Am 1. Januar 2024 wird das revidierte Entsiegelungsrecht in Kraft treten (nArt. 248-248a StPO; im Parlament verabschiedet am 17. Juni 2022, vgl. BBl 2022 1560, S. 8 f.). Das Kernproblem des bisherigen Rechts bildeten die lange Verfahrensdauer bzw. das Missbrauchspotential für Verfahrensverschleppungen. Zur Beschleunigung der Entsiegelungsverfahren sollen künftig insbesondere die restriktivere Definition der siegelungsfähigen Aufzeichnungen und Gegenstände sowie Vorschriften zur Straffung des Verfahrens beitragen.
Mit der Ausdehnung der Siegelungsberechtigung und der Verfahrensteilnahme auf Drittpersonen, welche nicht Inhaberinnen der sichergestellten Aufzeichnungen und Gegenstände sind, aber eigene geschützte Geheimnisrechte (aufgrund von Art. 264 Abs. 1 StPO) anrufen können, wird die betreffende Praxis des Bundesgerichtes in der StPO verankert. Als Beispiel sei der Fall eines Arztes genannt, in dessen Praxis Patientenunterlagen sichergestellt werden.
Nach der neuen Regelung kann primär der Arzt als Inhaber der Aufzeichnungen und Träger des Berufsgeheimnisses die Siegelung beantragen (nArt. 248 Abs. 1 Satz 1 StPO). Da für die Staatsanwaltschaft (StA) aber erkennbar ist, dass hier eigene höchstpersönliche, intime Geheimnisse die mitbetroffenen Patientinnen und Patienten tangiert sind, hat die StA diesen als berechtigten Personen ebenfalls Gelegenheit zu geben, die Siegelung zu verlangen (nArt. 248 Abs. 2 StPO). Dies muss zumindest dann gelten, wenn der Arzt selber kein Siegelungs-begehren gestellt hat. Soweit die Patienten entsprechende eigene Geheimnis-rechte (Arzt- und Patientengeheimnis) geltend machen, sind sie als berechtigte Personen zu behandeln und im Entsiegelungsverfahren als Parteien beizuziehen (nArt. 248a Abs. 3 und Abs. 5 StPO). Falls erst das Entsiegelungsgericht erkennt, dass hier neben dem Arzt (als Inhaber) auch die Patienten selbstständig berechtigt sind, so sind Letztere über das Siegelungsbegehren des Arztes zu informieren (nArt. 248a Abs. 2 StPO) und als berechtigte Personen ins Verfahren beizuziehen.
Gemäss der klaren Regelung von nArt. 248 Abs. 2 StPO hat die StA auch den eigenständig berechtigten Drittpersonen, im Beispiel also den mitbetroffenen Patientinnen und Patienten, Gelegenheit zu geben, die Siegelung zu verlangen. Selbst wenn erst das Entsiegelungsgericht erkennt, dass sie (betreffend Patien-tengeheimnisse) berechtigt sind, müssen sie noch nachträglich zum Entsiegelungsverfahren beigezogen werden (nArt. 248a Abs. 2-5 StPO). Es fragt sich, ob dieser selbstständige Rechtsschutz auch für Klienten von Anwälten gelten muss. Nach der im hier vertretenen Auffassung ist dies jedenfalls dann zu bejahen, wenn der Anwalt als Inhaber kein Siegelungsbegehren gestellt hat. Die mitbetroffenen Klienten können eigene Interessen an der Wahrung des Anwaltsgeheimnisses haben (die den Anwalt nicht tangieren). Sofern der Anwalt ein Siegelungs-begehren stellt, ist er als Inhaber an den bei ihm sichergestellten Aufzeichnungen "berechtigt" und kann auch die Interessen seiner Klientschaft wahren. Da die neue Regelung diesbezüglich die bisherige Praxis des Bundesgerichtes abbildet, ist daraus keine spürbare Beschleunigung und Vereinfachung des Verfahrens zu erwarten.
Auch die dreitägige Frist für das Siegelungsbegehren des Inhabers oder der Inhaberin (nArt. 248 Abs. 1 Satz 2 StPO) trägt nur wenig zur gesetzgeberisch angestrebten Verfahrensbeschleunigung bei. Schon nach der bisherigen Rechtsprechung war das Siegelungsbegehren grundsätzlich innert wenigen Tagen zu stellen.
Von erheblicher (normativer) Bedeutung ist die vom Parlament bewusst vorgenommene Einschränkung der möglichen Siegelungsgründe und Durchsuchungshindernisse. Der Siegelung – und damit einem möglichen Durchsuchungs-hindernis im Verfahren nach nArt. 248 f. StPO – unterliegen nach der im Parla-ment verabschiedeten Fassung nur noch Aufzeichnungen oder Gegenstände, die "aufgrund von Art. 264 StPO nicht beschlagnahmt" werden dürfen. Einer Entsiegelung und Durchsuchung können somit künftig nur noch die (allgemeinen) gesetzlichen Zwangsmassnahmenhindernisse von Art. 197 StPO in Verbindung mit einem besonderen Beschlagnahmehindernis gemäss Art. 264 Abs. 1 StPO entgegen stehen. Zwar wurde diese Einschränkung der gesetzlichen Siegelungs-gründe im Gesetzgebungsverfahren ausführlich diskutiert (vgl. Botschaft 2019, S. 6750 f.; Votum BR Keller-Sutter, AB NR 2021 S. 618) und in der Literatur teilweise kritisiert. Der Gesetzgeber hat sich jedoch in Kenntnis dieser Einwände und Gegenvorschläge für die restriktive Lösung (gemäss Expertengruppe NR 2021) entschieden.
Zeugnis- und Aussageverweigerungsrechte ausserhalb der Berufs- und Amtsgeheimnisse nach Art. 264 Abs. 1 lit. a und c-d StPO bilden somit künftig keine möglichen Entsiegelungshindernisse mehr. Das gilt etwa für alle Zeugnis- und Aussageverweigerungsrechte ausserhalb von Art. 170-173 StPO, nämlich solche aufgrund persönlicher Beziehungen gemäss Art. 168 f. StPO, für den nemo tenetur-Grundsatz (Art. 113 Abs. 1 StPO), das Bankkundengeheimnis oder für allgemeine Geschäfts- und Fabrikationsgeheimnisse. Falls kein Siegelungsgrund (geschütztes Geheimnisinteresse) nach Art. 264 Abs. 1 StPO angerufen werden kann, bildet auch der akzessorische Einwand der Untersuchungsrelevanz bzw. der fehlenden Verhältnismässigkeit (Art. 197 Abs. 1 lit. c StPO) kein Entsiegelungs-hindernis. Das Entsiegelungsverfahren dient nicht der allgemeinen Prüfung der der Verhältnismässigkeit von Zwangsmassnahmen, sondern dem Geheimnis-schutz im Hinblick auf die Durchsuchung von Aufzeichnungen und Datenträgern (Art. 246 StPO). Dies gilt schon nach der ständigen bisherigen Praxis des Bundesgerichtes. Die allgemeinen Zwangsmassnahmen-voraussetzungen von Art. 197 StPO sind folglich nur bei Substanziierung von gesetzlich geschützten Geheimnissen (zusätzlich) zu prüfen. Auf ein Entsiegelungsgesuch ist hingegen (mangels gültigem Siegelungsbegehren) nicht einzutreten, falls keine gesetzlich geschützten Geheimnisrechte wenigstens kursorisch angerufen wurden. Falls sich erst nach Substanziierung und näherer Prüfung im Entsiegelungsverfahren ergibt, dass keine Geheimnisse gemäss Art. 264 Abs. 1 StPO tangiert sind, ist das Entsiegelungsgesuch gutzuheissen.
Auch hier sind die praktischen Auswirkungen der Revision eher gering, da schon nach bisheriger Rechtsprechung die primären Entsiegelungshindernisse von Art. 197 Abs. 1 i.V.m. Art. 264 Abs. 1 StPO stark im Vordergrund standen. Weder das Bankkundengeheimnis (BankG, mit Vorbehalt der strafrechtlichen Beweiserhe-bung) noch der nemo tenetur-Grundsatz (mit Einschränkung in Art. 113 Abs. 1 Satz 3 StPO) wurden in der Praxis als Entsiegelungshindernisse anerkannt. Neben den besonderen gesetzlichen Zeugnis- und Aussageverweigerungsrechten (Berufs- und Amtsgeheimnisse) nach Art. 264 Abs. 1 lit. a und c-d StPO verbleiben somit praktisch nur noch für den Persönlichkeitsschutz relevante Privat-geheimnisse, nämlich persönliche Aufzeichnungen und Korrespondenz der beschuldigten Person, als möglicher Siegelungsgrund (Art. 264 Abs. 1 lit. b StPO). Diese Privatgeheimnisse sind allerdings noch gegenüber dem jeweiligen Strafver-folgungsinteresse abzuwägen.
Gestützt auf den Entwurf 2019 und den Vorschlag der Rechtskommission des Nationalrates (2021) wird das Zwangsmassnahmengericht neu auch im erstin-stanzlichen Gerichtsverfahren für Entsiegelungen zuständig sein. Zwar erscheint es inkonsequent, dass im Berufungsverfahren (nArt. 248a Abs. 1 lit. b StPO spricht etwas erratisch von "den anderen Verfahren") die Verfahrensleitung des Berufungsgerichts zuständig bleibt. Die betreffende Kritik in Teilen der Literatur ist allerdings in die Revision nicht eingeflossen.
Grössere Auswirkungen auf die Beschleunigung und Verfahrensstraffung wird nArt. 248a StPO nach sich ziehen. Absatz 3 der Bestimmung sieht vor, dass die berechtigte Person schriftliche "Einwände gegen das Entsiegelungsgesuch" innert einer nicht erstreckbaren (gesetzlichen) Frist von 10 Tagen vorzubringen hat. Da in der bisherigen Praxis solche Fristen oft mehrmals und über mehrere Wochen und Monate hinweg richterlich erstreckt wurden, trägt diese neue Bestimmung zur Beschleunigung bei. Analoges gilt grundsätzlich auch für die gesetzliche Entscheidungsfrist von ebenfalls 10 Tagen (nach Eingang der Stellungnahme) in "spruchreifen" Fällen (Abs. 4), das heisst, wenn keine richterliche Triage der gesiegelten Aufzeichnungen nötig ist und auch sonst kein zwingender sachlicher Grund für eine mündliche Entsiegelungsverhandlung vorliegt. Bei solchen Entscheidungsfristen stellt sich allerdings regelmässig die Frage nach deren blossem Ordnungscharakter bzw. nach den Folgen einer Missachtung der Frist, insbesondere in sachlich begründeten Fällen. Analog zu den Entscheidungsfristen bei Haftverfahren wird eine sachlich begründete und massvolle Überschreitung der Frist nicht ohne weiteres zur Rückgabe der gesiegelten Aufzeichnungen an die Inhaber führen.
Die weiteren Fristvorschriften (von nArt. 248a Abs. 5 StPO) betreffend Durch-führung einer Entsiegelungsverhandlung innert 30 Tagen (nach Eingang der Stellungnahme in nicht "spruchreifen" Fällen) und den "unverzüglichen" Entsie-gelungsentscheid (nach durchgeführter Verhandlung) werden die erstinstanz-lichen Verfahren in der Regel ebenfalls deutlich beschleunigen. Auch die 30-Tages-Frist und die Vorschrift eines "unverzüglichen" Entscheides (innert Tagen bis wenigen Wochen) dürften allerdings blossen Ordnungscharakter in dem Sinne haben, dass ihre Missachtung bzw. massvolle Überschreitung in sachlich begrün-deten Fällen nicht (per se) zur Rückgabe der gesiegelten Aufzeichnungen führt.
In einem neuen Forschungsbeitrag der Universität St. Gallen wird der Reformweg des Entsiegelungsrechts analysiert, vom Vorentwurf 2017 der Expertengruppe BJ, über den darauf gestützten Entwurf des Bundesrates (2019) und die Änderungsvorschläge der Rechtskommission des Nationalrates (2021) bis zur Schlussabstimmung der Räte am 17. Juni 2022 (vgl. Andrina Singenberger, Probleme des Entsiegelungsrechts im Lichte der Revision StPO, Masterarbeit Uni SG, November 2022, S. 37 f.). Dabei werden die bisherige Rechtslage, Kritik und Revisionsvorschläge der Fachliteratur sowie die erfolgte Reform einer kritischen Würdigung unterzogen (vgl. dazu MA S. 36-60).
© Prof. Dr. Marc Forster, RA / 23. März 2023
Nachtrag:
Beschwerde ans Bundesgericht in Entsiegelungssachen auch nach neuem Recht (nArt. 248a StPO, nArt. 80 Abs. 2 BGG):
Wegen einer irrtümlichen Äusserung in einem Teil der Materialien ist in Fachkreisen die Frage aufgeworfen worden, ob nach Inkrafttraten der neuen StPO weiterhin die Beschwerde an das Bundesgericht gegen Entsiegelungs-entscheide der Zwangsmassnahmengerichte zulässig ist. Die Frage ist eindeutig zu bejahen:
Herr B. Stadelmann (Bundesamt für Justiz) äusserte sich anlässlich der Sitzung der nationalrätlichen Kommission für Rechtsfragen vom 8./9. Oktober 2020 missverständlich ("ein Verzicht auf das Prinzip der "double instance" - was bedeutet, dass ein Entsiegelungsentscheid des Zwangsmassnahmengerichts endgültig ist und nicht an das Bundesgericht weitergezogen werden kann"). Der Irrtum wurde in den Beratungen der Bundesversammlung leider teilweise kolportiert (Votum von Frau NRin C. Markwalder).
Die betreffenden Äusserungen beruhen auf einem juristischen Missverständnis. Die "double instance" nach Art. 80 Abs. 2 Satz 3 BGG
bezieht sich auf den kantonalen Instanzenzug. Schon nach jetzigem Recht sagt das Gesetz, dass es keine kantonale Beschwerdeinstanz braucht und die direkte Beschwerde ans BGer
zulässig ist, wenn das ZMG "als einzige kantonale Instanz entscheidet". Die neue Fassung (nArt. 80 Abs. 2 BGG) spricht von "letzten kantonalen Instanzen" und sieht weitherhin
vor, dass es (ausnahmsweise) keine kantonale Rechtsmittelinstanz braucht, wenn kantonale Instanzen "nach der Strafprozessordnung als einzige kantonale Instanz entscheiden". Das
trifft auf Entsiegelungsentscheide des ZMG auch nach neuem Recht weiterhin zu (nArt. 248a Abs. 4 StPO: "endgültig").
Damit hat sich für den Weiterzug von Entsiegelungsentscheiden des ZMG an das BGer nach neuem BGG nichts geändert. Auch aus den Materialien ergibt sich im Gesamtkontext deutlich, dass das
Parlament beim Entsiegelungsrecht den bisherigen Instanzenzug vom ZMG an das BGer beibehalten wollte. In früheren Entwürfen (VE 2017, Entwurf 2019) war sogar noch vorgeschlagen
worden, zusätzlich den doppelten kantonalen Instanzenzug vorzuschreiben, um das BGer indirekt etwas zu entlasten. Die Beschwerde ans BGer abzuschaffen, war hingegen nie
vorgesehen. Die Aussage, wonach ein "Verzicht auf die double Instance" bedeute, "dass ein Entscheid des ZMG endgültig" sei "und nicht an das BGer weitergezogen werden" könne, ist juristisch
falsch und verkennt das Prinzip der double instance. Dieses bezieht sich auf den kantonalen Instanzenzug. Wenn im Sinne von nArt. 80 Abs. 2 BGG und nArt. 248a StPO auf die double instance
verzichtet wird, fällt nicht die BGG-Beschwerde ans BGer dahin, sondern die StPO-Beschwerde an eine kantonale Beschwerdeinstanz. Diese Rechtslage bestand schon nach bisherigem Recht und wird auch
nach neuem Recht so bleiben. Alles andere widerspräche dem klaren Wortlaut des Gesetzes, der BGer-Praxis und den Materialien.
© Prof. Dr. Marc Forster, RA / 21. April 2023