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Fehlinterpretationen des Haftgrundes der Kollusionsgefahr bei der Diskussion um die Teilnahmerechte des Beschuldigten

Nach der mehrmals bestätigten Rechtsprechung des Bundesgerichtes haben Beschuldigte, nachdem sie ein erstes Mal getrennt zur Sache befragt worden sind, grundsätzlich einen Anspruch auf Teilnahme an der Einvernahme von Mitbeschuldigten oder von Zeugen (Grundsatz der Parteiöffentlichkeit von Beweiserhebungen, Art. 147 Abs. 1 StPO). Vorbehalten ist ein Ausschluss von der Teilnahme wegen Rechtsmissbrauchs (Art. 108 Abs. 1 lit. a StPO), etwa wenn der Beschuldigte die Teilnahme dazu missbrauchen will, Einfluss auf Zeugen oder Mitbeschuldigte zu nehmen (Kollusion/Verdunkelung). Kein Rechtsmissbrauch liegt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes (und nach den Gesetzesmaterialien zur StPO) vor, wenn lediglich eine prozesstaktisch legitime Anpassung des Aussageverhaltens des Beschuldigten droht: Dass der Beschuldigte sein weiteres Aussageverhalten den Aussagen von Mitbeschuldigten oder Zeugen anpassen könnte (nachdem er ein erstes mal getrennt befragt wurde), lässt sein Teilnahmerecht nicht dahinfallen. Die Parteien dürfen ihre Verfahrensdispositionen der Entwicklung der Beweiserhebungen anpassen.

In seinem Aufsatz in
forumpoenale 2016 (Nr. 5 S. 281 ff., 287) vertritt Ulrich Weder die Ansicht, die betreffende Rechtslage sei im Lichte des Haftgrundes der Kollusionsgefahr (Art. 221 Abs. 1 lit. b StPO) "widersprüchlich und geradezu absurd". In Fällen mit Mitbeschuldigten sei es "vor allem die Gefahr der Beeinflussung, der Absprache und der Anpassung von Aussagen, mit der welcher die Kollusionsgefahr regelmässig begründet" werde. Wenn sich der Beschuldigte wegen Kollusionsgefahr in Haft befinde, aber trotzdem an Beweiserhebungen teilnehmen dürfe, könne dem Haftgrund "nur noch ungenügend Rechnung getragen" werden. Dies sei "zweifelsohne widersprüchlich und grotesk".

Diesen Ausführungen ist zu widersprechen. Sie fussen auf einer
Fehlinterpretation des Haftgrundes der Kollusionsgefahr. Falsch ist namentlich die Behauptung, die Gefahr einer prozesstaktischen "Anpassung von Aussagen" begründe bereits einen Haftgrund im Sinne der StPO:

Gemäss Art. 221 Abs. 1 lit. b StPO kolludiert ein Beschuldigter wenn er "
Personen beeinflusst oder auf Beweismittel einwirkt, um so die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen". Damit ist insbesondere die Beeinflussung von Zeugen oder Mitbeschuldigten gemeint oder die Manipulation bzw. Unterdrückung von Beweisunterlagen. Demgegenüber stellt die blosse Gefahr, dass ein Beschuldigter seine eigenen Aussagen den ihm bekannten Beweisergebnisen prozesstaktisch anpassen könnte (etwa den Aussagen anderer Befragter) nicht im Entferntesten einen Haftgrund dar. (Es erschiene sogar fraglich, ob hier überhaupt von "Kollusion" im Sinne der StPO gesprochen werden könnte; das Gesetz meint mit der Beeinflussung von "Personen" andere Personen als den Beschuldigten, und mit der "Einwirkung auf Beweismittel" primär bestehende Beweisgegenstände.) Anders zu entscheiden hiesse, dass praktisch jeder Beschuldigte ohne weiteres inhaftiert werden könnte, da grundsätzlich immer die Gefahr einer Anpassung an Beweiserhebungen (darunter Beweisaussagen Dritter) bestünde. Aber selbst in jenen Fällen, bei denen eine Beeinflussung von Aussagen Dritter droht, liegt nach ständiger Praxis des Bundesgerichtes (und einhelliger Lehre) nicht automatisch ein Haftgrund vor. Zu verlangen sind vielmehr konkrete Indizien für eine erfolgte oder drohende Einflussnahme (vgl. zu dieser ständigen Praxis des Bundesgerichtes z.B. BSK StPO-Forster, Art. 221 N. 6-7).

Bei Art. 147 Abs. 1 StPO steht denn auch gar nicht die Gefahr im Vordergrund, dass der Beschuldigte die Aussagen von
Mitbeschuldigten oder Zeugen (im Sinne von Kollusion) beeinflussen könnte: Würde der Beschuldigte dies anlässlich seiner Teilnahme an Einvernahmen versuchen, hätte der die Einvernahme leitende Staatsanwalt (oder die Staatsanwältin) zunächst die Möglichkeit (und die Verpflichtung), Kollusionsversuche des Beschuldigten schon im Ansatz aktiv zu unterbinden. Falls der Beschuldigte sein Teilnahmerecht dennoch für Kollusionsversuche (weiter) missbrauchen würde, könnte die Staatsanwaltschaft ihn nötigenfalls von der Einvernahme ausschliessen (Art. 108 Abs. 1 lit. a StPO). Bei Art. 147 Abs. 1 StPO besteht die einschlägige Gefahr nicht darin, dass der Beschuldigte andere Aussagen und Beweismittel verfälscht oder beeinflusst, sondern dass er seine eigenen künftigen Aussagen an das Aussageverhalten der Mitbeschuldigten prozesstaktisch anpasst. Hier überhaupt von "Kollusion" zu reden, erscheint schon strafprozess-dogmatisch fragwürdig. Krass falsch wäre jedenfalls die Gleichsetzung des Haftgrundes der Kollusionsgefahr mit der Problematik der prozesstaktischen Anpassung von Beweisaussagen.

Nach der Regelung der StPO führt die blosse Gefahr, dass ein Beschuldigter seine Aussagen denjenigen von Mitbeschuldigten
anpassen könnte, weder zu einem Haftgrund, noch zu einem Ausschluss bei den Einvernahmen. Umgekehrt führt Untersuchungshaft wegen Kollusionsgefahr auch nicht automatisch zu einem Ausschluss des Inhaftierten von jeglichen Beweiserhebungen: Dass ein Beschuldigter in einem ganz anderen Zusammenhang wegen Kollusionsgefahr in Haft ist (z.B. wegen telefonischer Zeugenbeeinflussung oder Unterdrückung von Beweisurkunden), rechtfertigt es nicht, ihm das Parteirecht auf Teilnahme an der Einvernahme von Mitbeschuldigten zu verweigern. Vorbehältlich einer rechtsmissbräuchlichen Inanspruchnahme stehen die Verteidigungsrechte gerade auch den inhaftierten Beschuldigten zu.

Im Ergebnis erscheint mir nicht das Teilnahmerecht von Mitbeschuldigten gemäss Art. 147 Abs. 1 StPO "widersprüchlich und absurd", sondern, wenn schon, eine kurzschlüssige Vermischung des Haftgrundes der Kollusionsgefahr mit der Problematik der prozesstaktischen Anpassung von Beweisaussagen.

Prof. Dr. Marc Forster/19. Oktober 2016