Der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat mit seinen Urteilen schon mehr als einmal Kopfschütteln und
Ratlosigkeit bei Schweizer Juristen ausgelöst. Mit seinem Entscheid in Sachen Dogu Perincek ist die
Qualität und Überzeugungskraft der EGMR-Rechtsprechung an einem bisher unerreichten Tiefpunkt angelangt. Das Urteil wird Rassisten, Geschichts-Revisionisten und politische Hetzer hoch erfreuen.
Es wird sie ermuntern, historisch belegte Völkermorde an Minderheiten und Ethnien öffentlich, systematisch und auf diffamierende Weise zu leugnen oder zu rechtfertigen. Bemerkenswert ist auch,
dass ausgerechnet jene politischen Kreise in der Schweiz das Urteil loben, welche dem Völkerrecht sonst keinen besonderen Stellenwert beimessen wollen und «fremde Richter», insbesondere
europäische, ablehnen.
Die Rechtsgrundlage:
Im Jahre 1994 bestätigte die Schweizer Stimmbevölkerung mit einem Anteil von fast 55% die
Strafnorm gegen Rassismus. Damit schuf die Schweiz die Grundlage für eine Ratifizierung des Anti-Rassendiskriminierungsabkommens der UNO (vgl. z.B.
Marc Forster,
Die Korrektur des strafrechtlichen Rechtsgüter- und Sanktionenkataloges im gesellschaftlichen Wandel, Habil. 1995, ZSR 1995, 1-178, S. 157-161). Die Gegner der
Referendumsvorlage hatten unter anderem befürchtet, negative Stammtisch-Äusserungen gegen Ausländer könnten strafrechtlich verfolgt werden. Die Meinungsäusserungsfreiheit werde damit untergraben.
Strafbar macht sich unter anderem, wer öffentlich eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion herabsetzt oder aus einem dieser Gründe Völkermord oder andere Verbrechen gegen die
Menschlichkeit leugnet, gröblich verharmlost oder zu rechtfertigen sucht (Art. 261bis Abs. 4 StGB). Dass in den Jahren 1915 und
1916 zwischen (mindestens) 300'000 und 1,5 Millionen armenische Kinder, Frauen und Männer einer systematischen ethnischen Vertreibung sowie Massentötungen durch Verantwortliche des Osmanischen
Reichs zum Opfer gefallen sind, wird praktisch von keinem ernstzunehmenden Historiker in Abrede gestellt. Am 16. Dezember 2003 anerkannte der Schweizer Nationalrat offiziell den Völkermord an den
Armeniern. Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden im Übrigen in Art. 264 und 264a StGB näher definiert.
Der Fall Perincek:
Wie Medienberichten entnommen werden kann, handelt es sich bei Dogu Perincek um einen
extremistischen türkischen Nationalisten. Er wurde im August 2013 (u.a. wegen Verschwörung und Putschplänen gegen die
demokratisch gewählte türkische Regierung) von einem türkischen Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt und befindet sich heute im Gefängnis. Offenbar als Reaktion auf den Entscheid des
Nationalrates vom 16. Dezember 2003 liess Perincek im Mai, Juli und September 2005 (in Lausanne,
Opfikon und Köniz) öffentliche Veranstaltungen durchführen, an denen er wiederholt den Genozid an den Armeniern in
Abrede stellte. Zwar räumte er ein, dass Massaker und
Deportationen stattgefunden hätten. Er rechtfertigte diese
aber als «legitime Kriegshandlungen» und mit der Behauptung, die Armenier hätten ihrerseits analoge
Massaker und Deportationen an Türken begangen. Im Jahr 2007 verurteilte die Waadtländer Justiz Perincek wegen Rassen- diskriminierung
zu einer bedingten Geldstrafe von Fr. 9'000.--, einer Busse von Fr. 3'000.-- und einer Genugtuungsleistung von Fr.
1'000.-- zugunsten eines gemeinnützigen Vereins (Association Suisse-Arménie). Das Schweizerische Bundes- gericht bestätigte die Verurteilung mit Urteil vom 12. Dezember 2007 (Urteil 6B_398/2007 =
Pra 2008 Nr. 134 S. 838 ff.). Der EGMR verurteilte die Schweiz deswegen am 17. Dezember 2013 wegen Verletzung der Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 10
EMRK).
Die Argumente des EGMR:
Der EGMR argumentiert, Perincek habe die Massaker und Deportationen nicht geleugnet, sondern zu rechtfertigen versucht. Seine Ausführungen enthielten auch historische, juristische und politische Elemente.
Der EGMR übersieht zunächst, dass das Schweizer Strafrecht auch das (haltlose und rassistisch motivierte) Rechtfertigen
von Völkermord ausdrücklich unter Strafe stellt. Sodann besteht für die Behauptung, die Armenier hätten 1915-1916 ihrerseits Hundertausende Türken deportiert und getötet,
nicht der geringste Nachweis, geschweige denn ein wissenschaftlicher Konsens unter Historikern. Mit seinen Behauptungen versuchte Perincek, den
Opfern
des Genozids auf diffamierende Weise die Schuld an den von ihnen erlittenen Verbrechen zuzuschieben. Dies ist eine für extreme Rassisten und Revisionisten
geradezu typische Argumentationsstrategie. Dass das Schweizer Strafrecht auch das (haltlose und diffamierende)
Rechtfertigen von Völkermord unter Strafe stellt, ist ausdrücklich zu begrüssen. Der Entscheid des EGMR scheint dadurch geprägt, dass in einigen Ländern, insbesondere in skandinavischen,
osteuropäischen und anglosächsischen, revisionistische und rassistische Hetzereien nicht oder nur in geringerem Ausmass strafbar sind. Dies ist aber ein
politisches
Thema und lässt die Schweizer Antirassismus-Strafnorm keineswegs als menschenrechtswidrig erscheinen.
Der EGMR findet, Perincek habe weder die Armenier herabgewürdigt, noch zu Rassenhass oder Gewalt aufgerufen oder die öffentliche Ordnung ernsthaft gefährdet. Auch hier wedelt der
Gerichtshof begriffsjuristischen Staub auf, anstatt zwischen grundrechtlichen, strafrechtlichen
und kriminal- politischen Fragestellungen zu differenzieren:
Die Einschätzung des EGMR, Perincek habe die Armenier und deren Andenken an Hunderttausende Verfolgte und Getötete nicht öffentlich herabgewürdigt, ist schon aus den oben genannten Gründen
abzulehnen. Wer die Tatsachen verdreht und Opfer zu Tätern macht,
diffamiert und verhöhnt die Opfer aufs Gröbste. Hinzu kommt, dass Perincek agitatorisch, polemisch und aggressiv aufgetreten ist. Seine öffentliche Vortragstournee in drei verschiedenen Gemeinden in der
deutschen und französischen Schweiz war offensichtlich als bewusste Provokation inszeniert. Perincek leugnete und verdrehte historische Fakten zu propagandistischen (nationalistischen) Zwecken.
Seine reisserischen Auftritte mussten auf die in der Schweiz lebenden Armenier beleidigend, diffamierend und hetzerisch wirken.
Mit dem Hinweis, er habe nicht direkt zu Rassenhass oder Gewalt aufgerufen, argumentiert der EGMR erneut am Wortlaut der Schweizer Antirassismus-Strafnorm vorbei: Eine Verurteilung wegen Leugnens
oder Rechtfertigens von Völkermord setzt nicht voraus, dass der Täter (auch noch) zu Rassenhass oder gar zu Gewalt aufhetzt. Es genügt, dass er durch seine rassistisch-nationalistisch motivierte
Diffamation der Opfer den öffentlichen Frieden ernsthaft verletzt. Wer in der Schweiz zu Gewalt gegen Menschen oder
Sachen auffordert, wird schon nach Art. 259 Abs. 2 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren (oder Geldstrafe) bestraft. Der EGMR scheint mit den Normen des StGB offenbar wenig vertraut zu
sein. Der Umstand, dass die Schweizer Rassismus-Strafnorm nicht bloss den Aufruf zu Rassenhass und Gewalt unter Strafe stellt, sondern auch das diffamierende öffentliche Leugnen und Rechtfertigen
von Völkermord, ist sehr zu begrüssen. Dass einige europäische Länder (noch) keine identische Regelung haben, lässt die Schweizer Gesetzgebung nicht als menschenrechtswidrig erscheinen.
Auch der Unterschied, den der EGMR zum (seiner Ansicht nach durchaus strafbaren) Leugnen oder Rechtfertigen des Holocaust
sehen will, überzeugt nicht. Er beruft sich darauf, dass es keinen politischen Konsens
zum Genozid an den Armeniern gebe, da ihn «nur» 20 von 190 Staaten anerkannt hätten. Eine solche Argumentation stellt die Aufgabe des Strafrichters auf den Kopf: Bei der Anwendung der
Strafbestimmungen gegen Genozid (Art. 264 StGB) und Leugnen von Genozid (Art. 261bis Abs. 4 StGB) muss der Strafrichter
beurteilen, ob nach den historisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen von einem Völkermord auszugehen ist. Die
Frage, welche Staaten und Behörden aus politischen Überlegungen die historischen Fakten offiziell anerkannt haben, kann dabei keine massgebliche Rolle spielen. In einem demokratischen Rechtsstaat muss rassistische Genozidleugnung auch dann strafbar sein können, wenn
gewisse Länder noch Mühe bekunden, Rassismus konsequent zu bekämpfen oder (sie betreffende) historische Fakten aufzuarbeiten. Und selbst politisch hat ein grosser Teil der europäischen bzw.
westlich-demokratischen Staaten den Genozid an den Armeniern offiziell anerkannt. Historisch-wissenschaftlich ist er
genauso wenig bestreitbar wie der Holocaust.
Bei seiner Auffassung, die Verurteilung Perinceks zu einer bedingten Geldstrafe und einer Busse erscheine unverhältnismässig, verkennt der EGMR wiederum das Schweizer Sanktionenrecht.
Eine Freiheitsstrafe droht Perincek nur, wenn er die Busse nicht zahlt oder rückfällig wird. Ausserdem mischt sich der EGMR appellatorisch-kleinlich in die Strafzumessung der zuständigen
Strafgerichte ein.
Schlussfolgerung - wenn der kriminalpolitische Schwanz mit dem menschenrechtlichen Hund wedelt:
Es sind keine juristischen Gründe ersichtlich, weshalb Schweizer Gerichte nicht weiterhin Art. 261bis Abs. 4 StGB anwenden und rassistische Straftäter wie Dogu Perincek konsequent bestrafen
sollten. Der demokratische Rechtsstaat hat im Gegenteil die grundrechtliche Verpflichtung,
menschenverachtenden öffentlichen Rassismus strafrechtlich zu verfolgen. Dies gilt auch für revisionistische
öffentliche Agitationen, die unter dem Deckmantel der «Meinungsäusserungsfreiheit» daherkommen und die wissenschaftlich belegten Tatsachen zu verbiegen suchen (vgl.
z.B. Forster, Habil., a.a.o., S. 161). Dass der EGMR das rassistische Leugnen von Völkermord demgegenüber unter
den Schutz der Menschenrechte stellen möchte, ist eine bedauerliche juristische Fehlleistung, die fast schon an Zynismus
grenzt. Die Analyse der Urteilsgründe lässt darauf schliessen, dass hier kriminalpolitische Überlegungen und Prägungen im Vordergrund standen und nicht echte Motive des Grundrechtsschutzes. Ein Weiterzug des Urteils an die Grosse Kammer des EGMR durch die Schweiz
drängt sich geradezu auf.
©
18.12.2013 / Prof. Dr. Marc Forster
Nachtrag: Im März 2014 hat der Bundesrat entschieden, das EGMR-Urteil an
die Grosse Kammer weiterzuziehen.