Marc Forster
Mo
06
Jan
2020
Anfang Dezember 2019 ist der Ständerat (nach einem Rückweisungsantrag von Ständerat Beat Rieder) auf die Terrorismusvorlage (BBl 2018 6427ff., 6525 ff.) vorläufig nicht eingetreten. Es wurde verlangt, dass die Sicherheitspolitische Kommission einen Mitbericht der Rechtskommission einholt.
Unter Hinweis auf die Vernehmlassung des Anwaltsverbandes wurde insbesondere die Vorlage zu den rechtshilferechtlichen Bestimmungen kritisiert; so erlaube der Art. 80dbis E-IRSG den Staatsanwälten (nicht nur bei Terrorismusverdacht), vorzeitig (vor Abschluss eines entsprechenden förmlichen Rechtshilfeverfahrens) Informationen und Beweismittel an ausländische Strafbehörden zu übermitteln (vgl. Tages-Anzeiger vom 10. Dezember 2019). Dieser Einwand übersieht, dass heute sogar eine unaufgeforderte Übermittlung ans Ausland (ohne jegliches Rechtshilfeersuchen) zulässig sein kann (Art. 67a IRSG).
Leider werden die statistischen Zahlen zur Entwicklung terroristischer Gewaltverbrechen von den amerikanischen und europäischen Behörden regelmässig geschönt und verzerrt dargestellt:
Das Aussenministerium der USA (State Department) hat Statistiken zur Zahl der "weltweiten" Terroranschläge und zur Zahl der getöteten Opfer zwischen 2006 und 2018 publiziert (vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/380942/umfrage/anzahl-der-terroranschlaege-weltweit/ https://de.statista.com/statistik/daten/studie/380949/umfrage/getoetete-personen-durch-terroranschlaege-weltweit/). Die betreffenden Zahlen könnten zunächst einen gewissen Rückgang terroristischer Anschläge suggerieren. Wenn westliche (und besonders amerikanische) Quellen von "weltweit" sprechen, meinen sie allerdings in der Regel die westliche "Welt". Die Zahlen der in den Jahren 2012 und 2017 angeblich Getöteten (11'098 bzw. 18'753 Menschen) erscheinen auffällig tief (und merkwürdig präzise). – Hat hier z.B. auch der Staatsterror gegen die eigene Zivilbevölkerung (etwa durch das syrische Regime, u.a. mit dem Einsatz von Fassbomben in Wohngebieten) Berücksichtigung gefunden? Und wie steht es mit den damaligen horrenden Opferzahlen allein des IS in Syrien und im Irak oder mit den unüberschaubaren Mordserien diverser Terrororganisationen (etwa in Afghanistan, im Yemen oder in verschiedenen Regionen Afrikas)? Könnte es sein, dass die amerikanischen Behörden damit angebliche Erfolge ihres (ab 2001 eingeleiteten) "War on Terrorism" dokumentieren möchten? Solche politisch gefärbten Zahlen müssten aufgrund von anderen verlässlichen Quellen (etwa des Internationalen Roten Kreuzes oder der UNO) jedenfalls kritisch hinterfragt werden. Selbst aus den Zahlen des State Department liessen sich bestenfalls grosse Schwankungen der Opferzahlen (zwischen 2006 und 2017) ablesen. Und im Jahr 2018 hat die Zahl der Terror-Todesopfer mit 32'836 Personen sogar einen neuen absoluten Höchststand erreicht (vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/380949/umfrage/getoetete-personen-durch-terroranschlaege-weltweit/).
Aber auch Europa "trickst" und beschönigt mit gewissen Statistiken zu terroristischen Gewaltverbrechen: So hat die EU (über Europol) Zahlen publiziert zu den "terroristischen Angriffen" von 2008-2018 in Europa und den diesbezüglichen Festnahmen (vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/493217/umfrage/angriffe-und-festnahmen-mit-terroristischem-hintergrund-in-der-eu/). Zwar sind die Festnahmen seit ca. 2010 markant (auf mehr als das Zweifache) gestiegen. Auffällig ist jedoch, dass Europol nur die Zahl der terroristischen "Angriffe" nennt, aber keine Opferzahlen. Daraus resultiert eine Verfälschung der Statistik: Blosse Einzelangriffe werden gleich gezählt und gewichtet wie Massenmorde (z.B. das Massaker vom 13. November 2015 im Pariser Konzertsaal "Bataclan" oder die beiden Massentötungen mit Lastwagen von 2016 in Nizza und Berlin). Der methodische Unsinn führt zum verzerrten Bild, dass – ausgerechnet – die beiden europäischen "Terrorjahre" 2015 und 2016 (mit hunderten Toten und Schwerverletzen) statistisch "friedlicher" erscheinen als z.B. die Jahre 2014 und 2017, und dass dabei das falsche Bild einer seit 2010 abnehmenden bzw. gleichbleibenden terroristischen Gewaltkriminalität suggeriert wird.
Zur Erinnerung: Allein bei den drei "Angriffen" vom 13. November 2015 in Paris gab es 130 Tote und 683 Verletzte. Am 14. Juli bzw. 19. Dezember 2016 wurden bei zwei Lastwagen-Anschlägen in Nizza und Berlin 86 bzw. 11 Menschen getötet; 400 bzw. 55 weitere Opfer wurden (grossteils schwer) verletzt. Mit anderen Worten: Zwar ist seit 2010 die Zahl der jährlichen Anschläge eher etwas gesunken; die Opferzahlen haben aber (bis 2015/2016) wieder markant zugenommen. Auch die statistischen Angaben des Nachrichtendienstes des Bundes kranken an ähnlichen Gewichtungsfehlern (indem zwischen der Anzahl und der Schwere der Anschläge in Europa nicht ausreichend differenziert wird, vgl. Lagebericht NDB "Sicherheit Schweiz 2019", S. 38).
Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Behörden primär Erfolge vermelden wollen (steigende Anzahl Verhaftungen), während die hohen Opferzahlen (auch in Europa) statistisch retouchiert werden (Zählen von "Anschlägen" anstatt von Opfern). Solche Schönfärbereien beeinflussen offenbar auch die kriminalpolitischen Entscheide des eidgenössischen Parlamentes bei der Revision des veralteten Terrorismus-Strafrechts.
Auch in der (revisionskritischen) strafrechtlichen Literatur mischen sich gelegentlich "wissenschaftliche" Argumente mit kriminalpolitischen Motiven: Schon dem bisherigen Art. 260ter StGB wurde vorgeworfen, er sei "präventiv" ausgerichtet und führe zu einer strafrechtsdogmatisch unzulässigen Vorverlagerung der Strafbarkeit, indem er Aktionen unter Strafe stelle, "bevor überhaupt ein konkretes Delikt verübt" worden sei. Dabei "suggeriere" das Strafrecht der Bevölkerung einen "Schutz vor terroristischen Attentaten" bzw. eine "Beherrschung des Problems". – Solchen Verkürzungen ist zu widersprechen: Die Mafia oder terroristische Organisationen wie der IS haben bereits zahlreiche Schwerverbrechen nachweislich begangen. Mit einer "Verschiebung der Strafbarkeit auf der Zeitachse" (wie in Teilen der Literatur behauptet wird) hat Art. 260ter StGB überhaupt nichts zu tun. Die Bestimmung bezweckt vielmehr eine Beweisverlagerung: Angehörige (namentlich Bosse) mafiöser und terroristischer Organisationen sowie deren massgebliche Unterstützer sollen auch dann strafrechtlich verfolgt werden können, wenn ihnen noch keine Beteiligung (Mittäterschaft oder Teilnahme) an einem konkreten Mafiaverbrechen oder einem terroristischen Gewaltverbrechen persönlich zugerechnet werden kann.
Wenn der Gesetzgeber hier eine Strafwürdigkeit erkennt, geht es ihm weder um "Prävention", noch begeht er ein strafrechtsdogmatisches Sakrileg. Selbst das gemeinrechtliche Individualstrafrecht kennt diverse Fälle von akzessorischer Strafbarkeit ohne Verwirklichung des anvisierten Hauptdeliktes: Versuchte Anstiftung zu einem Verbrechen ist ohne jegliche Haupttat strafbar (Art. 24 Abs. 2 StGB). Auch blosse (öffentliche) Aufrufe zu Verbrechen oder Gewaltstraftaten (Art. 259 StGB) oder blosse Vorbereitungshandlungen zu gewissen Schwerverbrechen (Art. 260bis StGB) sind strafbar, ohne dass in der Folge eine entsprechendes Verbrechen versucht oder verübt werden müsste. Falls ein Terrorist z.B. wegen eines konkreten Mordes angeklagt wird, muss auch ihm eine persönliche Beteiligung daran rechtsgenüglich nachgewiesen werden. – Wieso aber sollten Mafiosi und Terroristen nicht schon wegen ihrer nachweisbaren Zugehörigkeit z.B. zur Camorra oder zum IS in angemessener Weise bestraft werden können?
Wer gegen solche "Vorverlagerungen" der Strafbarkeit im Bereich der Schwerstkriminalität ankämpft, betreibt in der Regel keine Strafrechtsdogmatik, sondern Kriminalpolitik. Erfreulicherweise besteht für eine entsprechende Modernisierung und Verschärfung des Terrorismusstrafrechts nach schweizerischem Modell (vgl. dazu schon M. Forster, Kollektive Kriminalität, Das Strafrecht vor der Herausforderung durch das organisierte Verbrechen, Basel 1998) unterdessen ein weitgehender völkerrechtlicher Konsens (vgl. Art. 6 Abs. 1 und 8-9 des Übereinkommens des Europarates zur Verhütung des Terrorismus vom 16. Mai 2005, SEV Nr. 196, BBl 2018 6541 ff.).
Die im Entwurf des Bundesrates vorgeschlagene Änderung, bei der neuen Unterstützungsvariante die verbrecherische Zielsetzung der kriminellen Organisation nicht (nochmals) zu erwähnen (Art. 260ter Abs. 1 lit. b E-StGB), verdient Zustimmung: Zum einen wird diese Zielsetzung bereits bei der gesetzlichen Definition der (unterstützen) krimOrg ausreichend erwähnt; zum anderen hat die Bundesgerichtspraxis deutlich gemacht, dass die Unterstützung konkreter Verbrechen hier gerade nicht zu verlangen ist, weshalb der bisherige (renundante) Gesetzestext missverständlich wirkt.
Berechtigt scheint hingegen die Kritik (etwa des Anwaltsverbandes) am vorgeschlagenen Wegfall des Geheimhaltungs-Merkmals (Art. 260ter Abs. 1 E-StGB): Dass ein gesetzliches Tatbestandsmerkmal die Strafverfolgung "erschwere" (so das Hauptargument der Strafverfolger), ist vom Gesetzgeber gewollt und reicht als kriminalpolitisches Motiv einer Streichung (für sich alleine) nicht. Das bisherige Erfordernis der Geheimhaltung des Aufbaus und der personellen Zusammensetzung der krimOrg erklärt sich aus der (leider vielfach in Vergessenheit geratenen) Zielsetzung der Norm: Die Vorverlagerung der Strafbarkeit auf Beteiligung und Unterstützung ausserhalb der klassischen Regeln der Teilnahmedogmatik rechtfertigt sich nur für besonders gefährliche terroristische sowie (im engeren Sinne) mafiöse Gruppierungen, nicht aber für "gewöhnliche" Verbrecherbanden, bei denen die "Omertà" und die heimliche Unterwanderung (der legalen Wirtschaft und Politik) eine deutlich geringere Bedeutung spielen.
Sehr zu begrüssen ist wiederum die höhere Strafobergrenze (10 Jahre) für Terroristen (Art. 260ter Abs. 2 E-StGB) sowie das Mindeststrafmass (drei Jahre) für Mafiabosse bzw. Terroristen mit "bestimmendem Einfluss" (Abs. 3). Wenig einleuchtend scheint hingegen, wieso der Mafiaboss lediglich mit höchstens 5 Jahren Freiheitsstrafe bedroht werden soll, sofern ihm keine konkreten Verbrechen persönlich nachzuweisen sind (Abs. 2 ist allein auf terroristische krimOrg zugeschnitten).
Das schweizerische Terrorismus-Strafrecht weist leider weiterhin bedenkliche Lücken auf, denen der Entwurf des Bundesrates von 2018 zu wenig Rechnung trägt: Völlig zu übersehen scheint der Gesetzgeber das Problem der terroristischen Anschläge und Massenmorde von Einzeltätern und Kleingruppen. Diese werden von Art. 260ter StGB überhaupt nicht erfasst. – Zu erinnern ist hier beispielsweise an die 51 Morde von Christchurch im März 2019, die Lastwagen-Attentate im Juli bzw. Dezember 2016 in Nizza und Berlin (mit 86 bzw. 11 getöteten Menschen), das Bombenattentat am Boston Marathon 2013, die 2011 auf Utoya ermordeten 77 Kinder und Jugendlichen, die NSU-Mordserie 2000-2007 in Deutschland, oder an das Zuger Attentat von 2001, bei dem 14 Kantons- und Regierungsräte erschossen und zahlreiche weiteren Menschen zum Teil schwer verletzt wurden.
Nur wenig hilfreich und stark auslegungsbedürftig ist in diesem Zusammenhang der neu vorgeschlagene Art. 260sexies E-StGB: Wie schon der Bundesrat in seiner Botschaft bemerkt hat, könnten damit höchstens "kleinere Lücken" geschlossen werden: Zwar setzt diese Bestimmung keine terroristische Organisation voraus. Die dort unter Strafe gestellten Handlungen (Anwerben, Sich-Anleiten-Lassen/Anleiten, Reisen) müssen jedoch "im Hinblick auf die Verübung eines" (konkreten terroristischen) "Gewaltverbrechens" erfolgen. Die Tragweite der vorgeschlagenen Norm geht daher über die – bereits strafbaren – Vorbereitungshandlungen (Art. 260bis StGB) bzw. über Beihilfe zu Gewaltverbrechen (Art. 25 StGB) kaum hinaus.
Zudem ist nur schwer zu erkennen, wie die Schweiz damit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen nach Ratifikation des Übereinkommens des Europarates zur Verhütung des Terrorismus (vom 16. Mai 2005) vollständig nachkommen würde: Artikel 6 Absatz 1 dieses Übereinkommens verlangt ausdrücklich eine Strafnorm gegen Anwerbungen "für terroristische Zwecke". Eine solche Strafnorm ginge deutlich weiter als die vom Bundesrat (in Art. 260sexies Abs. 1 lit. a E-StGB) inkriminierte Anwerbung für ein konkretes terroristisches "Gewaltverbrechen" ("Begehung einer solchen Straftat oder die Teilnahme daran"). Schon die gezielte Anwerbung, sich z.B. dem IS anzuschliessen, muss nach dem Übereinkommen des Europarates unter Strafe gestellt werden (und nicht bloss die Anwerbung für konkrete Gewaltverbrechen des IS). In Art. 260sexies Abs. 1 lit. a E-StGB muss die fragliche verunglückte Wendung ("für die Begehung einer solchen Straftat oder die Teilnahme daran") daher ersetzt werden durch: "für terroristische Zwecke".
Im Übrigen drängt sich eine gezielte Ausweitung von Art. 260quinquies StGB (Terrorismusfinanzierung) auf: Gemäss der langjährigen Praxis des Bundesgerichtes stellt diese Norm die Finanzierung von terroristischen Einzeltätern und (wenig strukturierten) terroristischen Kleingruppen unter Strafe (die Finanzierung von terroristischen Organisationen im engeren Sinne fällt unter Art. 260ter StGB). – Es ist schlechterdings nicht einzusehen, weshalb die bewusste und massive logistische Unterstützung von hochkriminellen Einzelterroristen (wie Breivik usw.) oder terroristischen Kleingruppen (z.B. NSU) ausschliesslich in der Form der finanziellen Unterstützung strafbar sein sollte.
6. Januar 2020 / © Prof. Dr. Marc Forster
Mo
02
Sep
2019
Sogenannte soziale Netzwerke (von Anbietern wie Facebook, Google, Instagram, Snapchat usw.), grosse Online-Handelsplattformen (z.B. Alibaba, Ebay, Amazon usw.), abgeleitete Internettelefonie (z.B. über Whatsapp), Mailing- (z.B. Gmail von Google oder Outlook von Microsoft), Chat-/Messaging-, (Peer-to-Peer-)Videokommunikations- (z.B. über Skype oder Whatsapp) oder Cloud-Dienste werden zunehmend auch von Kriminellen genutzt. Leider gehören dazu regelmässig auch hochgefährliche Terroristen, mafiöse Organisationen und andere international tätige und gut vernetzte Verbrecher.
Zwei neue Forschungsarbeiten der Universität St. Gallen zeigen die gesetzlichen Lücken auf bei der strafprozessualen Überwachbarkeit wichtiger moderner Kommunikationskanäle (vgl. Laura Dusanek, Probleme der strafprozessualen Überwachung abgeleiteter Internetdienste wie Facebook, Skype oder Whatsapp – Lösungen im neuen BÜPF? MA SG 2019; Katja Allenspach, Revision des Überwachungsrechts: Eine Übersicht der bedeutendsten Änderungen, MA SG 2019). Bisher fehlt es dem Bundesrat bedauerlicherweise am politischen Mut zur dringend gebotenen Regulierung von Schweizer Tochter- und Vertriebsgesellschaften der grossen ausländischen IT-Konzerne:
Die Antwort auf die Frage, welche Internetdienste strafprozessual überwacht werden können (z.B. Telefonabhörung, Internet-Teilnehmerüberwachung usw.), ist komplex und ständigem technischem Wandel unterworfen. Sie hängt insbesondere vom verwendeten Dienst, von der Art der Verschlüsselung und vom verwendeten Kommunikationsgerät bzw. Internetzugang ab. Selbst die grossen ausländischen Internetdienste und Social Media (soweit sie überhaupt eine gesetzliche Mitwirkungspflicht bei schweizerischen Überwachungen nach dem BÜPF haben) sind teilweise technisch gar nicht in der Lage, auf "End-to-End"-verschlüsselte Kommunikationsinhalte (Gesprächsverkehr) ihres Dienstes zuzugreifen bzw. unverschlüsselte Daten zu liefern. Die gesetzlich stark regulierten Schweizer Internet-Zugangsprovider (wie Swisscom, Sunrise, Salt usw.) haben nur Zugriff auf die Registrierungs- und Identifikationsdaten bereits bekannter Anschlüsse sowie auf die "IP-Histories" (IP-Adressverläufe) von bestimmten Internetaktivitäten. Auch die Beschlagnahme unverschlüsselter (bereits "abgerufener") Kommunikationsinhalte auf Empfangsgeräten (Smartphones usw.) ist nur möglich, falls die Strafbehörden direkten Zugriff auf ein solche Geräte haben. Der höchstens subsidiär in Frage kommende Einsatz von GovWare (behördliche Software zur heimlichen Kommunikationsüberwachung) bildet ebenfalls kein Allheilmittel: Diese seit 1. März 2018 im Gesetz vorgesehene Überwachungsart ist sehr aufwändig und teuer; ausserdem setzt sie günstige Zugriffskonstellationen voraus (physischer Zugriff auf das Zielgerät oder heimliches Aufladen der GovWare per Internet, z.B. mittels präparierter E-Mail oder WLAN).
– Können Schwerkriminelle also in der Schweiz ungestört und ohne Überwachung über Internet kommunizieren und Verbrechen planen? Die beunruhigende Antwort lautet: in weiten Bereichen leider ja.
Die Problematik ist eine doppelte: Nicht nur fehlt es an einer klaren gesetzlichen Grundlage zum Durchgriff auf ausländische Datenverwalter grosser IT-Konzerne, Social Media und Online-Handelsplattformen, etwa über deren schweizerische Vertriebs- und Marketingfilialen. Hinzu kommt noch die technische Schwierigkeit, dass es bei verschlüsselten mobilen Internetdiensten (und damit im zentralen Bereich) weder für die schweizerische Strafbehörde, noch den technischen Dienst ÜPF, noch für den Schweizer Internet-Zugangsprovider ohne weiteres möglich ist, ohne Zutun des ausländischen Internetdienstes (oder aufwändige technische Zusatzvorkehren) auf die notwendigen verschlüsselten Kommunikationsdaten zu greifen.
Die Internet-Zugangsprovider sind zwar verpflichtet, die "IP-Histories" ihrer Kunden herauszugeben und entsprechende Auskünfte zur Identifizierung ihrer registrierten Internetkunden zu geben (Art. 22 BÜPF, Art. 14 aBÜPF). Auf verschlüsselte Chatverläufe und registrierte Benutzerdaten von Internetdiensten wie Facebook, Whatsapp, Google, Instagram, Snapchat, Skype usw. haben sie jedoch regelmässig keinen direkten Zugriff. Das neue BÜPF sieht daher eine Duldung möglicher Überwachungen durch alle – in der Schweiz ansässigen – "abgeleiteten Internetdienste" vor sowie eine Herausgabepflicht betreffend bei ihnen vorhandene Rand- und Identifikationsdaten (Art. 27 Abs. 1 und Art. 22 Abs. 1 und 3 BÜPF). Bei Schweizer Internetkommunikations-Anbietern, die Dienstleistungen von grosser wirtschaftlicher Bedeutung oder für eine grosse Benutzerschaft anbieten, bestimmt das Gesetz sogar noch, dass der Bundesrat inhaltliche Überwachungen (mit Verpflichtung zur Aufhebung eigener Verschlüsselungen der abgeleiteten Dienste) und Daten-Aufbewahrungspflichten vorsehen könne (Art. 27 Abs. 3 i.V.m. Art. 26 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 lit. c sowie Art. 22 Abs. 4 i.V.m. Abs. 2 BÜPF).
Der Bundesrat hat allerdings auf griffige gesetzliche Massnahmen, um die wichtigsten Provider mit Sitz bzw. Datenverwaltung im Ausland nach dem sogenannten Zugriffsprinzip zur Mitwirkung zu verpflichten, bisher bewusst verzichtet. Insbesondere will er keine Bestimmung einführen, wonach solche Dienstanbieter, die in der Schweiz regelmässig mit eigenen Niederlassungen Marketing betreiben, hier auch die Rand- und Identifikationsdaten der Schweizer Kunden verwalten (oder zumindest faktischen Zugriff auf die Daten haben) müssten. Nicht einmal Töchter von ausländischen IT-Giganten, welche bereits in der Schweiz ansässig sind und hier fleissig Schweizer Kundinnen und Kunden anwerben bzw. Marketing betreiben, möchte der Bundesrat in die Pflicht nehmen. Diese sind bisher nicht gesetzlich verpflichtet, sich über ihre Konzernmutter die Zugangsberechtigung für die Daten ihrer Schweizer Kundschaft zu beschaffen.
Nach bisheriger Ansicht des Bundesrates bestehe "kein Anlass dazu, dass Anbieterinnen, bloss weil sie abgeleitete Dienste bereitstellen, den gleichen Anforderungen wie die klassischen Fernmeldedienstanbieterinnen unterliegen" sollten. Anderslautende Schweizer Regelungen könnten "mangels Zuständigkeit gar nicht durchgesetzt werden". − Diese Argumentation überzeugt nicht. Geradezu verniedlichend und naiv wirkt die Ansicht des Bundesrates, marktbeherrschende Gosskonzerne wie Facebook oder Google würden "bloss" abgeleitete Dienste bereitstellen. Wenn ein ständig zunehmender Grossteil der Kommunikation über Produkte und Dienstleistungen dieser Konzerne läuft (z.B. Whatsapp, FB- und Instagram-Messenger, Google-Mails und -Chats oder Internettelefonie), darunter leider auch sehr viel anonyme Kommunikation mit kriminellem Hintergrund, dann drängt es sich im Gegenteil geradezu auf, diese Dienstleistungen einzubeziehen und wenigstens jene Daten (insbes. Daten, welche eine Identifizierung der Nutzer ermöglichen) zu beanspruchen, welche die Provider selber sammeln und verwalten. Der Schweizer Gesetzgeber ist auch durchaus dafür "zuständig", die Regeln zu bestimmen, nach denen Filialen von ausländischen Grossanbietern in der Schweiz Geschäfte betreiben und bewerben. In neueren Stellungnahmen des Bundesrates wird denn auch immerhin eingeräumt, dass grosse IT-Konzerne wirtschaftlich und technisch betrachtet die Funktion eigentlicher Fernmeldedienstleister innehaben. Eine förmliche Einstufung von grossen ausländischen Internetdiensten als "Fernmeldedienste" (im Sinne des BÜPF) durch den Dienst ÜPF (per "Merkblatt") löst den Konflikt mit dem völkerrechtlichen Territorialitätsprinzip aber in der Praxis nicht und ist auch rechtsstaatlich fragwürdig.
Nach den Ergebnissen der beiden (unabhängig voneinander erstellten) St.Galler Forschungsarbeiten hat die Revision des BÜPF an der bisherigen Rechtslage für grosse IT-Konzerne mit Datenspeicherung im Ausland grundsätzlich nichts geändert: Zwar ergibt sich eine gesetzliche Mitwirkungspflicht, wenn der Konzern "Dienste für sich in der Schweiz befindliche Personen" erbringt oder "sich gezielt an Personen in der Schweiz adressiert". Mitwirkungspflichtig sind jedoch nur jene Internetdienste, die einen Sitz oder eine Niederlassung in der Schweiz haben, welche die faktische oder rechtliche Kontrolle über die Daten ausüben. Faktische und rechtliche Kontrolle haben die jeweiligen Datenverwalter (z.B. FB Irland) bzw. die Konzernzentrale (z.B. FB USA). Für andere Tochterfirmen ausländischer IT-Giganten, also insbesondere reine Marketing- und Vertriebsfilialen in der Schweiz, gilt weiterhin die folgende Rechtslage:
Die Internationale Konvention zur Bekämpfung der Cyber-Kriminalität (CCC) orientiert sich noch stark am Territorialitätsprinzip. Dieses ist verhaftet im Nationalstaatendenken des 19. und 20. Jahrhunderts, welches noch von kontrollierbaren Staatsgrenzen mit bunt gestrichtenen "Schlagbäumen" und davor anhaltenden Postkutschen ausgeht. Eine solche internationalstrafrechtliche Sicht ist spätestens in Zeiten der grenzübergreifenden IT-Kriminalität schon fast rührend und hoffnunglos veraltet. Aufgrund des Territorialitätsprinzipes dürfen selbst die CCC-Signatarstaaten (z.B. die Schweiz) in den jeweiligen Partnerstaaten (z.B. den USA) keine direkten Datenerhebungen (auf nicht öffentlich zugänglichen Datenbanken) vornehmen. Einzelne regulatorische "Paradiese" für IT-Grosskonzerne wie Irland haben nicht einmal die (eher zahnlose) CCC ratifiziert. Wenn die Schweizer Strafbehörden ein Verbrechen aufdecken wollen, z.B. Terrorismus, Mord oder Kinderpornographie, welches mithilfe des Internets begangen oder vorbereitet wurde, müssen sie (gestützt auf die CCC) zunächst versuchen, die Schweizer Kundinnen und Kunden des betroffenen Internetdienstes (die allenfalls in den Kreis von Verdächtigen fallen könnten) um Zustimmung zur Datenerhebung (nach Art. 32 lit. b CCC) zu bewegen. Falls die Zustimmung (aus welchen Motiven auch immer) nicht erfolgt, kann noch versucht werden, die ausländische Datenverwaltung um Zustimmung zu bitten. Aus "Geheimnisschutz"- bzw. nahe liegenden Marketinggründen sind diese an einer freiwilligen Zusammenarbeit aber (verständlicherweise) meistens wenig interessiert.
Zwar wäre eine vom betroffenen Staat bewilligte grenzüberschreitende Datenerhebung mit dem Völkerrecht ("Territorialitätsprinzip") bzw. dem internationalen Strafrecht vereinbar. Eine solche Lösung setzt aber selbst nach der CCC auch noch eine Zustimmung der direkt betroffenen Kunden oder der ausländischen Datenverwaltung des betroffenen IT-Konzerns voraus. Falls eine solche freiwillige Datenherausgabe verweigert wird, bleibt der Strafbehörde nur noch der sehr langwierige und komplizierte Rechtshilfeweg.
Auch hier ergeben sich regelmässig Probleme. Selbst wenn Rechtshilfe geleistet wird, kommt sie oft zu spät, zumal die Daten-Aufbewahrungsvorschriften im Ausland oft lasch sind und die Verfahren oft viele Monate bzw. Jahre dauern. Bei Delikten wie z.B. Rassismus kommt noch dazu, dass ausländische Gerichte (insbesondere US-amerikanische oder irische Gerichte) die internationale Zusammenarbeit leider sogar in beunruhigendem Ausmass verweigern. Das kontinentaleuropäische Rechtsdenken bemüht sich um einen Ausgleich zwischen dem hochwertigen Grundrecht der Meinungsäusserungsfreiheit einerseits und dem notwendigen Schutz der betroffenen Menschen vor rassistischer und ehrverletzender Hetze und Verleumdung. Aus dieser Sicht trägt eine Verabsolutierung des "Freedom of (Hate) Speech" im angloamerikanischen und teilweise auch im skandinavischen Rechtskreis (Schweden hat die CCC ebenfalls noch nicht ratifiziert) Züge eines befremdlichen Grundrechtsfetischismus.
Einerseits darf ein Staat nicht einfach Zwangsmassnahmen auf ausländischem Hoheitsgebiet ergreifen. Anderseits muss er auf seinem Territorium sein Strafrecht durchsetzen können, auch gegenüber Personen und Gesellschaften, die im Inland wirtschaftlich tätig sind. Eine moderne Interpretation des Territorialitätsprinzips im Zeitalter des Cyberspace sollte daher an der faktischen wirtschaftlichen Betätigung ausländischer IT-Konzerne anknüpfen und damit einen gesetzlichen Zugriff auf dessen inländische Marketing- und Vertriebsfilialen zulassen.
Wie in den beiden St.Galler Forschungsarbeiten aufgezeigt wird, neigt auch die Praxis des Bundesgerichtes einem entsprechenden internationalstrafrechtlichen Zugriffsprinzip zu. Dem schweizerischen Gesetzgeber kann es nicht verwehrt sein, in der Schweiz domizilierte Vertriebs- und Marketingfilialen von ausländischen Diensten anzuweisen, sich die für eine ausreichende Mitwirkung (namentlich Nutzer-Identifizierung) benötigten Daten von ihrer Konzernzentrale oder von den ausländischen Datenverwaltern zu beschaffen. Dies müsste im BÜPF allerdings klar so geregelt werden. Dass ein angemessenes regulatorisches Vorgehen im Interesse der Rechtsstaatlichkeit und Verbrechensaufklärung durchaus möglich ist (solange die CCC noch keine Lösungen bringt), hat zum Beispiel Belgien bewiesen.
– Was müsste der schweizerische Gesetzgeber also tun, damit die Verfolgung von schweren Verbrechen wie Terrorismus, Drogenhandel oder Kinderpornographie nicht an der "Zustimmung" von Internet-Usern und ausländischen IT-Konzernen scheitert? Etwas mehr politischer Mut wäre gefragt. Die Vertriebs- und Marketinggesellschaften von ausländischen IT-Konzernen mit Sitz in der Schweiz müssten gesetzlich verpflichtet werden, sich den Datenzugang für ihre Schweizer Kunden (und die Berechtigung dazu) bei ihren ausländischen Muttergesellschaften zu beschaffen. – Sollte das bereits zu viel verlangt sein? Wird die internationalstrafrechtliche "Postkutsche" noch lange am Schlagbaum des veralteten Nationalstaatsdenkens angehalten?
2. September 2019 / © Prof. Dr. Marc Forster
Do
08
Nov
2018
Eine kürzlich an der Universität St. Gallen (Law School) erschienene Forschungsarbeit analysiert die Implikation von Schweizer Banken und Finanzintermediären, darunter Anwälten, in die Off-Shore-Aktivitäten der panamesischen Anwaltskanzlei Mossack Fonseca (Mossfon) im Lichte der sogenannten "Panama Papers". Konkret ging es insbesondere um die Gründung von zahlreichen "Briefkastenfirmen" bzw. nicht operativen Sitzfirmen sowie um treuhänderisch (bzw. über "Strohmänner") eröffnete und verwaltete Konten, Stiftungen und Gesellschaften ohne Deklaration der jeweils wirtschaftlich Berechtigten. Für die Vermittlung von (wirtschaftlich berechtigten) verdeckten Endkunden arbeitete Mossfon mit mehr als 14'000 "Intermediären" zusammen, darunter vielen Anwälten und Vermögensverwaltern, die zum grössten Teil aus Hongkong, Grossbritannien, der Schweiz und den USA stammten (vgl. Zoran Culjak, "Panama Papers" - Strafrechtliche und strafprozessuale Fragen mit besonderem Augenmerk auf die Grenzen des schweizerischen Anwaltsgeheimnisses, Masterarbeit Universität St.Gallen 2018, S. 4-11, zit. Untersuchung Panama Papers).
Die St. Galler Untersuchung erhellt Mossfons Verwicklungen in zahlreiche internationale Finanzskandale mit diversen "Politically Exposed Persons" (PEP), etwa beim dubiosen Firmennetzwerk von Cristina und Nestor Kirchner (Argentinien/USA-Nevada), bei den verdächtigen Eisenerz-Deals von Beny Steinmetz mit dem guineischen Diktator Lansana Conté (Guinea/Brasilien/Israel), bei der Beteiligung des zurückgetretenen isländischen Premierministers Sigmundur Gunnlaugsson an einer Gesellschaft auf den British Virgin Islands, bei den Korruptionsskandalen betreffend Petrobras und weitere beteiligte Firmen und Politiker (Brasilien), beim Korruptionsskandal um den ehemaligen pakistanischen Premierminister Nawaz Sharif (dubiose Immobiliengeschäfte in Grossbritannien), oder bei den Beteiligungen eines engen Freundes des russischen Präsidenten Vladimir Putin (nämlich des Musikers Sergej Roldugin) an Offshore-Gesellschaften, über die (gemäss den "Panama Papers" und darauf gestützen Medienberichten) hunderte Mio. USD aus Russland weggeschafft worden seien. Weitere Endkunden von Mossfon waren z.B. in Schmiergeldskandale verwickelte ehemalige Siemens-Manager, der ehemalige deutsche Geheimagent Werner Mauss, Angehörige des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, Angehörige von hohen Funktionären der chinesischen KP oder der ehemalige britische Ministerpräsident David Cameron (vgl. Untersuchung Panama Papers, S. 15).
Zu den Banken, die besonders intensiv mit Mossfon kooperierten, gehörten namentlich eine luxemburgische, zwei Schweizer Privatbanken, zwei Schweizer Grossbanken, zwei britische Finanzinstitute sowie eine französische und eine isländische Bank. Auffällig häufig betroffen waren Zweigniederlassungen diverser Banken in Luxemburg und auf den British Channel Islands. Sehr intensive und qualifizierte Kontakte zu Mossfon unterhielt namentlich auch die Deutsche Bank (vgl. S. 11 f.).
Laut Untersuchung war ein Schweizer Bürger als umtriebiger Juniorpartner bei Mossfon tätig. Nach Angaben der Eidgenössischen Steuerverwaltung können sodann rund 450 Endkunden (Personen und Gesellschaften) mit Sitz in der Schweiz mit den "Panama Papers" in Verbindung gebracht werden. Darunter finden sich mehrere hohe Funktionäre der FIFA (privatrechtlicher Verein mit Sitz in Zürich), etwa der aktuelle FIFA-Präsident Gianni Infantino (vgl. Untersuchung Panama Papers, S. 15 f.). Diverse Schweizer Finanzinstitute waren nicht nur in grossem Stil als Vermittler tätig, sondern führten teilweise auch direkt Bankkonten für verdeckte Mossfon-Endkunden (vgl. S. 15-18). Auch einige Schweizer Anwälte (insbesondere aus Genf und Zürich) tauchen in den "Panama Papers" als Vermittler und Verwalter von Offshore-Vehikeln auf oder als einschlägige Berater und Rechtsgeschäftsplaner (etwa bei Gründungen von Sitzgesellschaften).
Gemäss einer Stellungnahme der Meldestelle des Bundes für Geldwäschereiverdachtsfälle (MROS) haben seit den Medienberichten über die "Panama Papers" die Geldwäscherei-Verdachtsmeldungen stark zugenommen. Die Eidgenössische Finanzmarktausicht (FINMA) hat sodann bankenrechtliche Aufsichtsmassnahmen getroffen, indem sie bei ca. 20 Schweizer Banken vertiefte Abklärungen anordnete. Gegen die Gazprombank (Schweiz) hat sie wegen schweren Verstössen gegen das GwG (besonders im PEP-Fall Roldugin) sogar aufsichtsrechtliche Zwangsmassnahmen ergriffen (vgl. Untersuchung Panama Papers, S. 16-18).
Im Bereich der Vermittlung und besonders der Verwaltung von Offshore-Konstrukten deutet sich gemäss der St. Galler Untersuchung (gestützt auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtes und die neuere Literatur) eine deutliche Tendenz ab, den Schutz des Anwaltsgeheimnisses zu verneinen (besonders bei reinen "Briefkastenfirmen" und treuhänderischer Organtätigkeit) oder zumindest deutlich zu begrenzen. Die Rechtslage muss hier allerdings ‒ mangels klarer gesetzlicher Regelungen ‒ als vage und unübersichtlich bezeichnet werden, weshalb sich eine anwaltliche Tätigkeit mit Geheimnisprivileganspruch in diesen Bereichen zunehmend als heikle Gratwanderung erweist:
Gesellschaftsgründungen und andere Dienstleistungen, die sich auf die blosse standardisierte Erledigung von Formalitäten für "Briefkastenfirmen" und Scheinverwaltungen beschränken, fallen nicht unter den Schutz des Anwaltsgeheimnisses (vgl. Untersuchung Panama Papers, S. 38 f.). Auch bei Global- und Mischmandaten mit gewissen rechtsberatenden oder rechtsgeschäftlichen Elementen (z.B. Gesellschaftsgründung) einerseits und deutlichen Elementen der Vermögensverwaltung, Gesellschafts-Organtätigkeit, Vermögens- und Steuerberatung, Finanzproduktvermittlung oder Banken-Compliance anderseits, besteht eine hochproblematische Rechtsunsicherheit, die nach gesetzgeberischen Klärungen ruft (vgl. S. 47).
Bei der besonders folgenschweren Frage, welche anwaltlichen Tätigkeiten dem Geldwäschereigesetz (GwG) unterstehen und zu entsprechenden strafbewehrten Sorgfalts- und Meldepflichten führen, erweist sich die Rechtslage als nicht viel klarer: De lege lata gelten die anwaltliche Vermittlung, Gründung und Verwaltung von Offshore-Konstrukten zwar (per se) noch nicht als finanzintermediäre Tätigkeiten. Grosse Vorsicht ist jedoch geboten, wenn das "Startkapital" für die Gründung einer entsprechenden Sitzgesellschaft oder Stiftung über ein Konto des beteiligten Anwalts transferiert wird oder wenn dieser (nach dem Gründungsakt) die Gesellschaftsanteile in Form von Effekten (z.B. Aktien) über längere Zeit selber aufbewahrt. Als Finanzintermediäre gelten grundsätzlich auch Anwälte, die als Organe einer Offshore-Sitzgesellschaft bzw. eines Trusts (ohne eigentliche "kaufmännische" operative Wirtschaftstätigkeit) deren Vermögen bloss treuhänderisch (d.h. nach den Anweisungen des wirtschaftlich Berechtigten) verwalten bzw. ihren Zahlungsverkehr treuhänderisch organisieren. Dies kann im Einzelfall auch auf Immobiliengesellschaften zutreffen (vgl. Untersuchung Panama Papers, S. 42-45).
De lege ferenda dürfte (nicht zuletzt aufgrund der GAFI-Empfehlungen im die Schweiz betreffenden vierten Länderbericht von 2016) mittelfristig jede Mitwirkung von Anwälten bei der Errichtung oder Verwaltung von Offshore-Vehikeln als GwG-relevant eingestuft werden, insbesondere auch die ("rechtsgeschäftliche" und "rechtsberatende") Gründung von Offshore-Sitzgesellschaften.
Auch hier drängen sich gesetzgeberische Klärungen auf, zumal sich alle Anwälte, die in der finanzintermediären "Grauzone" tätig sind, einem schweren Dilemma von beruflichen Rechtspflichten aussetzen: Wenn sie Verdachtsgründe für Geldwäscherei nicht an die MROS melden, droht ihnen eine Strafverfolgung nach Art. 37 i.V.m. Art. 9 GwG (oder gar wegen Beihilfe zur Geldwäscherei). Wenn sie hingegen den Verdacht melden, droht ihnen Strafe wegen einer möglichen Verletzung ihres Berufsgeheimnisses (Art. 321 StGB) (vgl. Untersuchung Panama Papers, S. 45-47).
Umso mehr erstaunt es, dass einzelne Schweizer Anwälte offenbar weiterhin in der genannten "Grauzone" der Legalität als Offshore-"Intermediäre" tätig sind: Ende Juni 2018 (nach Abschluss der St. Galler Untersuchung und mehr als zwei Jahre nach Publikation der Panama Papers) sind weitere 1,2 Millionen E-Mails, Verträge und Firmendokumente von Mossfon aufgetaucht (sog. "Panama Papers 2"). Gemäss den dokumentierten Berichten eines international vernetzten Kollektivs investigativer Journalisten (ICIJ) ergebe sich daraus, dass einige Schweizer Anwälte, Vermögensverwalter und Treuhänder (insbesondere aus dem Kanton Genf), die schon über Mossfon zahlreiche Offshore-Vehikel betreuten, unterdessen mit einer anderen "einschlägigen" panamesischen Kanzlei im bisherigen Stil weiter ihre Geschäfte tätigen. Man darf darauf gespannt sein, ob und wie Politik, Strafbehörden und Berufsverbände auf entsprechende Informationen reagieren werden.
8. November 2018 / © Prof. Dr. Marc Forster
2. Nachtrag vom 10. September 2020:
Die Politik ist unterdessen wieder eingeknickt: Zwei im Parlament vertretenen Genfer Anwälten ist es (Anfang September 2020) gelungen, den Nationalrat zum Nichteintreten auf die "Lex Panama" zu bewegen (mit 107:89 Stimmen). Damit drohen dem Schweizer Dienstleistungs- und Finanzplatz und der überwältigenden Mehrheit der seriös arbeitenden Anwältinnen und Anwälte erhebliche Reputationsschäden, bloss weil ein paar "schwarze Schafe" unter ihnen weiter ungestört hochdubiose Offshore-Vehikel betreiben möchten. Die Schweizer Politik erweist sich als vergesslich und wenig lernfähig: Sie verhält sich wie vor 15 Jahren nach Ausbruch des Fiskalstreites USA-Schweiz, der bekanntlich zur Abschaffung des Bankgeheimnisses (im Fiskalverkehr mit dem Ausland) geführt hat. Politische und wirtschaftliche Selbstdemontage auf Druck von Partikulärinteressen (mit aggressiver Lobby) scheint eine typisch schweizerische Spezialität zu sein. Anders gesagt: Bei uns bestimmen die Böcke über die Gartenpflege.
1. Nachtrag vom 1. November 2019:
Die Politik hatte zunächst reagiert: Am 26. Juni 2019 verabschiedete der Bundesrat eine Botschaft (samt Entwurf) zur Änderung des GwG (BBl 2019 5451, sog. "Lex Panama"). Danach würden künftig auch für Anwälte gesetzliche Sorgfaltspflichten gelten, wenn sie als sogenannte "Beraterinnen" und "Berater" Dienstleistungen erbringen im Zusammenhang mit der Gründung, Führung oder Verwaltung von Sitzgesellschaften und Trusts. Sie wären sogar (neu) unter die geldwäschereigesetzliche Meldepflicht gefallen, wenn sie in einer (nicht berufstypischen) Geschäftstätigkeit als "Berater" Finanztransaktionen ausführen (vgl. Art. 2 Abs. 1 lit. c, Art. 8b und 8c, Art. 9 Abs. 1ter, 1quater und Abs. 2, Art. 9b Abs. 3, Art. 10a Abs. 5, Art. 11a Abs. 1-3, Art. 15, Art. 23 Abs. 5, Art. 30 Abs. 2 lit. a, Art. 32 Abs. 3, Art. 34 Abs. 1-2 und Art. 38 E-GwG; BBl 2019 5555-5565).
Fr
16
Mär
2018
Seit einigen Wochen berichten die Medien intensiv über das Mehrfach-Tötungsdelikt in Rupperswil, dem am 21. Dezember 2015 eine
Mutter, ihre beiden (13 bzw. 19 Jahre alten) Söhne und eine (21-jährige) junge Frau (Freundin des 19-Jährigen) zum Opfer fielen. Heute hat das Bezirksgericht Lenzburg das erstinstanzliche
Strafurteil gefällt: Es sprach den Beschuldigten Thomas N. schuldig des mehrfachen Mordes, der räuberischen Erpressung, der Geiselnahme, sexueller Handlungen mit
Kindern, der sexuellen Nötigung, strafbarer Vorbereitungshandlungen zu weiteren Morden sowie weiterer Delikte. Das Bezirksgericht verurteilte ihn zu einer
lebenslänglichen Freiheitsstrafe. Zudem erhält er eine ambulante Psychotherapie und wird er ordentlich verwahrt.
Angesichts der laut Bezirksgericht und Anklageschrift erdrückenden Beweislage gegen den beschuldigten Thomas N. (DNA-Spuren, Fingerabdrücke,
Geständnis usw.) geht allzu leicht vergessen, dass Polizei und Staatsanwaltschaft in den ersten Monaten nach der Bluttat noch völlig im
Dunkeln tappten und die Überführung mittels DNA-Spurenabgleich erst möglich wurde, nachdem die Ermittler Thomas N. als Verdächtigen hatten
identifizieren können. Die erfolgreiche Identifizierung des Beschuldigten (und damit das gesamte nachfolgende Beweisfundament) war aber wiederum erst aufgrund
einer digitalen "Rasterfahndung" mittels sogenannten "Antennensuchlaufs" zustande gekommen:
Bei der Rasterfahndung per Antennensuchlauf werden Verbindungs-Randdaten des mobilen Fernmeldeverkehrs von zunächst unbestimmt vielen (möglicherweise sehr vielen) Teilnehmern erfasst und (vorerst anonymisiert) abgeglichen, um aus den Randdaten der Mobilfunkantennen an den jeweiligen Tatorten und weiteren Ermittlungsergebnissen möglichst eine Schnittmenge von konkret verdächtigen Gerätebenutzern zu ermitteln (vgl. dazu Marc Forster, Antennensuchlauf und rückwirkende Randdatenerhebung bei Dritten, Bundesgerichtspraxis und gesetzliche Lücken betreffend Art. 273 und Art. 270 lit. b StPO, in: Jositsch/Schwarzenegger/Wohlers, Festschrift für Andreas Donatsch, Zürich 2017, S. 357 ff., 359 f.).
Im Fall Rupperswil war zunächst ermittelt worden, welche mobilen Fernmeldeanschlüsse in der Nähe des Tatortes im Tatzeitraum aktiv waren. Im Januar 2016 erhielt die Aargauer Kriminalpolizei die anonymisierten digitalen Rohdaten dieses Antennensuchlaufs. Es handelte sich zunächst um Zehntausende von Verbindungs-Randdaten bzw. registrierten Fernmelde-Aktivitäten sehr vieler mobiler Geräte. Aufgrund der Fachmeinung eines "Profilers" und weiteren Indizien ging die Polizei davon aus, dass die Täterschaft vermutlich selber in Rupperswil (oder naher Umgebung) wohnte. Um einen "Schnittmengen-Raster" herauszufiltern, wurde mit grossem Aufwand abgeklärt, welche der zahlreichen mobilen Geräte, die am Tatort und im Tatzeitraum aktiv waren, auch noch an anderen Antennenstandorten in Rupperswil regelmässig, d.h. über Monate hinweg, in Betrieb waren. Das waren dann nur noch wenige Geräte. In der Tat wohnte Thomas N. nur ca. 500 Meter vom Tatort entfernt. Und glücklicherweise war die Antennendichte in Rupperswil relativ hoch, so dass über die Antennen am Tatort und am Wohnort von Thomas N. eine Schnittmenge gebildet werden konnte (vgl. Forster, Antennensuchlauf, S. 358 f.).
Es besteht Grund zur Annahme, dass dieser Antennensuchlauf im Fall von Thomas N. weitere Opfer verhindert und einige Menschenleben gerettet hat:
Gemäss der 28 Seiten umfassenden Anklageschrift der Aargauer Staatsanwaltschaft habe der Beschuldigte sich schon bei der Bluttat vom 21. Dezember 2015 Zutritt zur Wohnung der Opfer verschafft, indem er sich mit einer gefälschten Visitenkarte als "Schulpsychologe Dr. Sebastian Meier" ausgegeben und ein weiteres gefälschtes Dokument (von ihm selbst verfasster vorgeblicher Brief einer Schulbehörde aus dem Kanton Aargau) vorgelegt habe. Bereits unmittelbar nach dem schweren sexuellen Missbrauch an einem der gefesselten Opfer, dem 13-jährigen Knaben, und nach der Tötung aller vier Opfer (per Kehlschnitt mit einem Messer) habe der pädosexuell veranlagte Thomas N. analoge Verbrechen an mindestens zwei weiteren Familien geplant und akribisch vorbereitet:
So habe der Beschuldigte nach dem gleichen Muster neue Briefe angefertigt, die vorgeblich von einer Schulbehörde
aus dem Kanton Solothurn bzw. einer Schulleiterin stammten. Am 27. Dezember 2015, sechs Tage nach der Bluttat, habe er im Internet nach einer Familie im Kanton Bern
recherchiert. In einem speziell angelegten Notizbuch habe er eigentliche "Fichen" angelegt über insgesamt
elf weitere Knaben, alle im Alter von ca. 11-14 Jahren. Darin habe er Photos der Knaben gesammelt und minutiös mit weiteren Informationen wie
Namen und Wohnorte ergänzt. Am 12. und 14. Januar 2016 habe er die von ihm ausspionierte Berner Familie auf deren
Festnetz-Telefonanschluss angerufen. Gemäss Anklage habe Thomas N. geplant, an dieser Familie (nach dem Muster von "Rupperswil") analoge Verbrechen zu begehen.
Damals tappte die Polizei hinsichtlich der Täterschaft noch vollständig im Dunkeln.
Ebenfalls Verbrechen nach dem gleichen Muster habe der Beschuldigte an einer weiteren Familie aus dem Kanton
Solothurn geplant und vorbereitet. Auch diese Familie habe er im Januar 2016 telefonisch angerufen (sich dabei aber am Apparat nicht gemeldet). Am 26. Januar 2016 habe er sich in das Wohnquartier der Familie begeben,
um deren Tagesablauf auszuspionieren. Damals befand sich die Polizei (gemäss ihren eigenen Medienmitteilungen) erst im Besitz von zehntausenden digitalen Rohdaten des Antennensuchlaufs. Die Identifikation eines Verdächtigen mittels der
technisch sehr aufwändigen hängigen Rasterauswertung war noch nicht erfolgt.
Am 11. Mai 2016 (unterdessen war er als Verdächtiger identifiziert) sei der Beschuldigte erneut in das Wohnquartier der Solothurner Familie gefahren. Wie bei der Bluttat von Rupperswil habe er im selben schwarzen Rucksack, den er schon damals verwendet habe, erneut die gefälschte Visitenkarte als "Schulpsychologe" bei sich getragen sowie ein gefälschtes Schreiben der Solothurner Schulbehörden. Ebenso habe er weitere Verbrechenswerkzeuge (vorbereitete Fesseln usw.) mitgeführt. Die Blutspuren seiner Opfer von Rupperswil am Rucksack habe er mit einem schwarzen Stift übermalt. Laut Anklageschrift habe er am 11. Mai 2016 von der Ausführung der geplanten und vorbereiteten neuen Verbrechen abgesehen. Am 12. Mai 2016 sei er verhaftet worden. Zu diesem Zeitpunkt habe sein Notizbuch die Namen von elf Knaben im Alter von 11-14 Jahren enthalten (vgl. dazu, mit Hinweisen auf die Anklageschrift, auch Neue Zürcher Zeitung vom 13. März 2018 S. 13; NZZ online vom 12. März 2018: "Ein zweites 'Rupperswil' konnte nur knapp verhindert werden").
Ohne Antennensuchlauf wäre Thomas N. vielleicht bis heute nicht identifiziert und gefasst worden.
Mit erheblicher Wahrscheinlichkeit wären aber -- zumindest laut Anklageschrift und erstinstanzlichem Strafurteil -- weitere Schwerverbrechen erfolgt, die Thomas
N. bereits akribisch vorbereitet habe: Am Tag vor seiner Verhaftung sei der Beschuldigte
bereits -- im wahrsten Sinne des Wortes -- vor der Tür weiterer anvisierter Opfer gestanden. Das Bezirksgericht hat den Beschuldigten daher auch wegen
strafbaren Vorbereitungshandlungen zu weiteren Morden und anderen Verbrechen verurteilt.
Das Bundesgericht hatte am 3. November 2011 in seinem Leitentscheid BGE 137 IV 340 die Rasterfahndung per Antennensuchlauf als grundsätzlich rechtmässige Untersuchungsmethode anerkannt (zu den Kriterien der Zulässigkeit dieser qualifizierten Randdatenerhebung des digitalen Fernmeldeverkehrs vgl. Forster, Antennensuchlauf, S. 359 f.). Da der Antennensuchlauf als Untersuchungsmassnahme nicht spezifisch und ausführlich im Gesetz geregelt ist, wurde das Bundesgericht für diesen Leitentscheid (in der juristischen Lehre) teilweise scharf kritisiert.
Leider hat es der Gesetzgeber auch in der am 1. März 2018 in Kraft getretenen letzten Revision des BÜPF und der StPO versäumt, eine klare gesetzliche Grundlage für den Antennensuchlauf (als qualifizierte Randdatenerhebung des digitalen Fernmeldeverkehrs) zu schaffen. Darauf ist in der Fachliteratur bereits ausdrücklich hingewiesen worden (vgl. Forster, Antennensuchlauf, S. 360).
Auch der Vorentwurf des
Bundesrates zur hängigen Teilrevision der StPO sieht keine Regelung des Antennensuchlaufs vor. Wenigstens soll die einfache Standort- und
Verkehrsranddatenerhebung bei Dritten (insbesondere Opfern von Delikten) spezifisch geregelt werden (vgl. Erläuternder Bericht EJPD zum VE StPO vom Dezember 2017, S. 38
Ziff. 2.1.41; zu diesem Revisionsvorschlag vgl. auch Forster, Antennensuchlauf, S. 360-367).
Dies betrifft allerdings eine andere Problematik.
Fazit: Pragmatische Gerichtsentscheide sowie kluge Ermittlungsstrategien von Kriminalpolizei und Strafbehörden können Menschenleben retten. Dies zeigt der Fall Rupperswil anschaulich. Bedauerlich ist, wenn in der Strafrechtsdoktrin das Bundesgericht faktisch für das Fehlen klarer gesetzlicher Grundlagen für digitale Überwachungen verantwortlich gemacht wird und nicht der dafür zuständige Gesetzgeber.
16. März 2018 / © Prof. Dr. Marc Forster
Do
06
Apr
2017
Derzeit wird öffentlich diskutiert, ob ein Facebook-User, der ein ehrverletzendes oder rassistisches Posting eines anderen Users mittels eines «Like» (Klick auf das «Daumen rauf»-Symbol) unterstützt, sich strafbar machen kann.
Die Ansicht, eine Strafbarkeit für den Absender des «Like» falle schon deshalb ausser Betracht, weil sein Verhalten von der Meinungsäusserungsfreiheit geschützt sei, geht am Strafrecht vorbei. Rassistische oder ehrverletzende Äusserungen und ihre Teilnahme daran sind von Gesetzes wegen gerade nicht von der Meinungsäusserungsfreiheit geschützt, sondern grundsätzlich strafbar (Art. 24-25, Art. 173 ff., Art. 261bis StGB).
Auch das Argument, ein Facebook-«Like» könne «mehrdeutig» sein bzw. sei nicht zwangsläufig als moralische Unterstützung gemeint, hilft wenig: Die strafrechtliche Relevanz eines Verhaltens ist nach objektivierten Kriterien zu prüfen. Die Behauptung, ein durchschnittlicher Facebook-User wisse nicht, was der «Like»-Button (bzw. das «Daumen rauf»-Symbol) bedeutet, erscheint wirklichkeitsfremd. Im Einzelfall wird ein Beschuldigter jedenfalls überzeugend darlegen müssen, inwiefern gerade er hier einem strafrechtlich relevanten «Irrtum» unterlegen sei bzw. das strafbare Posting gar nicht habe unterstützen wollen.
Aus strafrechtsdogmatischer Hinsicht stellt sich hier eine ganz andere Frage, nämlich die nach der Abgrenzung zwischen (strafloser) blosser Billigung einer Straftat und (strafbarer) psychischer Beihilfe (Art. 25 StGB) bzw. selbständigen Beihilfetatbeständen (des BT StGB). Die diesbezüglichen Kriterien sind nach herrschender Lehre und Praxis folgende:
Der psychische Gehilfe bestärkt den Täter seelisch in seinem Tatentschluss und erleichtert diesem damit die Durchführung der Straftat. Subjektiv muss der Gehilfe wollen oder zumindest in Kauf nehmen, dass er mit seinem unterstützenden Beitrag den Täter in dessen Tatentschluss (bzw. Dauertatverhalten) bestärkt (vgl. dazu Basler Kommentar StGB-Forster, Art. 25 N. 3). Zudem muss sich der Tatbeitrag des Gehilfen objektiv kausal auf den Erfolg der Haupttat auswirken; bloss versuchte Beihilfe ist nicht strafbar (BSK, Art. 25 N. 52). Die Unterstützung muss tatsächlich zur Straftat beitragen, ihre praktischen Erfolgschancen erhöhen und sich in diesem Sinne als kausal erweisen (sog. «Förderungskausalität»; BSK, Art. 25 N. 8).
Der Haupttäter muss aus dem Tatbeitrag somit einen konkreten praktischen Nutzen psychischer oder physischer Art ziehen, ansonsten fehlt es an einer Förderung der Haupttat. Blosse Billigung der Tat wäre noch keine psychische Gehilfenschaft (BSK, Art. 25 N. 10). Ein Facebook-«Like» kann die Haupttat auf zweifache Weise befördern: Erstens ist er dazu geeignet, den Urheber des Postings (Haupttäter) in seinem Tatentschluss bzw. Dauertatverhalten (Online-Halten des Postings) zu bestärken. Zweitens können «Likes» zudem zur weiteren Verbreitung der strafbaren Ehrverletzung oder rassistischen Hetze beitragen, indem andere User ermuntert werden, das Posting zu lesen (und evtl. ihrerseits zu liken und weiterzuverbreiten).
Primär ist bei den einzelnen in Frage kommenden Straftatbeständen jeweils zu prüfen, ob (über die
akzessorische Teilnahme, Art. 24-25 StGB, hinaus) ein selbständiger (täterschaftlicher) Beihilfetatbestand unter Strafe steht und erfüllt ist:
Beim Rassismustatbestand (Art. 261bis StGB) ist etwa an die Förderung rassistischer Propagandaaktionen oder an die öffentliche
Verbreitung rassistischer Ideologien zu denken (Abs. 2 und 3), bei Ehrverletzungen
an die Weiterverbreitung von übler Nachrede (Art. 173 Ziff. 1 Abs. 2 StGB). Diese selbständigen Beihilfetatbestände gehen der akzessorischen
Beihilfe als «leges speciales» vor
(BSK, Art. 25 N.
65). Auch der Versuch ist strafbar (BSK, Art. 25 N.
53).
Daraus ergibt sich (in den Grundzügen) folgendes Ergebnis:
Zu prüfen ist zunächst, ob ein ehrverletzendes oder rassistisches Posting einen selbständigen Beihilfetatbestand des BT StGB erfüllt. Akzessorische psychische Gehilfenschaft kommt (subsidiär) in Frage, wenn derjenige, der den «Like»-Knopf anklickt, will oder in Kauf nimmt, dass der Täter dadurch in seinem Tatentschluss (bzw. Dauertatverhalten) bestärkt wird. Zudem muss der «Like» das Dauerdelikt (objektiv) gefördert haben, d.h., er muss die Wahrscheinlichkeit erhöht haben, dass das Posting des Haupttäters weiter online bleibt bzw. weitere Beachtung findet.
Prof. Dr. Marc Forster, 6. April 2017
Mi
19
Okt
2016
Nach der mehrmals bestätigten
Rechtsprechung des Bundesgerichtes haben Beschuldigte, nachdem sie ein erstes Mal getrennt zur Sache befragt worden sind, grundsätzlich einen Anspruch auf Teilnahme an der Einvernahme von Mitbeschuldigten oder von Zeugen (Grundsatz der Parteiöffentlichkeit von Beweiserhebungen, Art. 147 Abs. 1 StPO). Vorbehalten ist ein
Ausschluss von der Teilnahme wegen Rechtsmissbrauchs (Art. 108 Abs. 1 lit. a StPO), etwa wenn der Beschuldigte die Teilnahme
dazu missbrauchen will, Einfluss auf Zeugen oder Mitbeschuldigte zu nehmen (Kollusion/Verdunkelung). Kein Rechtsmissbrauch liegt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes (und nach den Gesetzesmaterialien zur StPO) vor,
wenn lediglich eine prozesstaktisch legitime Anpassung des Aussageverhaltens des Beschuldigten droht: Dass der Beschuldigte sein weiteres Aussageverhalten den Aussagen von Mitbeschuldigten oder Zeugen anpassen
könnte (nachdem er ein erstes mal getrennt befragt wurde), lässt sein Teilnahmerecht nicht dahinfallen. Die Parteien dürfen ihre Verfahrensdispositionen der Entwicklung der Beweiserhebungen
anpassen.
In seinem Aufsatz in forumpoenale
2016 (Nr. 5
S. 281 ff., 287) vertritt Ulrich
Weder die
Ansicht, die betreffende Rechtslage sei im Lichte des Haftgrundes der Kollusionsgefahr (Art. 221 Abs. 1 lit. b StPO) "widersprüchlich und geradezu absurd". In Fällen mit Mitbeschuldigten sei es
"vor allem
die Gefahr der Beeinflussung, der
Absprache und der Anpassung von
Aussagen,
mit der welcher die Kollusionsgefahr
regelmässig begründet" werde. Wenn sich der Beschuldigte wegen Kollusionsgefahr in Haft befinde, aber trotzdem an Beweiserhebungen teilnehmen dürfe, könne dem Haftgrund "nur noch ungenügend
Rechnung getragen" werden. Dies sei "zweifelsohne widersprüchlich und grotesk".
Diesen Ausführungen ist zu widersprechen. Sie fussen auf einer Fehlinterpretation des Haftgrundes der Kollusionsgefahr. Falsch ist namentlich die Behauptung, die Gefahr einer prozesstaktischen "Anpassung von Aussagen" begründe bereits
einen Haftgrund
im Sinne der StPO:
Gemäss Art. 221 Abs. 1 lit. b StPO kolludiert ein Beschuldigter wenn er "Personen beeinflusst oder auf Beweismittel einwirkt, um so die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen". Damit ist insbesondere
die Beeinflussung von Zeugen oder Mitbeschuldigten gemeint oder die Manipulation bzw. Unterdrückung von Beweisunterlagen. Demgegenüber stellt die blosse Gefahr, dass ein
Beschuldigter seine eigenen
Aussagen den ihm bekannten Beweisergebnisen prozesstaktisch anpassen könnte (etwa den Aussagen anderer Befragter) nicht im Entferntesten einen Haftgrund dar. (Es erschiene sogar fraglich, ob hier überhaupt von "Kollusion" im Sinne der StPO gesprochen
werden könnte; das Gesetz meint mit der Beeinflussung von "Personen" andere Personen als den Beschuldigten, und mit der "Einwirkung auf Beweismittel" primär bestehende Beweisgegenstände.) Anders zu entscheiden hiesse, dass
praktisch jeder
Beschuldigte ohne weiteres
inhaftiert werden könnte, da grundsätzlich immer die Gefahr einer Anpassung an Beweiserhebungen (darunter Beweisaussagen Dritter) bestünde. Aber selbst in jenen Fällen, bei denen eine Beeinflussung von
Aussagen Dritter droht, liegt nach ständiger Praxis des Bundesgerichtes (und einhelliger Lehre) nicht automatisch ein Haftgrund vor. Zu verlangen sind
vielmehr konkrete
Indizien für eine erfolgte oder drohende Einflussnahme (vgl. zu dieser ständigen Praxis des Bundesgerichtes z.B. BSK StPO-Forster, Art. 221 N. 6-7).
Bei Art. 147 Abs. 1 StPO steht denn auch gar nicht die Gefahr im Vordergrund, dass der Beschuldigte die Aussagen von Mitbeschuldigten oder Zeugen (im Sinne von Kollusion) beeinflussen könnte: Würde der Beschuldigte
dies anlässlich seiner Teilnahme an Einvernahmen versuchen, hätte der die Einvernahme leitende Staatsanwalt (oder die Staatsanwältin) zunächst die Möglichkeit (und die Verpflichtung), Kollusionsversuche des Beschuldigten schon
im Ansatz aktiv zu
unterbinden. Falls der Beschuldigte sein Teilnahmerecht dennoch für Kollusionsversuche (weiter) missbrauchen würde, könnte die Staatsanwaltschaft ihn nötigenfalls von der Einvernahme ausschliessen (Art. 108 Abs. 1 lit. a StPO). Bei Art. 147 Abs. 1 StPO besteht die
einschlägige Gefahr nicht darin, dass der Beschuldigte andere Aussagen und Beweismittel verfälscht oder beeinflusst, sondern dass er seine eigenen künftigen Aussagen an das Aussageverhalten der Mitbeschuldigten prozesstaktisch anpasst. Hier überhaupt von "Kollusion" zu reden, erscheint schon
strafprozess-dogmatisch fragwürdig. Krass falsch wäre jedenfalls die Gleichsetzung des Haftgrundes der Kollusionsgefahr mit der Problematik der prozesstaktischen Anpassung von Beweisaussagen.
Nach der Regelung der StPO führt die blosse Gefahr, dass ein Beschuldigter seine Aussagen denjenigen von Mitbeschuldigten anpassen könnte, weder zu einem Haftgrund, noch zu einem Ausschluss bei den Einvernahmen. Umgekehrt führt Untersuchungshaft wegen Kollusionsgefahr auch nicht automatisch zu einem Ausschluss des Inhaftierten von jeglichen Beweiserhebungen: Dass
ein Beschuldigter in einem ganz anderen
Zusammenhang wegen Kollusionsgefahr in Haft ist (z.B. wegen telefonischer Zeugenbeeinflussung oder Unterdrückung von Beweisurkunden), rechtfertigt es nicht, ihm das Parteirecht auf
Teilnahme an der Einvernahme von Mitbeschuldigten zu verweigern. Vorbehältlich einer rechtsmissbräuchlichen Inanspruchnahme stehen die Verteidigungsrechte gerade auch den inhaftierten Beschuldigten zu.
Im Ergebnis erscheint mir nicht das Teilnahmerecht von Mitbeschuldigten gemäss Art. 147 Abs. 1 StPO "widersprüchlich und absurd", sondern, wenn schon, eine kurzschlüssige Vermischung des
Haftgrundes der Kollusionsgefahr mit der Problematik der prozesstaktischen Anpassung von Beweisaussagen.
Prof. Dr. Marc Forster/19. Oktober 2016
Mi
06
Apr
2016
In Medienberichten zu den "Panama Papers" wird behauptet, Schweizer Anwälte und Treuhänder dürften selbst Personen, gegen die international strafrechtlich ermittelt
wird, "helfen, schmutzige Vermögen zu
verschieben und sich hinter Offshore-Vehikeln zu verstecken" (Tages-Anzeiger und Der Bund vom 6. April 2016, als "Fazit" je auf S. 3, s.a. online). Dies, weil nur Finanzintermediäre dem GwG
unterstellt seien. Dieser Ansicht ist aus strafrechtlicher Warte zu widersprechen:
Zwar stimmt es, dass nur Finanzintermediäre (wie z.B. Banken) dem GwG direkt unterstellt sind. Auch der Straftatbestand der mangelnden Sorgfalt (oder der Verletzung von Meldepflichten) bei
Finanzgeschäften (Art. 305ter StGB) ist nur auf Finanz-intermediäre anwendbar (zur Bankencompliance s. Tamara Taube, Entstehung, Bedeutung und Umfang der Sorgfalts-pflichten der
Schweizer Banken bei der Geldwäscherei-prävention im Bankenalltag, Diss. SG 2013, pdf).
Nicht einfach übersehen werden darf dabei zunächst jedoch Art. 305bis Ziff. 1 i.V.m. Art. 25 StGB: Der Gehilfenschaft zu Geldwäscherei macht sich strafbar, wer
einen kausalen Tatbeitrag zu
Handlungen liefert, die geeignet sind, die Ermittlung der Herkunft, die Auffindung oder die Einziehung
von Vermögenswerten zu vereiteln, die, wie er weiss oder annehmen muss, aus einem Verbrechen oder aus einem qualifizierten Steuervergehen herrühren. Anwälte oder Treuhänder, die entsprechende logistische Vorkehren treffen, z.B. helfen, Tarnfirmen zu gründen, Strohmänner einzusetzen, Konten zu eröffnen oder
hohe Bargeldsummen zu transferieren usw., obwohl sie konkrete Hinweise auf einen entsprechenden deliktischen Hintergrund haben, können sich grundsätzlich strafbar machen. Die Bestechung von Amtsträgern zum Beispiel ist in der Schweiz schon seit langem
ein Verbrechen
(Art. 322ter-322octies StGB).
Auch qualifizierte
Steuer-vergehen (Art. 305bis Ziff. 1 und 1bis StGB) gelten jedenfalls seit dem 1. Januar 2016 als Vortaten der Geldwäscherei.
Falsch wäre sodann die Auffassung,
Anwälte könnten sich im Bereich ihrer sogenannten akzessorischen Geschäftstätigkeit (z.B. Verwaltungsratsmandate, Vermögensverwaltung, Inkassomandate usw.) auf
ihr Berufsgeheimnis (Anwaltsgeheimnis) berufen. Es gibt Fälle, bei denen Anwälte selbst als Finanzintermediäre akzessorisch tätig sind. Diese sind gesetzlich
verpflichtet, Geldwäschereiverdachtsfälle zu melden (Art. 9 Abs. 1 GwG) und sich einer Selbstregulierungsorganisation anzuschliessen (Art. 14
Abs. 3 GwG; BGE 132 II 103 E. 2.2 S. 105 f.). Auch fallen sie unter die Strafdrohung nach Art. 305ter StGB. Dies betrifft Anwälte, welche berufsmässig fremde Vermögenswerte annehmen oder aufbewahren
oder helfen, sie anzulegen oder zu übertragen (Art. 2 Abs. 3 GwG).
Geldwäschereiverdacht (i.S.v. Art. 305bis Ziff. 1 StGB und Art. 27 Ziff.
1 lit. c und e GwUe) kann insbesondere vorliegen, wenn eine auffällige Verknüpfung geldwäschetypischer Vorkehren besteht. Dies ist etwa der Fall, wenn hohe Geldbeträge über komplexe Kontenbewegungen unter zahlreichen involvierten Personen und Firmen in verschiedenen Ländern, darunter typischerweise sogenannte "Offshore"-Gesellschaften, verschoben wurden und für diese komplizierten
Transaktionen kein wirtschaftlicher Grund
ersichtlich ist. Auch ungewöhnliche Transaktionen mit hohen Bargeldbeträgen sind verdächtig oder Finanztransaktionen im konkreten Umfeld von massiven Korruptionsfällen (vgl. dazu M. Forster, in: Basler Kommentar Internationales Strafrecht, 2015, Art. 27 GwUe N. 9; derselbe, Internationale Rechtshilfe bei Geldwäschereiverdacht, ZStrR 2006, S. 274–294).
Prof. Dr. Marc Forster / 6. April 2016
Di
17
Nov
2015
A) Falsch ist zunächst die Annahme, Aufrufe zu terroristischer Gewalt auf Facebook und ähnlichen sozialen Netzwerken seien nicht strafbar: Anders als die öffentliche Aufforderung zu Verbrechen oder Gewalt
(Art. 259 StGB) oder (bei den meisten Tatbestandsvarianten) der Rassismustatbestand (Art. 261 StGB) setzt der Straftatbestand der Unterstützung einer kriminellen Organisation (Art. 260ter Ziff. 1
Abs. 2 StGB) keine "öffentlichen" Aeusserungen voraus.
Analoges gilt für das am 1.1.2015 (dringlich) in Kraft gesetzte
Bundesgesetz über das Verbot der Gruppierungen "Al-Qaïda" und "Islamischer Staat" sowie verwandter Organisationen (SR 122). Danach wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder
Geldstrafe bestraft, wer sich auf dem Gebiet der Schweiz an einer der genannten Gruppierungen oder Organisationen beteiligt, sie personell oder materiell unterstützt, für sie oder ihre Ziele
Propagandaaktionen organisiert, für sie anwirbt oder ihre Aktivitäten auf andere Weise fördert.
B) Unzutreffend ist auch die Ansicht, die Urheber strafbarer anonymer Aeusserungen auf privaten oder öffentlichen Internetseiten könnten durch die Strafverfolgungsbehörden leicht identifiziert werden: Wenn z.B. Urheber von Facebook-Postings oder von
Aeusserungen auf öffentlich zugänglichen Webseiten mit den Inhabern der Web-Accounts identisch sind oder wenn die Urheber der Posts sich nicht anonym äussern, können die Strafverfolgungsbehörden die Verdächtigen regelmässig identifizieren. Bei
allen anonymen Aeusserungen auf Netzwerken hingegen, deren Daten (IP-Histories usw.) in den USA gespeichert werden (z.B. Facebook, Google usw.),
ist es den Schweizer (und anderen
nichtamerikanischen) Strafverfolgungsbehörden aus technischen Gründen nicht möglich, die Urheber zu eruieren. Dafür braucht es mühsame Rechtshilfegesuche an die USA, welche die Strafverfolgung sehr erschweren (vgl. dazu meinen
unten angefügten Aufsatz in der Festschrift zum Schweizerischen Juristentag 2015).
C) Naiv ist schliesslich auch der
Glaube, die Geheimdienste (oder Strafverfolgungsbehörden) hätten die Kommunikation der terroristischen Attentäter von Paris leicht überwachen können: Verschlüsselte mobile
Internetkommunikation (z.B. Internettelefonie, Whatsapp, Skype) kann derzeit nur mittels "Staatstrojanern" bzw. Spezialsoftware (GovWare) überwacht werden, die zudem auf die Kommunikationsgeräte
von verdächtigen Personen (zuerst) eingeschleust werden müssen. Dies ist bei hunderten bzw. tausenden von verdächtigen Personen im präventiven Vorfeld von
Attentaten praktisch gar nicht
möglich; zudem
wäre es mit enormen Kosten
verbunden.
Daraus erklärt sich auch, weshalb nicht einmal der französische Geheimdienst in der Lage war, die Pariser Attentate und die damit verbundene Kommunikation der Täter und Komplizen (sehr
wahrscheinlich über verschlüsseltes mobiles Internet) zu überwachen. Die Gegner der in der Schweiz hängigen Gesetzesrevision zu den Ueberwachungsmassnahmen scheinen diese Zusammenhänge entweder
noch nicht zu kennen oder nicht wahrhaben zu wollen.
Prof. Dr. Marc Forster / 17.
November 2015
Nachtrag vom 19.11.15: Gemäss den Medienmitteilungen der
Pariser Staatsanwaltschaft haben die Attentäter noch bis unmittelbar vor den Anschlägen vom 13.11.15 miteinander über Mobiltelefone kommuniziert. Aufgrund der
nachträglich ermittelten GPS-Daten bzw. der Antennennstandorte eines in der Nähe des Bataclan sichergestellten Handys konnte die Polizei die konspirative Wohnung in Saint-Denis ausfindig machen,
welche am 18.11.15 von der Polizei gestürmt wurde (mit zwei getöteten und acht verhafteten Terrorverdächtigen).
Do
15
Okt
2015
Es ist einfach nur traurig. Da hetzt ein politischer Extremist in der Schweiz aus rassistischen Motiven systematisch gegen die Armenier, indem er
den historisch belegten Genozid leugnet bzw. rechtfertigt und das Gedenken der Opfer und ihrer Nachkommen lächerlich zu machen versucht. Und der Europäische Gerichtshof findet, ein Staat wie die
Schweiz, der solches Verhalten unter Strafe stellt und angemessen mit einer Geldstrafe büsst, verletze die Menschenrechte. Das Tolerieren von rassistischer Hetze gehöre eben -- so der EGMR in
seinem heutigen Entscheid in zweiter Instanz -- zu einem "demokratischen Rechtsstaat". Dies unterscheide ihn von "Diktaturen" und "totalitären Systemen". Der EGMR behauptet, es gebe "keinen
Konsens" über den Völkermord an den Armeniern. Damit führt er die Öffentlichkeit in die Irre: Er unterschlägt, dass es bloss an einem politischen Konsens (leider) bisher fehlt.
Das ist aber juristisch völlig unerheblich. In der Schweiz werden keine Urteile aufgrund politischer Anschauungen gefällt, sondern aufgrund von wissenschaftlichen Fakten. Unter ernstzunehmenden
Historikern (dazu gehören weder Herr Perinçek noch andere dubiose Hobby- bzw. Auftrags-Historiker) sind die wesentlichen Fakten zum Armenier-Genozid nicht umstritten. Nur wenig
tröstlich ist, dass das Urteil selbst unter den Richtern der Grossen Kammer des EGMR sehr umstritten war: Es fiel mit 10 zu 7 Stimmen zugunsten des
Genozidleugners aus.
Das Zeichen, das der EGMR offenbar aus politischer Rücksichtnahme setzt, ist fatal. Rassistische Hetze gehört nicht unter den Schutz der Menschenrechte gestellt, sondern strafrechtlich verfolgt.
Dass die in den Augen der EGMR-Richtermehrheit offenbar "totalitäre" und "meinungsäusserungsfeindliche" Schweiz dies tut, erfüllt mich als Staatsbürger und Jurist mit Stolz. Erfreulicherweise
beschreitet die Schweiz diesen Weg nicht ganz alleine: Andorra, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Malta, Mazedonien, die Slowakei, Slowenien, Ungarn, Zypern und die Schweiz stellen
nicht nur das Leugnen des Holocaust unter Strafe, sondern das rassistisch motivierte öffentliche Leugnen sämtlicher Genozide. -- Könnte es sein, das kleinere Staaten in diesem
Punkt ein besonders sensibles kriminalpolitisches Gespür unter Beweis stellen?
Marc Forster, 15.10.2015
Mi
27
Mai
2015
In einem Interview vom 27.05.2015 mit dem Tagesanzeiger.ch/Newsnet zu den Verhaftungen von sieben hochrangigen FIFA-Funktionären und zur
Aktenbeschlagnahmung am FIFA-Sitz in Zürich durch die Bundesanwaltschaft (BA) äussert Prof. Mark Pieth sein Erstaunen darüber, dass sich die Schweizer Justiz von
den USA habe "einspannen" lassen. Es handle sich um eine "Kombination aus der schweizerischen und der US-Justiz". Die "Initiative" sei dabei "von den USA" ausgegangen. -- Dieser
Einschätzung ist teilweise zu widersprechen:
Die BA ist nicht erst auf Initiative der USA (und schon gar nicht aufgrund des amerikanischen Festnahmeersuchens gegen FIFA-Funktionäre) aktiv geworden. Die USA verfolgen (laut Medienmitteilung ihres Justizministeriums) primär jahrzehntelange Bestechung von FIFA-Funktionären bei der Vergabe von Medien-, Vermarktungs- und Sponsoringrechten. Das Auslieferungsersuchen (präziser: das Festnahmegesuch) an die Schweiz betrifft diese Korruptionsvorwürfe der US-Justiz. Separat dazu hatte die BA aber bereits eine eigene (Schweizer) Strafuntersuchung eingeleitet wegen mutmasslichen Straftaten im Zusammenhang mit der Vergabe der WM-Turniere 2018 an Russland und 2022 an Qatar. Die FIFA hat diesbezüglich am 18. November 2014 selber Strafanzeige bei der BA eingereicht. Nach Medienmitteilungen der BA gehe es hier primär um ungetreue Geschäftsbesorgung zum Nachteil der FIFA. Zutreffend ist, dass die US-Strafverfolgungsbehörden und die BA ihre separaten Strafuntersuchungen koordinieren und sich (im Rahmen der völkerrechtlichen Regelungen) gegenseitig Rechtshilfe gewähren (insbes. Auslieferungen, Kontensperren, Herausgabe von Geschäfts- und Bankunterlagen).
Das neue Korruptionsstrafrecht (mit der vorgeschlagenen Neuregelung der Privatkorruption als
Offizialdelikt des StGB), welches ab nächster Woche im Parlament beraten wird, dürfte für die genannten Untersuchungen in den USA und der Schweiz keine
Auswirkungen mehr haben: Für die Strafbarkeit sind die Strafnormen im Zeitpunkt der untersuchten Delikte massgeblich. Die beidseitige Strafbarkeit (als
Voraussetzung für eine allfällige Auslieferung oder Aktenherausgabe an die USA) bestimmt sich grundsätzlich nach den geltenden Strafnormen im Zeitpunkt des Rechtshilfeersuchens.
Das neue Recht wird insofern zu spät kommen.
Prof. Dr. Marc Forster, 27. Mai 2015 ©
Nachtrag zum neuen Privatkorruptionsstrafrecht:
In seinem Urteil 1C_143/2016 vom 2. Mai 2016 (BGE-Publikation) hat das Bundesgericht bestätigt, dass bei Privatbestechung das Auslieferungserfordernis der
beidseitigen Strafbarkeit gestützt auf die (damals noch anwendbaren) Bestimmungen des
UWG (Art. 4a) grundsätzlich erfüllt war. Das
Strafantrags-Erfordernis des UWG liess die beidseitige Strafbarkeit nicht dahinfallen. Knapp zwei Monate nach diesem Urteil, nämlich am 1. Juli 2016, sind die
neuen StGB-Bestimmungen über Privatkorruption in Kraft getreten (Art. 322octies und novies StGB). Diese sind nun zwar als Offizialdelikte ausgestaltet, aber
lediglich als Vergehen, sodass Geldwäscherei an Privatkorruptionsgeld weiterhin nicht strafbar ist. Wenn die Bestechungshandlungen (wie meist
üblich) nicht in der Schweiz erfolgen, besteht auch praktisch keine Strafverfolgungszuständigkeit der schweizerischen Justiz. Ein weiteres schwer verständliches
Schlupfloch findet sich auch noch in Art. 322decies Abs. 1 lit. a StGB: Wenn die FIFA (oder eine andere "gefährdete" Organisation oder Gesellschaft) die
Privatbestechung seiner Mitarbeiter und Funktionäre "vertraglich genehmigt", ist diese straflos...
Prof. Dr. Marc Forster, 5. Oktober 2016 ©
Mo
05
Jan
2015
In letzter Zeit häufen sich Stellungnahmen der Bundesan-waltschaft (BA), die auf eine juristische Fehleinschätzung von Art. 260ter StGB (Strafbarkeit
der Unterstützung bzw. Beteiligung an einer kriminellen Organisation) schliessen lassen. Schon an einer Medienkonferenz von Ende August 2014 liess der Bundesanwalt verlauten,
die «blosse Mitgliedschaft» bei einer mafiösen Organisation sei in der
Schweiz «nicht strafbar», weshalb
bei italienischen Rechtshilfeersuchen an die
Schweiz Probleme (mit dem Rechtshilfeerfordernis der beidseitigen Strafbarkeit) entstünden. Laut
Medienberichten vom 4. und 5. Januar 2015 («NZZ am Sonntag») doppelte die BA kürzlich im gleichen Sinne nach: Laufende Untersuchungs- verfahren wegen «blosser Mitgliedschaft» würden künftig von
der BA automatisch eingestellt. Ein Strafverfahren werde nur noch durchgeführt, «wenn Hinweise auf konkrete Unterstützungshandlungen für eine mafiöse Organisation» vorliegen («Tages-Anzeiger» vom 5. Januar 2015, S. 3). Laut Bundesanwalt Michael Lauber reiche «die reine Mitgliedschaft bei einer kriminellen Organisation für eine Verurteilung nicht aus».
Darin sei sich sich «die herrschende Lehre einig». Es brauche den «Nachweis, dass die Beschuldigten die Organisation konkret in ihrer
kriminellen Aktivität unterstützt haben» (http://www.nzz.ch/nzzas/nzz-am-sonntag/wir-machen-keine-abenteuer-mehr-1.18454252).
Dieser mehrfach in den Medien verbreitete Standpunkt
der BA erscheint juristisch und kriminalpolitisch sehr bedenklich und lässt auf eine grundsätzliche Fehleinschätzung der Rechtslage schliessen.
Die Beteiligung an einer mafiösen Organisation (Art.
260ter Ziff. 1 Abs. 1 StGB) ist keineswegs eine Art «geringere» Form der organisierten Kriminalität. Eher trifft das Gegenteil
zu: Ein Mitglied einer kriminellen Organisation zu sein, ist mindestens so strafwürdig, wie die (blosse) punktuelle Unterstützung (Art. 260ter
Ziff. 1 Abs. 2 StGB) durch einen
aussenstehenden Helfer. Beide Varianten werden denn auch vom Gesetz unter den gleichen
Strafrahmen gestellt. Für
überführte Mafiamitglieder dürfte das konkrete Strafmass in der Regel sogar höher ausfallen als für
(jedenfalls nicht sehr wichtige) blosse Unterstützer. Mir ist kein Strafrechtsexperte bekannt, der nur die konkrete Unterstützung der Mafia, nicht aber die «blosse» Mitgliedschaft als strafbar
ansehen würde. Von einer entsprechenden «herrschenden Lehre» (im Sinne der Ausführungen der BA) kann noch viel weniger die Rede sein.
Wie den neusten Medienberichten indirekt zu entnehmen ist, könnte die irreführende Aussage der BA eine bewusste Provokation sein,
um politische Unterstützung für eine Verschärfung der StPO
zu generieren: Die vorgeschlagenen schärferen Instrumente (Verweigerung der
Verteidigung der ersten Stunde, Verweigerung einer nachträglichen Mitteilung der Telefonüberwachung usw., s.
«Tages-Anzeiger» vom 5. Januar 2015, S. 3)
werfen rechtsstaatliche Bedenken auf und dürften auf politischen Widerstand stossen. «Absurd» (so die Einschätzung von Ex-Staatsanwalt Paolo Bernasconi) sind die
aktuellen Regelungen keineswegs, auch nicht in Fällen mit Mafiabezug und auch nicht vor dem durchaus zutreffenden Hintergrund, dass der rechtsgenügliche
(beweisrechtliche) Nachweis einer Mafia-Mitgliedschaft oft schwierig
ist. Wenig sachgerecht erscheint in dem Zusammenhang auch, dass die BA und Teile der
Medien Einstellungen von Untersuchungen (z.B. mangels ausreichenden Beweisen) offenbar als peinliche «Niederlage» missverstehen, anstatt
sie als eine mögliche gesetzliche Erledigungsvariante von sorgfältigen rechtsstaat- lichen Untersuchungen zu erkennen. Die Mentalität, in heiklen Fällen lieber gar nicht erst anzuklagen,
als einen Freispruch zu «riskieren», ist vom US-amerikanischen kompetitiven Rechtsdenken
und von sachfremdem medialem Druck auf die
BA geprägt und dem schweizerischen Strafverfahrensrecht wesensfremd.
Prof. Dr. Marc Forster, 5. Januar 2015
Mi
22
Jan
2014
Nach Medienberichten, die auf der Auswertung von «Offshore-Leaks»-Daten durch das International Consortium of Investigative
Journalists (ICIJ) mit Sitz in
Washington gründen, waren Schweizer Grossbanken in den Jahren 2005/2006 in Geschäfte mit engen Fami- lienangehörigen des damaligen chinesischen Premierministers invol- viert. Dabei handelt es
sich um sogenannte «Politically Exposed Per- sons» (PEPs), für die strenge bankenaufsichtsrechtliche und straf- rechtliche Sorgfaltsregeln gelten.
Die für die Schweiz geltende aktuelle Definition von PEP findet sich in Art. 2 lit. a der (2010 erlassenen) Geldwäschereiverordnung der
FINMA (GwV, SR 955.033.0). PEPs sind Personen
mit prominenten
öffent- lichen Funktionen im Ausland, wie etwa Staats- und Regierungs- chefs oder hohe Politiker und Amtsträger, sowie
auch Unternehmen und dritte Personen, etwa
Familienangehörige oder wirtschaftlich Be- vollmächtigte (bzw. enge Geschäftspartner), die solchen Personen er- kennbar nahe stehen. PEP-Geschäftsbeziehungen
sind für die Banken mit erhöhten Haftungs- und Reputationsrisiken verbunden. Dies besonders dann, wenn es sich um
Angehörige von Machthabern aus Staaten mit hohen Korruptionsraten (oder massiven rechtsstaat- lichen Defiziten) handelt.
Eine Verpflichtung der Banken zu entsprechenden Abklärungen und Vorsichtsmassnahmen bei der
Aufnahme und Pflege von PEP-Ge-schäftsbeziehungen besteht nicht erst seit 2010. Schon 1998 (nach Bekanntwerden der grotesken Korruptionsfälle
Mobutu und Abacha) entschied die damalige Eidgenössische Bankenkommission, die
Sorgfaltsvorschriften von Geschäftsbeziehungen mit PEPs zu vertiefen. Ende 2001 verabschiedete der Basler Ausschuss (Basel Committee on Banking Supervision of the Bank for International Settlements) Mindeststandards zur Kundenidentifizierung. Die Schweiz (vertreten durch FINMA und Nationalbank) war an der Ausarbeitung dieser Standards
massgeblich beteiligt und initiierte beispielsweise die Regel, dass Geschäftsbeziehungen mit PEPs nur mit Zustimmung des obersten
Geschäftsführungsorgans eingegangen werden dürfen. 2002 wurden die einschlägigen überarbeiteten Wolfsberg-Prinzipien (unter
Mitwirkung u.a. von UBS und CS) verabschiedet. 2003 übernahm die Schweiz die 40 Empfehlungen der FATF zur Geldwäscherei-
prävention, darunter auch die Empfehlung Nr. 6 betreffend PEPs (Erkennung von PEP-Kundenbeziehungen, Bewilligung durch die
oberste Geschäftsführung, zusätzliche Abklärungen in Bezug auf die Herkunft der Vermögenswerte sowie
fortlaufende Überwachung der Geschäftsbeziehungen zu PEPs). Künftig werden der
PEP-Begriff und die betreffenden Sorgfaltspflichten direkt im Geldwäschereigesetz (GwG, SR
955.0) definiert und geregelt sein (vgl. Botschaft des Bundesrates zur Umsetzung der 2012 revidierten Empfehlungen der FATF, BBl 2014, 605 ff., 620
ff.).
Bei den in den Medien dargelegten Geschäftsverbindungen von Grossbanken mit nahen Angehörigen des damaligen chinesischen Premierministers waren besonders strenge
Compliance-Regeln zu beachten. Dies umso mehr, als der Premierminister (zwischen 2003 und
2013) aktiv im
Amt war. Solche Geschäftsverbindungen fallen Compliance-rechtlich in die höchste Risikoklasse. Im Fall «China-Leaks» stellt sich primär die Frage, ob die Banken die detaillierten Sorgfaltsvorschriften eingehalten haben, welche der Prüfung (und periodischen Vergewisserung) dienen, dass die angelegten Vermö- genswerte und betreuten
Geschäfte legaler
Herkunft und Ausrichtung sind. Die Prüfung, ob dabei aufsichtsrechtliche Vorschriften verletzt wurden, obliegt der
FINMA.
Geschäftsbeziehungen mit PEPs gelten in jedem Fall
als Kundenkon- takte mit erhöhtem Risiko (Art. 12 Abs. 3 GwV). Abzuklären hat die Bank namentlich, ob ihre Vertragspartei an den eingebrachten Vermö- genswerten
wirtschaftlich berechtigt ist, die Herkunft der einge- brachten Vermögenswerte, der Verwendungzweck abgezogener
Vermögenswerte, die Hintergründe und die Plausibilität grösserer Zahlungseingänge, der Ursprung des
Vermögens der Vertragspartei und
der wirtschaftlich berechtigten Person, die berufliche oder geschäftliche Tätigkeit
der Vertragspartei und der wirtschaftlich
berechtigten Person, ob es sich bei der Vertragspartei oder der wirtschaftlich berechtigten Person um eine PEP handelt, und bei juristischen Personen, wer diese faktisch
beherrscht (Art. 14 Abs. 2 GwV). Das oberste
Geschäftsführungsorgan der Bank (oder mindestens eines seiner Mitglieder) entscheidet
über die Aufnahme von Geschäftsbeziehungen mit PEPs und alljährlich
über deren Weiterführung (Art. 18 Abs. 1 lit. a GwV).
Wenn die Verantwortlichen es unterlassen, die Identität des wirtschaftlich Berechtigten mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt
abzuklären, machen sie sich (nach Art. 305ter Abs.
1 StGB) strafbar. Die Sorgfaltsmassstäbe werden in Art. 3-8 des Geldwä- schereigesetzes sowie in der GwV
konkretisiert (insbes. betreffend PEPs). Falls sich aufgrund der gebotenen Abklärungen ein Verdacht auf Geldwäscherei ergibt, indem die eingebrachten Vermögenswerte z.B. aus Korruption oder ungetreuer Amtsführung stammen könnten, ist die Bank verpflichtet, eine Verdachtsmeldung an die Meldestelle des Bundes zu erstatten (Art. 9 GwG) und die betroffenen Vermögenswerte zu sperren (Art. 10 GwG). Bei Widerhandlung gegen diese Verpflichtungen droht den Verantwortlichen ein Strafverfahren wegen Geldwäscherei (Art. 305bis StGB), mangelnder Sorgfalt bei Finanzgeschäften (Art. 305ter Abs. 1 StGB), Verletzung der Meldepflicht (Art. 37 GwG) und anderen
Delikten.
© 22.01.2014 / Prof. Dr. Marc Forster
Siehe zum Fall «China-Leaks» auch Handelszeitung
online vom 22.1.2014.
Mi
18
Dez
2013
Der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat mit seinen Urteilen schon mehr als einmal Kopfschütteln und
Ratlosigkeit bei Schweizer Juristen ausgelöst. Mit seinem Entscheid in Sachen Dogu Perincek ist die
Qualität und Überzeugungskraft der EGMR-Rechtsprechung an einem bisher unerreichten Tiefpunkt angelangt. Das Urteil wird Rassisten, Geschichts-Revisionisten und politische Hetzer hoch erfreuen.
Es wird sie ermuntern, historisch belegte Völkermorde an Minderheiten und Ethnien öffentlich, systematisch und auf diffamierende Weise zu leugnen oder zu rechtfertigen. Bemerkenswert ist auch,
dass ausgerechnet jene politischen Kreise in der Schweiz das Urteil loben, welche dem Völkerrecht sonst keinen besonderen Stellenwert beimessen wollen und «fremde Richter», insbesondere
europäische, ablehnen.
Die Rechtsgrundlage:
Im Jahre 1994 bestätigte die Schweizer Stimmbevölkerung mit einem Anteil von fast 55% die
Strafnorm gegen Rassismus. Damit schuf die Schweiz die Grundlage für eine Ratifizierung des Anti-Rassendiskriminierungsabkommens der UNO (vgl. z.B.
Marc Forster,
Die Korrektur des strafrechtlichen Rechtsgüter- und Sanktionenkataloges im gesellschaftlichen Wandel, Habil. 1995, ZSR 1995, 1-178, S. 157-161). Die Gegner der
Referendumsvorlage hatten unter anderem befürchtet, negative Stammtisch-Äusserungen gegen Ausländer könnten strafrechtlich verfolgt werden. Die Meinungsäusserungsfreiheit werde damit untergraben.
Strafbar macht sich unter anderem, wer öffentlich eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion herabsetzt oder aus einem dieser Gründe Völkermord oder andere Verbrechen gegen die
Menschlichkeit leugnet, gröblich verharmlost oder zu rechtfertigen sucht (Art. 261bis Abs. 4 StGB). Dass in den Jahren 1915 und
1916 zwischen (mindestens) 300'000 und 1,5 Millionen armenische Kinder, Frauen und Männer einer systematischen ethnischen Vertreibung sowie Massentötungen durch Verantwortliche des Osmanischen
Reichs zum Opfer gefallen sind, wird praktisch von keinem ernstzunehmenden Historiker in Abrede gestellt. Am 16. Dezember 2003 anerkannte der Schweizer Nationalrat offiziell den Völkermord an den
Armeniern. Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden im Übrigen in Art. 264 und 264a StGB näher definiert.
Der Fall Perincek:
Wie Medienberichten entnommen werden kann, handelt es sich bei Dogu Perincek um einen
extremistischen türkischen Nationalisten. Er wurde im August 2013 (u.a. wegen Verschwörung und Putschplänen gegen die
demokratisch gewählte türkische Regierung) von einem türkischen Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt und befindet sich heute im Gefängnis. Offenbar als Reaktion auf den Entscheid des
Nationalrates vom 16. Dezember 2003 liess Perincek im Mai, Juli und September 2005 (in Lausanne,
Opfikon und Köniz) öffentliche Veranstaltungen durchführen, an denen er wiederholt den Genozid an den Armeniern in
Abrede stellte. Zwar räumte er ein, dass Massaker und
Deportationen stattgefunden hätten. Er rechtfertigte diese
aber als «legitime Kriegshandlungen» und mit der Behauptung, die Armenier hätten ihrerseits analoge
Massaker und Deportationen an Türken begangen. Im Jahr 2007 verurteilte die Waadtländer Justiz Perincek wegen Rassen- diskriminierung
zu einer bedingten Geldstrafe von Fr. 9'000.--, einer Busse von Fr. 3'000.-- und einer Genugtuungsleistung von Fr.
1'000.-- zugunsten eines gemeinnützigen Vereins (Association Suisse-Arménie). Das Schweizerische Bundes- gericht bestätigte die Verurteilung mit Urteil vom 12. Dezember 2007 (Urteil 6B_398/2007 =
Pra 2008 Nr. 134 S. 838 ff.). Der EGMR verurteilte die Schweiz deswegen am 17. Dezember 2013 wegen Verletzung der Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 10
EMRK).
Die Argumente des EGMR:
Der EGMR argumentiert, Perincek habe die Massaker und Deportationen nicht geleugnet, sondern zu rechtfertigen versucht. Seine Ausführungen enthielten auch historische, juristische und politische Elemente.
Der EGMR übersieht zunächst, dass das Schweizer Strafrecht auch das (haltlose und rassistisch motivierte) Rechtfertigen
von Völkermord ausdrücklich unter Strafe stellt. Sodann besteht für die Behauptung, die Armenier hätten 1915-1916 ihrerseits Hundertausende Türken deportiert und getötet,
nicht der geringste Nachweis, geschweige denn ein wissenschaftlicher Konsens unter Historikern. Mit seinen Behauptungen versuchte Perincek, den
Opfern
des Genozids auf diffamierende Weise die Schuld an den von ihnen erlittenen Verbrechen zuzuschieben. Dies ist eine für extreme Rassisten und Revisionisten
geradezu typische Argumentationsstrategie. Dass das Schweizer Strafrecht auch das (haltlose und diffamierende)
Rechtfertigen von Völkermord unter Strafe stellt, ist ausdrücklich zu begrüssen. Der Entscheid des EGMR scheint dadurch geprägt, dass in einigen Ländern, insbesondere in skandinavischen,
osteuropäischen und anglosächsischen, revisionistische und rassistische Hetzereien nicht oder nur in geringerem Ausmass strafbar sind. Dies ist aber ein
politisches
Thema und lässt die Schweizer Antirassismus-Strafnorm keineswegs als menschenrechtswidrig erscheinen.
Der EGMR findet, Perincek habe weder die Armenier herabgewürdigt, noch zu Rassenhass oder Gewalt aufgerufen oder die öffentliche Ordnung ernsthaft gefährdet. Auch hier wedelt der
Gerichtshof begriffsjuristischen Staub auf, anstatt zwischen grundrechtlichen, strafrechtlichen
und kriminal- politischen Fragestellungen zu differenzieren:
Die Einschätzung des EGMR, Perincek habe die Armenier und deren Andenken an Hunderttausende Verfolgte und Getötete nicht öffentlich herabgewürdigt, ist schon aus den oben genannten Gründen
abzulehnen. Wer die Tatsachen verdreht und Opfer zu Tätern macht,
diffamiert und verhöhnt die Opfer aufs Gröbste. Hinzu kommt, dass Perincek agitatorisch, polemisch und aggressiv aufgetreten ist. Seine öffentliche Vortragstournee in drei verschiedenen Gemeinden in der
deutschen und französischen Schweiz war offensichtlich als bewusste Provokation inszeniert. Perincek leugnete und verdrehte historische Fakten zu propagandistischen (nationalistischen) Zwecken.
Seine reisserischen Auftritte mussten auf die in der Schweiz lebenden Armenier beleidigend, diffamierend und hetzerisch wirken.
Mit dem Hinweis, er habe nicht direkt zu Rassenhass oder Gewalt aufgerufen, argumentiert der EGMR erneut am Wortlaut der Schweizer Antirassismus-Strafnorm vorbei: Eine Verurteilung wegen Leugnens
oder Rechtfertigens von Völkermord setzt nicht voraus, dass der Täter (auch noch) zu Rassenhass oder gar zu Gewalt aufhetzt. Es genügt, dass er durch seine rassistisch-nationalistisch motivierte
Diffamation der Opfer den öffentlichen Frieden ernsthaft verletzt. Wer in der Schweiz zu Gewalt gegen Menschen oder
Sachen auffordert, wird schon nach Art. 259 Abs. 2 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren (oder Geldstrafe) bestraft. Der EGMR scheint mit den Normen des StGB offenbar wenig vertraut zu
sein. Der Umstand, dass die Schweizer Rassismus-Strafnorm nicht bloss den Aufruf zu Rassenhass und Gewalt unter Strafe stellt, sondern auch das diffamierende öffentliche Leugnen und Rechtfertigen
von Völkermord, ist sehr zu begrüssen. Dass einige europäische Länder (noch) keine identische Regelung haben, lässt die Schweizer Gesetzgebung nicht als menschenrechtswidrig erscheinen.
Auch der Unterschied, den der EGMR zum (seiner Ansicht nach durchaus strafbaren) Leugnen oder Rechtfertigen des Holocaust
sehen will, überzeugt nicht. Er beruft sich darauf, dass es keinen politischen Konsens
zum Genozid an den Armeniern gebe, da ihn «nur» 20 von 190 Staaten anerkannt hätten. Eine solche Argumentation stellt die Aufgabe des Strafrichters auf den Kopf: Bei der Anwendung der
Strafbestimmungen gegen Genozid (Art. 264 StGB) und Leugnen von Genozid (Art. 261bis Abs. 4 StGB) muss der Strafrichter
beurteilen, ob nach den historisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen von einem Völkermord auszugehen ist. Die
Frage, welche Staaten und Behörden aus politischen Überlegungen die historischen Fakten offiziell anerkannt haben, kann dabei keine massgebliche Rolle spielen. In einem demokratischen Rechtsstaat muss rassistische Genozidleugnung auch dann strafbar sein können, wenn
gewisse Länder noch Mühe bekunden, Rassismus konsequent zu bekämpfen oder (sie betreffende) historische Fakten aufzuarbeiten. Und selbst politisch hat ein grosser Teil der europäischen bzw.
westlich-demokratischen Staaten den Genozid an den Armeniern offiziell anerkannt. Historisch-wissenschaftlich ist er
genauso wenig bestreitbar wie der Holocaust.
Bei seiner Auffassung, die Verurteilung Perinceks zu einer bedingten Geldstrafe und einer Busse erscheine unverhältnismässig, verkennt der EGMR wiederum das Schweizer Sanktionenrecht.
Eine Freiheitsstrafe droht Perincek nur, wenn er die Busse nicht zahlt oder rückfällig wird. Ausserdem mischt sich der EGMR appellatorisch-kleinlich in die Strafzumessung der zuständigen
Strafgerichte ein.
Schlussfolgerung - wenn der kriminalpolitische Schwanz mit dem menschenrechtlichen Hund wedelt:
Es sind keine juristischen Gründe ersichtlich, weshalb Schweizer Gerichte nicht weiterhin Art. 261bis Abs. 4 StGB anwenden und rassistische Straftäter wie Dogu Perincek konsequent bestrafen
sollten. Der demokratische Rechtsstaat hat im Gegenteil die grundrechtliche Verpflichtung,
menschenverachtenden öffentlichen Rassismus strafrechtlich zu verfolgen. Dies gilt auch für revisionistische
öffentliche Agitationen, die unter dem Deckmantel der «Meinungsäusserungsfreiheit» daherkommen und die wissenschaftlich belegten Tatsachen zu verbiegen suchen (vgl.
z.B. Forster, Habil., a.a.o., S. 161). Dass der EGMR das rassistische Leugnen von Völkermord demgegenüber unter
den Schutz der Menschenrechte stellen möchte, ist eine bedauerliche juristische Fehlleistung, die fast schon an Zynismus
grenzt. Die Analyse der Urteilsgründe lässt darauf schliessen, dass hier kriminalpolitische Überlegungen und Prägungen im Vordergrund standen und nicht echte Motive des Grundrechtsschutzes. Ein Weiterzug des Urteils an die Grosse Kammer des EGMR durch die Schweiz
drängt sich geradezu auf.
©
18.12.2013 / Prof. Dr. Marc Forster
Nachtrag: Im März 2014 hat der Bundesrat entschieden, das EGMR-Urteil an
die Grosse Kammer weiterzuziehen.
Di
02
Jul
2013
Fr
13
Jul
2012
Nachdem das Bundesgericht dazu grünes Licht gegeben hat, wurden
die Empfänger von Schmiergeldern in der Höhe
von 160 Millionen Franken an FIFA-Funktionäre durch die Staatsanwaltschaft Zug bekannt gegeben. Zwar vertritt die überwiegende Lehre (darunter Daniel Jositsch und Mark Pieth) die
Auffassung, dass die Wahrnehmung einer öffentlichen Aufgabe durch Private, selbst durch Funktionäre eines ökonomisch und politisch mächtigen privatrechtlichen Vereins wie die
FIFA, grundsätzlich nicht vom Korruptionsstrafrecht des
schweize-rischen StGB erfasst sei
(vgl. z.B. Fabian Steuri, Strafbarkeit und internationale Rechtshilfe in Korrup-tionsfällen - Unter
besonderer Berücksichtigung der Vergabe von Grossveranstaltungen durch internationale Sportverbände, Masterarbeit Universität St. Gallen, 2011, S. 37, 42). Dies ist jedoch aus kriminalpolitischen
Gründen (des Rechtsgüterschutzes und der Gleichbehandlung von strafwürdigem Verhalten) hoch problematisch und wird von diffusen wirtschafts-, standort-, sport- und fiskalpolitischen Motiven beeinflusst. Bei Olympiaden, Fussball-WM und -EM
usw. handelt es sich um politische, wirtschaftliche, soziale und sportkulturelle Grossanlässe von internationaler öffentlicher Bedeutung und Tragweite. Spitzenfunktionäre von IOC, FIFA, UEFA usw. haben enorme wirtschaftliche Macht und massiven politischen
Einfluss, vergleichbar nur mit
sehr hohen staatlichen Funktionären. Das IOC hat sogar Beobachterstatus bei der UNO. Es liesse sich durchaus die These vertreten, dass mit der Vergabe, Planung und Durchführung dieser
internationalen Grossanlässe (funktional und gesamtbetrachtend) eine staatliche Aufgabe wahrgenommen wird. Das in der Lehre eingebrachte Kriterium, für eine Anwendung des Korruptionsstrafrechts müsse zwangsläufig eine
offizielle Vergabe durch den
Staat an die privatrechtliche
Organisation erfolgen, erscheint künstlich bzw. als juristische "Hintertür". Das Kriterium lässt sich dogmatisch und mit der Teleologie des Korruptions-strafrechts jedenfalls nur schwer
begründen. Stossend sind denn auch diverse damit verbundenen Wider-sprüche, wonach die fraglichen Organisationen z.B. aus steuerrechtlicher Sicht privilegierten "öffentlichen Zwecken" dienen sollen, aus
strafrechtlicher Sicht hingegen nicht. Auch die
faktische Staatshaftung für die Veranstaltungskosten (Defizitgarantien usw.)
oder paradiplomatische
Privilegien sprechen für eine
staatliche Aufgabe. Die kriminalpolitisch unhaltbare Rechtslage ruft jedenfalls de lege ferenda nach rascher Korrektur.
Prof.
Dr. Marc Forster, 13. Juli 2012 ©
Di
16
Aug
2011
Bernard Bertossa kommentiert (in Semaine Judiciaire 2011 Bd. I S. 286 f.) den kürzlich publizierten BGE 137 IV 13: Der Haftgrund
der Wiederholungsgefahr (nach Art. 221 Abs. 1 lit. c der neuen StPO) verlangt unter ande- rem, dass der Beschuldigte "bereits
früher gleichartige Straftaten verübt" hat. Der Haftgrund der Ausführungsge- fahr (Art. 221 Abs. 2
StPO) setzt voraus, dass eine Per- son damit gedroht hat, ein schweres Verbrechen auszu- führen.
Das Bundesgericht hatte einen Fall zu beurteilen, wo dem Beschuldigten ein untersuchtes Tötungsdelikt zur Last gelegt wurde. Aufgrund des psychiatrischen Gutach- tens musste zwar befürchtet werden, dass
der Beschul- digte (weitere) schwere Delikte dieser Art verüben könn- te. Er hatte jedoch weder eine entsprechende "Drohung" geäussert, noch hatte er (über das erst zu untersuchen- de
Tötungsdelikt hinaus) bereits gleichartige Vortaten ver- übt. Aufgrund einer "systematisch-teleologischen" Ausle- gung (bzw. Gesetzeslückenfüllung) gelangte das Bundes- gericht zur Ansicht, dass
bei akut zu befürchtenden wei- teren Schwerverbrechen ausnahmsweise vom Vortaten-
erfordernis abgesehen werden könne.
Bernard
Bertossa scheint den Entscheid zu begrüssen ("on respire") und kritisiert (etwas sarkastisch) das vom Gesetzgeber eingeführte
Vortatenerfordernis bei schwe- ren Verbrechen. ("Il n'est pas certain que les victimes du troisième crime auraient apprécié!") Gleichzeitig will
Ber-
tossa die Ursache der verunglückten gesetzlichen Fas- sung ausfindig gemacht haben: - Die Zürcher... Was ihn übrigens nicht verwundere. ("Si on peine à comprendre de tels
égarements, on en connaît au moins l'origine. Sans surprise, c'est dans l'ancien code de procédure pé- nale du canton de Zurich que l'on trouve, au paragraphe 58 al. 1 ch. 3, une disposition de
même nature.")
Hier irrt Kollege Bertossa allerdings.
Vielleicht hatte er eine schon etwas ältere Ausgabe der Zürcher StPO zur Hand. Jedenfalls kannte schon die Zürcher StPO (seit 2005) bei
Schwerverbrechen den Haftgrund der soge- nannten qualifizierten
Wiederholungsgefahr (§ 58 Abs. 1 Ziff. 4), welche (im Gegensatz zur von Bertossa
zitierten einfachen Wiederholungsgefahr, § 58 Abs. 1 Ziff. 3) kei- ne
bereits verübten Vortaten voraussetzte (nachzule- sen z.B. in BGE 135 I 71 E. 2.4
S. 73). Der Eidgenössi- sche Gesetzgeber hat es versäumt, eine entsprechen- de
qualifizierte Wiederholungsgefahr als Haftgrund in der neuen StPO einzuführen. Um die stossendsten Folgen abzuwenden, sah sich das Bundesgericht zu delikaten Auslegungsmanövern gezwungen.
Soviel zur "Ehrenrettung der Zürcher". (Der Blogger ist Thurgauer.) Für den Eidgenössischen Gesetzgeber (und zwangsläufig für die Gerichte) sieht es weniger günstig aus: Leider ist
Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO noch in weiteren Teilen ziemlich verunglückt (mehr dazu in: Basler Kom- mentar StPO-Forster, Art. 221 N. 10-13, sowie im unten angefügten Aufsatz in der ZStrR/pdf,
downloadbar).
Prof. Dr. Marc Forster, 16. August 2011. ©
Zu den daraus resultierenden
politischen Vorstössen siehe aktuell (Sommer 2013) auch:
http://www.20min.ch/schweiz/news/story/Auch-gefaehrliche-Ersttaeter-sollen-kuenftig-in-U-Haft-16233974
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